Im Park

Der Park war voller Menschen. Sonnenschein hatte ihnen Kleidung geraubt und die zahlreichen Frühlingsblüten malten ihnen freundliche Gesichter. Ich brauste hindurch, durch Blättergrün und Blumenbunt, durch Vogelzwitschern und Menschgewusel, ließ mich von meinem Fahrrad nach Hause tragen.

Dann sah ich die Frau. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Körper schief, als zerrte der Beutel in ihrer rechten Hand sie unweigerlich in Richtung Erdboden. Sie ging langsam, humpelte, als wäre ihr Bein eine ungeheure Belastung. Rasch kam ich näher und erkannte nun den Schmerz, der ihre Miene ins Groteske verzerrte. Keinen Laut gab sie von sich, doch hatten Tränen bereits glitzernde Spuren auf ihren Wangen hinterlassen.

Sie hielt inne, sah sich um, lief dann nach rechts, wo eine freie Parkbank auf sie wartete, als wäre sie ein Gral.

Menschen liefen durch den Park, trugen lächelnde Münder herum, und niemand schien die hinkende, leidvolle Frau zu bemerken, die sich nun auf die Bank fallen ließ.

Ich bremste, stiegt ab, ließ mein Rad zurück und ging zu ihr hin.
„Entschuldigung.“, sagte ich und staunte über die Vorsicht, die in meiner Stimme lag. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Die Frau schüttelte den Kopf, kaum bemerkbar. Ihr Schmerz war fühlbar, hing dornengleich in der Luft. Zu lange stand ich noch da, reglos, hilflos, nicht wissend, wie ich der Frau helfen, ihr das Leid nehmen könnte.

Dann ging ich zum Fahrrad zurück und stieg auf. Blüten und Lachen füllten den Park, doch ich vernahm nur noch ein Schluchzen.

Der alte Mann

Am Ende der Rampe stand der alte Mann, und wie immer widerte er mich an.

Eigentlich stand er nicht. Er lehnte seinen übergewichtigen Leib gegen das Mauerwerk, das die Abfahrt zum Tunnel begrenzte. Er lehnte sich dagegen, als wäre er zum Stehen kaum imstande. Und vielleicht war es auch so.

Eigentlich war  er auch nicht alt, doch sein ungepflegtes Äußeres, sein fettiges, ungekämmtes, frisurenfernes Haar und seine aufgedunsenen, mit Schuppen übersäten Wangen ließen eine Schätzung unmöglich werden. Er konnte vierzig sein oder auch sechzig.

Er war krank, so viel stand fest. Seine Haut verriet es, seine Augen verrieten es. Und in regelmäßigen Abständen hustete er so tief, dass ich erwartete, schleimigen Auswurf und Lungenteile aus seinem Mund fliegen zu sehen.

Am Ende der Rampe stand der alte Mann, und wie immer widerte er mich an.

Seine Atemgeräusche weckten Ekel in mir, und ich bemühte mich, vorbeizueilen, bevor er erneut husten würde. Außerdem rauchte er. Zigarren. Also ob er seine abstoßende Erscheinung um eine weitere Sinnesebene erweitern wollte, tötete er mit monströsen Glimmstangen auch noch jede atembare Luft in seiner Umgebung.
Was tut er hier?, fragte ich mich wie jeden Morgen, als ich seinem Umfeld zu entkommen versuchte. Worauf wartet er?

Wie immer ignorierte er die Temperaturen und trug einen Anzug. Vielleicht war es stets derselbe, doch sah er nicht schäbig aus. Auch sein weißes Hemd zeigte keine Spur fehlender Pflege – auch wenn es sich mit wenig Eleganz um den unförmigen Leib legte.

Er war krank, so viel war offensichtlich. Sein gesamte Äußeres rief Krankheit, und seine unpassende Kleidung, seine schlechte Angewohnheit, Zigarren zu rauchen, erwiesen ihm sicherlich keinen Dienst. Er sollte nicht hier sein, dachte ich, nicht jeden Morgen am Tunneleingang stehen und auf irgendetwas warten.

Vor zwei Tagen entdeckte ich ihn am Einkaufszentrum. Andere Zeit, anderer Ort, doch sein röchelndes Husten hätte ich überall wiedererkannt. Er saß auf einer Bank, trug seinen Anzug und sein Hemd und hustete. Alles in mir drängte mich fort von ihm, doch eine Mischung von Neugierde und Mitleid ließ mich ein paar Schritte in seine Richtung laufen. Wer war dieser Mann?

