Trommelwirbel

Ich neige dazu, bei offenem Fenster schlafen zu wollen. Das ist soweit nichts Ungewöhnliches, schlafen doch vermutlich Millionen Deutsche bevorzugt auf diese Art und Weise. Allerdings führen nicht sämtliche Schlafzimmerfenster dieser Millionen Frischluftschlafender auf einen Innenhof. Meines schon. Das meines Bruders auch. Zumindest früher.

Bevor er umzog, lebte er in Halle in einem bereits ziemlich heruntergekommenen Viertel. Das von ihm bewohnte Miethaus wirkte noch recht beschaulich, doch die Umgebung war eher traurig anzusehen. Das zeigte sich auch an den dort ansässigen Bewohnern, die zumeist den sozial schwächeren, den „bildungsfernen“ Schichten anzugehören schienen.

Das Schlafzimmer, das mein Bruder mit seiner Freundin teilte, besaß nur ein Fenster. Doch Innenhöfe haben die unangenehme Angewohnheit, Schall mehrfach zu reflektieren, so daß ein einzelnes Wort bis in oberste Stockwerke, in entfernteste Wohnungen zu dringen vermag – auch durch ein einzelnes Fenster. Erst recht der Lärm spielender Kinder, die Gespräche alkoholisierter Trinkgenossenschaften, die Zankereien pubertierender Jugendlicher, das unaufhörliche Schreien unbeachteter Babys und die inhaltsleeren Plaudereien dialogisierender Muttis.

Wenn mein Bruder von der Nachtschicht heimkam, wollte er schlafen. Mehr nicht. Doch konnte er damit rechnen, daß Angehörige erwähnter Gruppierungen sich auf dem Innenhof versammelt hatten, um – sämtliche freundlich mahnenden Schilder ignorierend – ihre Anwesenheit mit entsprechender Lautstärke kundzutun. Schallwellen wurden gegen Hauswände geschmettert, reflektiert, wieder reflektiert und drangen schließlich durch das geöffnete Fenster in das Schlafzimmer meines Bruders. An Schlaf war nicht zu denken.

Die von mir derzeit bewohnte Gegend ist keineswegs Brennpunkt sozial Schwacher, sondern eher gehobenen Standards. Und doch zeigt das Fenster, unter dem sich mein Bett befindet, zum Hof hinaus, und zuweilen kommt es vor, daß ich mich ärgere, wenn die Bauarbeiter schon in aller Frühe damit beginnen, Aluminiumträger zu zersägen oder wenn Freundinnen verschiedener Hauseingänge beim Entsorgen des Hausmülls endlose Gespräche führen, die lautstark und klar zu mir hinaufdringen.

Heute Morgen erwachte ich von einem mir unbekannten Gräusch, das sich unregelmäßig wiederholte. Es klang wie ein Trommeln, allerdings ohne Rhythmus, ohne Metrum, mal schneller, mal langsamer. Schläfrig lauschte ich dem ungewohnten Klang und stellte fest, daß es vermutlich nicht von Menschenhand produziert wurde, waren die Trommelwirbel doch zu unregelmäßig und teilweise auch zu schnell. Auch konnte ich mir nicht vorstellen, daß irgendwer mutwillig sich in den Innenhof setzte, um irrsinnige Trommelkunststücke zu vollführen.

Ich schloß die Augen und wollte die Lösungs des Rätsels auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, doch das Trommeln war zu laut, zu aufdringlich. Ich konnte nicht schlafen. Ruhelos lag ich im Bett und haderte mit dem Gedanken, das Fenster zu schließen. Doch dieser Vorgang beinhaltete eine Bewegung, die mich womöglich endgültig aus meinem Schlummer gerissen hätte.

Ich rührte mich nicht, ließ die Gedanken treiben und lauschte nebenbei dem verrückten Trommler. Was konnte das sein?
Ein Blick nach draußen zeigte mir Grau. Dicke Wolken bevölkerten Himmel und gaben einen Teil der Lösung des Mysteriums preis.

Seufzend erhob ich mich, ging ins Bad. Zurück in meinem Zimmer entsann ich mich der Trommelei. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, sah aus dem Fesnter und lugte nach unten. Kein irrer Trommler weit und breit.

Doch an der gegenüberliegenden Hauswand endete eine Regenrinne – wohlgemerkt im fünften Stock. Ein steter Strom gesammelten Regenwassers plätscherte fröhlich aus dem Ende heraus und fiel dann mehrere Meter in die Tiefe. Mein Blick folgte dem Sturz des Miniaturwasserfalls und entdeckte am Boden ein Schimmern.
Ich kniff die Augen zusammen.

In einer Ecke des Hofes hatten die Bauarbeiter, die zu zweit seit mindestens drei Jahren das Haus sanierten, Schotter und anderen Baumüll gelagert. Dieser bereits unschöne Anblick wurde ergänzt durch eine nicht geringe Anzahl wild aufeinandergeworfener Aluminiumstücke, die wohl überflüssig und unnütz waren.

Doch dem Regen nützten diese Blechteile durchaus etwas, konnte er sie doch als Trommelinstrument mißbrauchen. Stürzte nun aus dem Regenrinnenende im fünften Stockwerk ein einzelner Tropfen mit hoher Geschwindigkeit auf die Aluminiumstücke, die sich als Träger akustischer Schwingungen sehr gut eigneten, entstand ein dumpfer, blecherner Trommelklang. Jedoch handelte es sich nicht um einen einzelnen Tropfen, sondern um einen ganzen Bach, der dem Regenrinnenende entsprang.

Munter plätscherte die Tropfensammlung auf die Metallteile ein, trommelte wild und verrückt ein Lied zu Ehren des Regens, zu Ehren des trüben Wetters, ein Lied, das durch den gesamten Innenhof schallte, durch geöffnete Fenster in Wohnungen eindrang und heimtückisch friedfertige Mieter um ihrem wohlverdienten Schlaf brachte.

‚Na, warte!‘, murmelte ich, riß beide Fenster weit auf und schaltete die Musikanlage an. Böse Gitarrenklänge, virtuose Trommelwirbel und düsteres Gekreisch gellten aus meinen Boxen, beschallten den Innenhof.

‚Wenn ich nicht schlafen kann, soll es keiner!‘, dachte ich und erhöhte die Lautstärke.
Der Regen war nicht mehr zu hören. Ich hatte gesiegt.