Martas Nase

In aller Regelmäßigkeit nehme ich am Literaturwettbewerb des mdr Figaro teil. Dieses Jahr schaffte ich es leider nicht in die Bestenauswahl, was ich zum Anlass nehme, die eingesandte Geschichte einfach hier zu veröffentlichen.
Sie heißt

Martas Nase

Für jede Nase kommt die Zeit, in der sie laufen muss, und für Martas Nase war genau heute der richtige Tag, um einfach loszulaufen. Einfach so. Irgendwohin.

„Ich möchte etwas sehen!“, sagte sie, löste sich von Martas Gesicht und hüpfte ins weiche Gras des Stadtparks. Hier duftete es immer aufregend gut, und sowohl Marta als auch ihre Nase mochten es, zwischen den Bäumen und Büschen, zwischen den Hunden und Kinderwagen, spazierenzugehen. Manchmal kaufte Martas Mami ihr ein Eis, und auch das roch lecker. „Erdbeereis.“, erinnerte sich Martas Nase und landete sanft im Gras. Heute wollte sie laufen.

Martas Nase lief. Sie ging ein paar Schritte vor, ein paar zurück, ein paar nach links, ein paar nach rechts. Doch irgendwie war sie nicht begeistert.
„Ich möchte etwas sehen!“, dachte sie laut, doch egal, wohin sie trat, fand sie nur Gras. Grünes Gras, das grün war und nach Gras roch. Das war zu wenig.
Martas Nase lief herum, raschelte sich zwischen grünen Grashalmen hindurch, roch den Erdboden unter ihr, in dem es Regenwürmer gab, entdeckte die verblasste Spur einer Schnecke, die sich einst ebenso wie Martas Nase ihren Weg durchs grüne Gras gebahnt hatte.

Doch auch das war zu wenig.
„Ich möchte etwas sehen!“, sagte sie und stieß auf Leder. Das Leder war schwarz und roch stark nach dem besten Schuhputzmittel, das sich Lederschuhe wünschen konnten. Und es roch nach Zuhause. Irgendwie.

Martas Nase hielt inne.
„Das sind doch Martas Schuhe!“, freute sie sich. Die Schuhe machten einen großen Schritt, und Martas Nase lief hinterher. Nasen können gut laufen, und Martas Nase war da keine Ausnahme. Sie lief hinterher und rief erneut: „Das sind doch Martas Schuhe! Und Martas Socken!“
Marta liebte es, Socken zu tragen, die nicht zueinander passten. Notfalls trug sie die linke Socke drei Tage hintereinander und wechselte nur die rechte.
In Martas Socken steckten Martas Füße. Das überraschte niemanden, schon gar nicht Martas Nase, die genau wusste, wie Martas Füße riechen konnten. Vor allem nach dem Sport.

Martas Füße machten einen weiteren Schritt, zusammen mit Martas käsigen Socken und Martas ledernen Schuhen.
„Halt!“, rief Martas Nase und lief hinterher. Grashalme stellten sich ihr in den Weg, versperrten ihr die Sicht, aber schon bald hatte Martas Nase die Füße eingeholt.
„Ich möchte etwas sehen!“, rief Martas Nase.
Martas Füße antworteten mit einem doppelten „Mmpf !“. Martas Füße trugen Socken und Schuhe, und wenn sie irgendetwas sagten, so konnte man sie kaum verstehen.
Alles, was sie sagten, klang ein bisschen nach „Mmpf !“.
„Wie bitte?“, fragte Martas Nase höflich, aber Martas Füße hmpften erneut:
„Hmpf !“. Es klang ein bisschen wie „Nach oben.“
„Nach oben?“, fragte Martas Nase vorsichtshalber, aber bekam nur ein weiteres „Hmpf !“ als Antwort.
„Das heißt vermutlich ,Ja.’“, sagte sie, hüpfte elegant auf Martas Schuhe und kletterte vorbei an Martas Socken Martas linkes Bein hinauf.

Ein wenig außer Atem pausierte sie in Martas linker Kniekehle. Martas Beine bewegten sich, machten wieder ein paar Schritte, und Martas Nase musste sich gut festhalten, um nicht sofort wieder nach unten zu fallen.
„Ganz schön wacklig hier.“, sagte Martas Nase unsicher. Dennoch sah sie sich um.
Vor ihr befand sich Martas linkes Knie. Über ihr setzte sich Martas Bein fort. Und unter ihr? Grün. Grünes Gras.