Ich wusste nicht, ob ich mit ihm reden würde, ob ich es ertragen könnte, in seiner Nähe zu verweilen, doch war bereit, es zu versuchen. Ich ging auf ihn zu, zögerte, ging weiter. Dann zündete er sich eine Zigarre an. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis der braune Kolben betriebsbereit war, doch dann dauerte es nur Sekunden, bis mich der Gestank einhüllte. Und, als wäre es ein untrennbarer Zwilling, begann der alte Mann zu husten.

Angewidert verzog ich den Mund und wandte mich ab.

Im Tunnel

Der Tunnel ist ein guter Ort, um Abneigungen zu entwickeln. Insbesondere gegen Menschen.

Da ist der unvermeidliche Akkordeonspieler, der genau um die industriegebietigen Stoßzeiten weiß und sich nicht nur zur Arbeitsbeginn- und -endzeit in der Mitte des Tunnel positioniert, sondern zuweilen auch die mengenstarke Tunnelbevölkerung während der Mittagspausen ausnutzt, um ein paar Münzen zu erspielen. Ich mag weder sein Instrument noch bin ich willens, mich morgens um 7 auf russische Volkslieder oder beschwingten Tango einzulassen. Ich ertrage ihn, und einzig der Umstand, dass in seiner unmittelbaren Nähe zumeist viel Freiraum gelassen wird, spricht für ihn. Denn dort öffnet sich plötzlich inmitten von Menschenfluten eine Lücke, die mir raschere Hindurchschlängelei ermöglicht.

Dann sind da noch die Raucher, die elenden Wesen, die mir zugleich Mitleid und Verachtung entlocken. Der Bahnhof ist als rauchfrei gekennzeichnet, doch sobald man ein paar Stufen in Tunnelrichtung geht, sind die ersten Zigaretten entzündet, und die Luft verdient nicht länger die Bezeichnung. Wo innerhalb von Sekunden Hunderte Menschen passierten, reicht ein einziger, um allen das Atmen zu erschweren.

Doch es bleibt nie bei einem einzigen, und dass ich am frühen Morgen anscheinend besondere Sehnsucht nach klarem, unbesudeltem Äther verspüre, interessiert niemanden. Die wenigen Meter bis zum Tunnelende sind zuviel für sich sehnende Gelbfinger, nicht zuletzt, weil dort bereits der Bus wartet, der die zur Arbeit Eilenden ein Stück näher an ihr Tageswerk führen soll. Mir bleibt nur, die Luft anzuhalten und mich so schnell wie möglich vor den Glimmstängelhalter zu schieben.

Dann gibt es noch die Fußgänger. Ich selbst verweile auf dem Fahrradsattel, passe meine Geschwindigkeit den mich Umgebenden an, suche hin und wieder eine Lücke, um voranzupreschen, doch bewahre permanent Ruhe und Rücksicht. Der Aufgang zur U-Bahn ist rechts, also halte ich mich links. Dann kommen zwei Aufgänge zur S-Bahn, und ich ordne mich nach rechts ein, versuche, den wilden Menschenstrom nicht zu kreuzen.

Ich drängle nicht, klingle nicht, gliedere mich ein, fahre so vorausschauend wie möglich, um niemandem ein Hindernis zu sein, um keinen Unmut zu wecken. Doch Fußgänger sind anders. Im letzten Augenblick durchqueren sie den Tunnel in seiner gesamten Breite, um auf die andere Seite zu gelangen, kreuzen meinen sorgsam gewählten Pfad. Sie ordnen sich nicht ein, denken nicht voraus. Menschen, die sich für schneller halten, drängen sich vor mein Rad und beginnen dann schneckenartig durch die Unterführung zu gleiten. Scheinbar grundlos wird plötzlich innegehalten, egal ob irgendwer dahinter läuft oder fährt.

Und dann die Kinder. Wo Menschenmassen sich tummeln, sind Kinder nicht fern. Und Kinder gehen nicht. Sie stehen oder rennen, sehen sich und ihre Freunde, doch niemals Passanten, niemals Fahrräder. Der Bogen, den ich um sie mache, reicht nie aus, und ich danke oft genug meinen Bremsen für ihre Funktionstüchtigkeit.

Außerdem danke ich den Hunden, die anscheinend an S- und U-Bahnhofen nur in geringer Anzahl vertreten sind und mit angenehmer Abwesenheit das Chaos reduzieren. Und trotzdem: Sobald die eine oder andere Bahn eintrifft, ist der Tunnel vollgestopft mit Leben, das in Maximalgeschwindigkeit zum präferierten Ende zu eilen sucht.

Und mittendrin: Ich. Auf einem Fahrrad. Schrittgeschwindigkeit fahrend. Jede Bewegung, jeden Richtungswechsel, jede Beschleunigung mehrfach überdenkend. Das Umfeld analysierend. Optimale Pfade ermittelnd. Und zuweilen schmunzelnd ob der Unermüdlichkeit meiner Geduld.

Und dann gibt es noch ihn. Er schiebt sein Fahrrad, als ich ihm begegne. Wahrscheinlich hat er gerade die S-Bahn verlassen, hat sich eingereiht in die Masse, um sich bei erster Gelegenheit auf sein Rennrad zu schwingen und ihr zu entfliehen. Eine neongelbe Warnweste bedeckt seinen Oberkörper, und irgendwie schafft er es, dass sie an ihm gut aussieht. Er ist hoch gewachsen, thront einen Kopf über den Massen. Und als wäre das nicht genug, wuchert ihm ein dunkler, langer Bart vom Kinn hinab.

Er wirkt ein wenig bedrohlich, so groß, mit dunklen Augenbrauen und dreadlockigem Haar. Ich mag ihn sofort. Inmitten des Tunnels, der vollgestopft ist mit Dingen und Wesen, die meine Abneigung erregen, entdecke ich ihn und fühle Sympathie.

Vielleicht schaue ich zu lange, vielleicht glaubt er auch, mich zu erkennen. Vielleicht bin ich ihm aber auch einfach nur sympathisch. Er grüßt mich. Lächelt und grüßt mich. Verdutzt grüße ich zurück.

Tage später begegne ich ihm erneut. Er grüßt erneut, ich grüße zurück, fahre durch den Tunnel.

Und eine weitere Begegnung. Diesmal grüße ich. Spätestens jetzt ist es egal, ob wir uns vorher kannten und ob wir uns jemals kennen werden. Fast automatisch reihe ich mich in den Menschenstrom ein, schaue, beobachte, reagiere. Und selbst als ich im letzten Augenblick zwei achtlos rennenden Kindern ausweiche, lächle ich noch immer.

Gotteshaus

Ein Mann, nicht sonderlich groß, unrasiert und eigentlich unauffällig, mit einem Baumwollbeutel in der rechten Hand, betritt eine Sparkassenfiliale. Im Eingangsbereich bläst ihm die warme Luft der Klimaanlage entgegen, und ich weiß nicht, ob es der Lufthauch oder irgendetwas anderes ist, das ihn dazu bewegt, doch plötzlich schaut er sich um und sagt laut: „Hier wohnt also Gott!“

Verdutzt blicke ich ihm hinterher, sehe, wie er ein paar Schritte geht, kurz die Arme ausbreitet, andächtig nach oben starrt – und sich dann in die Schlange der vor dem Geldautomat Wartenden einreiht, als wäre nichts gewesen.

Ich verbleibe im Eingangsbereich, frage mich für einen Augenblick, ob Gott und Geld dasselbe seien, bevor ich meine Straßenbahn nahen sehe und mich beeile, sie noch zu erwischen.

[Im Hintergrund: Danzig – „777 I Luciferi“]

Coolness

Und dann jene jungen Männer und Frauen, zumeist fast noch jugendlich, deren Münder, im Glauben, zugleich Weises aber auch Zeitgemäßes [„Cooles“?] von sich zu geben, abgedroschenste Redwendungen ausspeien, und somit mir, angewidert lauschend, den Eindruck schenken, die Betreffenden seien nicht ungefähr zwanzig, sondern siebzig oder achzigjährig.

„Da bin ich mal gespannt wie ein Flitzebogen…“, „Wollen wir doch mal schaun, wie der Hase läuft…“ und ähnliche Textbausteine wären sicherlich trotz ihrer ekelhaften Abgelutschtheit erträglich, würde nicht in den Worten der Aussprechenden dieser Unterton mitschwingen, der alle Anwesenden, mich leider eingeschlossen, mit fast krampfartiger Bemühung davon zu überzeugen versucht, dass das Gesagte innovativ, witzig, intelligent und Aufmerksamkeit sichernd, dass der Sprecher also die einzig wahre inkarnation von Coolness [Darf man das noch sagen?] sei.