Tatsächlich konnte Martas Nase nun sehen, dass die Wiese aus mehr bestand als nur aus Gras. Hier und dort entdeckte sie ein paar Kleeblätter, und für ein paar Augenblicke war sie versucht, ein vierblättriges finden zu wollen. Zwischen all dem Grün schimmerten ein paar vereinzelte Blüten durch. Martas Nase konzentrierte sich und glaubte, sie riechen zu können, eine milde Süße, die sich hauchzart mit dem lauem Frühlingswind mischte.

„Hach.“, seufzte Martas Nase zufrieden. Dann bewegten sich Martas Beine erneut.
„Ganz schön wacklig hier.“, dachte Martas Nase. Ein weiteres Mal blickte sie sich um.
Kniekehle, Bein, Grün. Mehr nicht.
„Ich möchte etwas sehen!“, grinste Martas Nase und kletterte weiter nach oben.
An Martas Po hielt sie gar nicht erst inne. Hier stank es zuweilen ganz fürchterlich, wusste sie. Also lief sie weiter.

Martas Rücken war angenehm.
„Hier ließe es sich aushalten.“, sagte Martas Nase zu sich selbst. Dann rutschte sie ein Stück nach unten.
„Huch!“
Martas Nase kletterte wieder ein wenig nach oben. Sie versuchte, sich diesmal besser festzuhalten, doch schon kurz darauf war sie wieder ein Stück nach unten abgerutscht.
„Ich versuche es noch einmal!“, sagte Martas Nase tapfer, kämpfte sich nach oben und klammerte sich mit aller Kraft fest. Diesmal blieb sie. Sie roch Martas frisch gewaschene Kleidung, roch die grüne Wiese unter Martas Füßen, roch die warme Frühlingsluft.
Dann rutschte sie erneut.
„Mist.“, fluchte Martas Nase leise. Nasen fluchen nicht sehr oft, und Martas Nase
fluchte noch seltener als andere Nasen. Wenn sie also fluchte, hatte sie allen Grund dazu.

Mühsam kletterte sie wieder nach oben. Diesmal versuchte sie gar nicht erst, sich an Martas Rücken festzuhalten, sondern arbeitete sich weiter bis zur Schulter. Hier hielt sie schnaufend inne, saß auf Martas linker Schulter und atmete laut.
„Ich möchte … doch nur … etwas sehen!“, sagte sie kraftlos und sah sich um.

Der Ausblick war fantastisch.
Hatte Martas Nase vorher nur die Wiese erblickt, sah sie nun alles. Durch die Wiese schlängelte sich ein Pfad aus hellgrauem Kies, der sanft knirschte, wenn sich Füße darauf bewegten. Am Ende des Pfades gab es einen Spielplatz. Warm und weich schien der Sand dort zu sein, bunt und abenteuerlich die Klettergerüste. Dort wollte Marta hin, wusste Martas Nase plötzlich und spürte die Bewegung von Martas Körper unter ihr: Martas Schritte führten zum Spielplatz, wo Kinder tobten und Eltern sorgsam wachten, wo eine Schaukel quietschte und mittendrin ein kleiner, weißer Hund tollte.

Martas Nase saß auf Martas linker Schulter und freute sich. Hier konnte sie etwas sehen.
Und die Gerüche erst! Die Welt war voll von ihnen!
Jemand grillte im Park. Die Bäume trugen noch einen Rest Feuchtigkeit vom nächtlichen Regen und dufteten wundervoll. Ein Eismann ließ eine Glocke ertönen, Kinderscharen rannten vergnügt zu ihm hin, und fast schon konnte Martas Nase den Geruch von Erdbeereis in sich spüren.
„Hier bleibe ich!“, dachte Martas Nase vergnügt und ließ sich ein wenig durch die Gegend tragen.
Dann hörte sie den Pups. Augenblicke später roch sie ihn bereits.

„Iieh!“, rief Martas Nase. „Wer war das?“
Sie drehte sich nach rechts. Von dort war der Pups gekommen, so viel stand fest. Aber Martas Nase sah nur Martas Hals.
Irgendjemand lief dort, rechts neben Marta, doch Martas Nase konnte sich drehen und wenden, wie sie wollte: Immer sah sie nur Martas Hals.
„Ich möchte etwas sehen!“, beschloss Martas Nase und kletterte weiter nach oben, über Martas Kinn bis hin zu Martas Mund.