Ist er jedoch nicht.

Fremdschämen.

Menschen 24: Am Spielautomaten

Beim Dönermenschen [Das Wort Türke klingt, obgleich es nur eine Länderzugehörigkeit liefert, irgendwie abwertend.] finde ich mich, die Angebotstafel studierend. ‚Dürüm hatte ich noch nie, ist allerdings teurer als ein normaler Döner.‘
Noch bevor ich entscheidungsfindend meine Bestellung aufgeben kann, werde ich vom Ladenbesitzer freundlich in die richtige Richtung geschubst: „Döner zum Mitnehmen?“ Ich strahle ihn an: „Ja.“

Während der Türke [Jetzt habe ich es doch getan.] seinem Nahrungsmittelzubereitungswerk nachgeht, sehe ich mich um, interessiere mich nicht für die beiden Mädels, die, in unspannende Profanunterhaltung vertieft, sich ihre Mahlzeit in die Schädel stopfen. Am Glücksspielautomat [In Magdeburg scheint es üblich zu sein, daß nahezu jeder Dönerladen einen solchen besitzt.] steht ein vielleicht Fünfzigjähriger, der mit monotoner Gestik immer wieder auf die einzelen Knöpfe haut, den Automat teilnahmslos bedient, ohne daß das Spielprinzip für mich durchschaubar würde. Er kennt sich aus, doch verspielt desinteressiert sein Guthaben.

Erst als ich bemerke, daß der Mann überhaupt nicht auf die rotierenden Fruchtsymbole achtet, werde ich stutzig, erkenne sein Gesicht wieder: Es ist der Blinde, dem in hin und wieder begegne, während er auf seine Straßenbahn wartet und Umstehende bittet, ihm die Nummer der gerade ankommenden mitzuteilen. Ein Blinder, der Glücksspielautomaten nutzt. Ich bin beeindruckt.

Um meine Vermutung zu bestätigen, suche ich seinen Stock, doch entdecke ihn nicht. Dafür jedoch fällt mir nun auf, daß er gespannt den Piep- und Dudelgeräuschen lauscht, die dem AUtomaten entweichen, um zum offensichtlich richtigen Zeitpunkt auf die Taste zu hauen. Seine Tastenbedienung wirkt rabiat, doch soll vermutlich nur die Wirksamkeit seines Tastendrucks sicherstellen.

Der Dönermann wickelt mein Abendbrot ein, und der Blinde greift seinen Stock, der doch in der Ecke gestanden hatte, geht mit kleinen Schritten in Richtung Ausgang, sich vom Ladenbesitzer verabschiedend: „Meine Bahn kommt gleich.“ Während ich mich bemühe, nicht da zu sein, mich an den Thresen zu pressen und somit nicht im Weg zu stehen, bemerke ich, wie einsam und traurig er aussieht.
„Bis morgen.“, meint der Dönermann, als wolle er meine Feststellung bestätigen.

Am Tisch tuscheln die Mädchen: „Der war ja blind!“. ‚Blind‘, denke ich, ‚aber nicht taub.‘, denn noch immer steht er in der Tür.

Ich erhalte meinen Döner, bezahle, verabschiede mich und sehe den Blinden, wie er sich am Rand des Fußwegs plaziert und auf seine Bahn wartet.
Es sieht nicht so aus, als würde sie bald kommen.

[Im Hintergrund: The Dresden Dolls – „Yes, Vorginia“]

Menschen 23: Kaninchenwächterin

Neben dem Riesenterrarium im Magdeburger Allee-Center entdeckte ich eine Frau, nicht unattraktiv, in offzieller Kleidung, deren Funktion darin zu bestehen schien, die kleinen, osterlichen Kuschelkaninchen und ihre schützende Glasscheibe vor den wieauchimmer gearteteten Aktionen übereifriger Kaninchenknuddler zu bewahren. Unbewegt stand sie da und blickte auf die possierlichen Wesen zu ihren Füßen, die das unverschämte Glück hatten, nicht menschlich sein zu müssen und nach Belieben fressen, hüpfen, kacken und kopulieren zu können, während sie selbst mit bemühter Freundlichkeit ihre eigene Präsenz nutzte, um potentiellen Schädlingen ihr ungutes Treiben aus den verzückten Schädeln zu verscheuchen und aufdringlich Fragenden pauschale Nonsens-Antworten zu geben.