„Hallo.“, sagte der Mund, kaum hatte Martas Nase die Lippen berührt.
„Hallo.“, sagte Martas Nase freundlich.
Nasen waren freundliche Wesen, und Martas Nase war stets besonders freundlich gewesen.
„Ich möchte etwas sehen.“, erklärte Martas Nase dem Mund.
„Dann musst du ganz nach oben.“, sagte Martas Mund.
Martas Mund sagte immer schlaue Sachen, und auch diesmal klang er ziemlich klug.
„Also werde ich weiter nach oben laufen.“, sagte Martas Nase und verabschiedete sich. „Bis bald.“
„Bis bald.“ sagte der Mund und lächelte breit und liebevoll.

Marta lief weiter nach oben, wie es der Mund gesagt hatte. Sie lief über Martas Wangen, die sich manchmal wunderschön rot verfärbten, an Martas Augen vorbei, die ihr schelmisch zublinzelten, bis ganz nach oben auf Martas Kopf.
Hier konnte sie die ganze Welt sehen!
Der Himmel war groß und blau und wunderschön. Wolken zogen dahin und versuchten, verrückteste Formen zu bilden. Ein Haus mit zwölf Schornsteinen, ein Adler mit einem Nashornkopf, ein Fuß, der Löcher hatte wie ein Käse.
Martas Nase kicherte.
Unter ihr befand sich die Welt, unter ihr befand sich Marta, unter ihr befand sich die Wiese. Unter ihr war alles.

„Ha-Tschi!“, rief Martas Nase plötzlich.
Martas Haare hatten sie gekitzelt und lösten sogleich einen zweiten Nieser aus.
„Ha-Tschi!“
Martas Haare waren wunderschön. Schwarz waren sie, dufteten nach Mandelshampoo und wippten stets fröhlich auf und ab, sobald Marta sich bewegte.
Und sie mochten es, Nasen zu kitzeln. So viel stand fest.
Ein dritter Nieser kündigte sich an.

„Hier kann ich nicht bleiben.“, dachte Martas Nase und sah sich um.
Wo sollte sie hin? Sie war ganz oben, auf Martas Kopf, hatte den besten Blick der Welt. Wären Martas Kitzelhaare nicht, könnte es keinen besseren Ort für eine Nase geben.
„Komm zu uns!“
Martas Augen riefen fröhlich von unten zu ihr herauf.
„Komm zu uns, hübsche Nase!“

Martas Augen waren nett. Sie funkelten stets, vor Neugier, vor Begeisterung, vor Freude. Es schien, als würden Martas Augen immer lächeln.
Eigentlich wollte sie ihren neu gefundenen Patz nicht schon wieder aufgeben, aber noch immer fühlte sie sich, als müsste sie erneut niesen. Überall waren Haare, die sie kitzeln und krabbeln wollten.
Martas Nase seufzte leise und lief ein Stückchen nach unten. Hinab, über Martas Stirn bis hin zu Martas Augen.
Martas Augen blinzelten sie einladend an.
„Hallo, liebe Nase.“
Warmes, weiches Braun sah sie an, und sofort fühlte sich Martas Nase willkommen.
„Setz dich doch zwischen uns.“ sagte Martas rechtes Auge, und das linke ergänzte:
„Hier ist es hübsch.“

Martas Nase zögerte. Sie war weit gelaufen, vom grünen Gras zu Martas Füßen, über Martas linke Kniekehle zu Martas Po, über Martas Rücken zu Martas Schulter, über Martas Mund bis hin zu Martas Haar. Und nun war sie hier.
„Setz dich.“, sagten beide Augen und blinzelten wieder. „Setz dich doch.“
„Ich möchte etwas sehen.“, sagte Martas Nase.
Die Augen kicherten freundlich.
„Nasen sind immer so neugierig.“, sagte das linke Auge und das rechte bestätigte:
„Immer so neugierig.“
„Ich möchte etwas sehen.“, sagte Martas Nase erneut. Mehr fiel ihr nicht mehr ein.
„Hier kannst du alles sehen.“, sagten Martas Augen.

Martas Nase sah sich um.
Dort war der Spielplatz, sie konnte das Holz der Klettergerüste schon riechen. Ein kleiner Junge hatte seine Füße eingegraben und lachte laut. Die Schaukel war frei, und Martas Beine bewegten sich nun schneller. Die Schaukel näherte sich, doch eine allzu bekannte Stimme rief: „Marta! Vergiss dein Eis nicht!“

Martas Hände griffen nach dem Eis, das so wundervoll nach Erdbeeren roch, und plötzlich spielte die Schaukel keine Rolle mehr. Marta führte das Eis zur ihrem Mund, hielt es direkt unter ihre Nase.

„Hier kannst du alles riechen“, sagten Martas Augen, und Martas Nase seufzte vor Glück.

Ende.