Sie stand da und wirkte traurig.
Umgeben von possierlichen Hüpftierchen, die jedem Vorbeigehenden ein erfreutes Lächeln abzwangen, wirkte ihre Traurigkeit unangemessen, ja sonderbar. Vielleicht war es ihre Aufgabe, die sie bedrückte, die sie offensichtlich unterforderte, ja langweilte: Ein starres Stillstehen neben verlockend weichen, doch glasscheibenfernen Fellwesen, eine durch achtsame Wichtigkeit getarnte Untätigkeit.

Mit trauriger Miene stand sie auf ihrem Posten und ihr abgestumpfter Blick konnte auch durch die geballte Kanninchenniedlichkeit nicht mehr zu einem freudigen Glitzern erregt werden.

In der Bibliothek II

Wieder in der Bibliothek.
Ich stelle fest, daß Asiaten, insbesondere feminine, nicht imstande zu sein scheinen, ihre Füße/Schuhe zu heben. Das ist eine vorurteilsbehaftete Verallgemeinerung, sicherlich, doch bisher fand ich noch keinen Gegenbeweis. Im Augenblick stört es mich nicht, und so bin ich gönnerhaft genug, um der leidlichen Schlurflärm-Belästigung mit Ignoranz zu begegnen.

Neben mir klingelt das Telefon. Eine Universitätsbibliotheksmitarbeiterin ruft eine andere Universitätsbibliotheksmitarbeiterin [Ja, ich mag das Wort.] an, um von irgendeiner Lieferung zu erzählen. Das erfahre nicht, weil ich das Telefonat belausche, sondern weil die beiden sich treffen, direkt neben mir, während das Telefon fröhlich vor sich hinklingelt.Das tut es übrigens schon seit geschätzten drei und gefühlten zwanzig Minuten, und längst war ich drauf und dran, aufzuspringen, den Hörer abzunehmen und hineinzubrüllen:
„Wenn ein Telefon tausend Mal klingelt, ohne daß jemand dran geht, könnte das eventuell daran liegen, daß die Angeklingelte nicht in der Nähe ist!“
Aber ich hätte diesen Satz sowieso nicht herausgebracht, ohne mich zu verhaspeln, also bleibe ich sitzen. Außerdem stört mich das Geklingel nur wenig; schließlich sitze ich nur am Rechner und stöbere auf irgendwelchen Heimseiten herum anstatt zu lernen.
„Das bin ich.“, erklärt die eine Universitätsbibliotheksmitarbeiterin der anderen, als die beiden sich treffen. Universitätsbibliotheksmitarbeiterin A hält ein tragbares Telefon in der Hand und legt in dem Moment auf, als Universitätsbibliotheksmitarbeiterin B endlich an Telefon gehen will.
Ich gebe auf, über den Zweck eines stundenlangen Klingelnlassens bei gleichzeitigem persönlichen Besuch der Angeklingelten nachzudenken.

Auf dem Computerplatz vor mir sitzt eine Blondine. Ich liebe Klischees, insbesondere wenn sie zutreffen, beziehungsweise es Menschen gibt, die sich zu bemühen scheinen, sie detailgetreu zu erfüllen.
Die Stimme der Blondine ist piepsig. Wäre ich ausersehen, mittels eines Castings eine Klischee-Blondine zu besetzen, müßte sie diese Stimme haben. Zum Glück schweigt sie zumeist.
Sie sitzt an einem Rechner, ohne ihn zu benutzen. Stur zeigt er die Aufforderung zur Eingabe von Benutzername und Kennwort, doch sie kümmert sich nicht drum, stöbert in ihren handgeschriebenen Unterlagen. Mädchenschrift.
Als sich jedoch der Bildschirmschoner einschaltet und die Eingabeaufforderung gegen komplettes Schwarz austauscht, vernehme ich ein piepsigen „Nein!“. ihre hand greift zur Maus und stellt die alte, unbenutzte Eingabeaufforderung wieder her.
Die neben ihr sitzende Freundin benutzt den Computer. Nicht wirklich, aber fast. Auf dem Bhildschirm sehe ich eine Universitätsseite, starr und konstant. Ich überlege, ob ich mich über die Verschwendung von Computerarbeitsplätzen echauffieren sollte, doch entscheide mich dagegen. Schließlich gibt es in unserer Universitätsbibliothek mehr freie Computer als freie „normale“ Arbeitsplätze.
Die Blondine jubelt, ein kindliches Arme-in-die-Luft-Werfen kombiniert mit einem semilasziven Freudentanz. Scheinbar hat sie etwas aus ihren Mitschriften verstanden.
Ein zweiter Jubel setzt ein, als sie es beim ersten Versuch schafft, sowohl Benutzernamen als auch Paßwort so einzugeben, daß der Rechner sie auf das System zugreifen läßt. Eine Meisterleistung, das muß auch ich anerkennen.
Sie schreibt eine Mail. Ihre Fingernägellänge läßt eine normales Tastaturbenutzung nicht zu. Wenn sie tippt, dann nur mit dem Zeigefinger der rechten Hand. Alle anderen Finger sind möglichst weit weggespreizt. Ich ertappte mich dabei, wie ihre Handhaltung nachzuahmen versuche, doch kläglich scheitere, Krämpfe befürchtend.
Ein dritter Freudenschrei, diesmal unter Einbeziehung der Freundin: Auf der Partyfotoseite von DJ Wakko fand sie sich selbst.

Neben mir öffnet der Fahrstuhl seine Türen. Heute scheint er zu schweigen. Die herauskommenden Asiaten wissen trotzdem, daß die Tür offen ist und verlassen ihn, natürlich ohne die Füße zu heben.

Menschen 22: Rot, Blau, Grün

Während ich gestern an einer Ampel wartete, kam ein Mann auf mich zugetorkelt. Hätte ich nur sein Gesicht betrachtet, wäre ich dazu veranlaßt gewesen, ihn in die Schubladen „soziale Unterschicht“ und „Alkoholiker“ einzusortieren. Doch sein intensives Torkeln brachte mich dazu, genauer hinzuschauen, nicht zuletzt, um notfalls einen Sturz verhindern zu können.

Seine Kleidung als „ordentlich“ und „sauber“ zu bezeichnen, wäre einer maßlosen Unterrteibung gleichkommen, waren doch die sichtbaren Kleidungsstücke eindeutig von höherer Qualität, entsprangen höheren Preisklassen.
„Schickimicki“ war das Wort, das mir dazu einfiel, wirkten die Klamotten doch fast affektiert. Insbesondere seine Schuhe stießen bei mir auf Verunderung: Cremefarbene Lederslipper mit Absätzen, die danch Art eines Damenschuhs bei jedem Schritt klackten.

War ich nun dazu geneigt, einen gesellschaftlich Höherstehenden zu betrachten, der auf irgendeiner Feierlichkeit mehr als nötig getrunken hatte, irrte ich mich erneut. Denn das Geischt war eindeutig das eines Trinkers, versehen mit der klischeehaften Trinkerknollnase, die rot zu leuchten schien.

Kopf und Gebahren des Mannes bildeten eine Einheit, die sich nicht mit der äußeren Hülle vertrug. Während ich meine Blicke zwischen klackenden Absatzschuhen und einer Nase, die allein wohl mehrere Schnäpse absorbieren konnte, hin- und herwandern ließ, schaltete die Ampel auf Grün; ich wurde meinen Beobachtungen entrissen und von der sich in Bewegung setzenden Masse auf die andere Straßenseite gespült.

[Im Hintergrund: Aaskereia – „Mit Raben und Wölfen“]

In der Bibliothek

Ich sitze in der Universitätsbibliothek und pausiere vom ermüdenden Versuch, Dinge zu lernen, die in meinen zusammenkopierten Aufzeichnungen nur unzureichend beschrieben und ohnehin für mich unverständlich sind.

Unweit meines Tisches steht ein weiterer. Gestern saß dort ein Junge, der vorübergehend abwesend war. Diese vorübergehende Abwesenheit ist das Markenzeichen der Bibliothekstische; denn alle sind sie mit Heftern und Laptops belegt, doch nur selten sitzt auch jemand daran, um fleißig zu sein oder sich vorzugaukeln, fleißig zu sein. Der abwesende Junge brauchte nur die Hälfte des für zwei personen ausgelegten Tisches, und so entschloß sich ein Mädel, ihre Unterlagen auf der anderen Hälfte auszubreiten.
Ohne großen Erfolg, denn der Junge kam alsbald zurück. Er lächelte, als er sie sah, ohne sie zu kennen und ohne ihre Entschuldigung für die Tischbesetzung richtig wahrzunehmen: An seinem Tisch saß ein gutaussehendes Mädel und gab ihm Grund, sein Nichtlernen forzusetzen, indem er ein Gespräch begann.

Ich weiß nicht genau, wie er das bewerkstelligte, doch schwer fiel es ihm nicht, studierte sie doch – ebenso wie er – irgendetwas Technisches. Schon bald hörte ich beide flüsternd miteinander reden. Tiefe Männerstimmen sind nicht sehr ausbreitungsfähig; seine Worte erreichten mich kaum. Doch die ihren begannen allmählich, mich zu belästigen. Ich verstand nicht genau, was gesagt wurde und wollte es auch nicht, doch der Stimme des Mädels wohnte eine klanglose Monotonie inne, die mich staunen ließ. Sie leierte jede Antwort langsam und emotionslos herunter, als berichte sie über Dinge, die abseits ihrer selbst geschahen.

Den Jungen schien das nicht zu stören; eine schöne Frau, noch dazu wenn sie intelligent ist, darf auch eine monotone Stimme haben. Nach zwei Stunden gab ich meine Konzentrationsversuche auf, ließ die beiden zurück und fuhr nach Hause.

Am gleichen Tisch sitzen heute Asiaten.Bibliotheksasiaten.
Die Besonderheit an ihnen ist, daß sie niemals alleine sind, auch nicht zu zweit. Nein, es gibt immer mindestens vier von ihnen auf einem Haufen. Die Besetzung des Haufens jedoch wechselt immerfort, und jeder scheint jeden zu kennen.

Wieder und wieder kommt jemand angerannt, hat eine Frage, borgt etwas aus, holt jemanden ab, kommt zurück, blättert in fremden Unterlagen, wird unterbrochen, redet, muß zur Toilette, usw.
Die Asiaten zu beobachten ist, als säße man vor einem Ameisenhaufen. Nach außen hin wirkt er ruhig, und die Berwegung jedes einzelnen Teils wirken gezielt und bewußt. Aber blickt man länger hin, so bemerkt man das Gewimmel und Gedränge, die stete Ruhelosigkeit, die sich unwillkürlich auf das eigene Gemüt überträgt.

Glücklicherweise reden die Asiaten nicht viel, und mir gelingt es, meine Blicke in meine Unterlagen zu vertiefen.

Im Augenblick pausiere ich, überprüfe meine Mails und finde spannende Dinge, die mich davon abhalten, an meinen Platz zurückzukehren.
Ich sitze neben einem Fahrstuhl, der nie ruht, ständig auf und ab fährt, Menschen verschlingt udn wieder ausspeit, und jede Bewegung mit einer Frauenstimmensprachausgabe kommentiert. „Tür schließt.“ Wenn Fahrstühle den Studenten sagen müssen, daß sich eine Tür bewegt, dann vermisse ich das Vertrauen in deren, unsere, Intelligenz.

Neben mir sitzt ein Paar, jeweils einen Rechner in Beschlag nehmend. Offensichtlich wollen die beiden Zeit totschlagen und bemühen dazu das Internet. Sie findet scheinbar Spannendes, während er den morigen Speiseplan gewissenhaft studiert. Sie jauchzt hin und wieder, redet mit den Bildern und Texten, die sie sieht, liest, nicht mit ihrem Mann, der sie nicht wahrnimmt, nur mit dem Rechner, eigentlich dem Monitor, und der Luft.

Ich fühle mich nicht gestört, doch bin verwundert über ein solches Verhalten. Gerade ertappe ich sie dabei, wie sie den Text vor ihren Augen laut mitliest. Als ich verwundert hinüberblicke, schweigt sie prompt, um kurz darauf wieder undefinierbare Laute zu äußern.

An mir gehen Studenten vorbei, die Stöckelschuhe tragen. Ich wundere mich, warum eine Bibliotheksstille unbedingt mit solchen Schuhe zerstört werden muß, doch stoppe diesen Gedanken, bevor ich ihn zu Ende denke. Die Schnallen meiner Springerstiefel verfügen schließlich auch über ein liebliches, bibliotheksfremdes Klingeln, das Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und Konzentrationen zu stören weiß.

Es ist Zeit. Zu viele Dinge warten darauf geschafft, verstanden zu werden. Mit leisem Klingeln begebe ich mich an meinen Arbeitsplatz, versuche, meinen zunehmend schmerzenden Rücken zu ignorieren und meine Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, deren Erschließung sich mir fortwährend verweigert…