Nichtraucher

Ich rauche nicht, rauchte noch nie. Ich zog in meinem gesamten Leben noch nie an einer Zigarette, werde wohl irgendwann sterben, ohne daß dergleichen geschehen sein wird. Ich freue mich schon darauf, die Gesichter meiner Kinder und Enkel zu sehen, wenn ich schon wieder mit der alten Leier anfange: „Ich habe noch nie…“

Dieses Verhalten konnte ich nur manchmal bedauern. Zum Beispiel in irgendeinem Traum, in dem ich dazu durchrang, doch zu rauchen und plötzlich verstand, warum das im Allgemeinen unter Jugendlichen als toll erachtet wird. Oder wenn ich mit unbefüllten Händen irgendwo herumstand und nicht wußte, was zu tun, was zu sagen sei. Eine Zigarette hilft weiter; an ihr kann man sich festklammern, sich hinter den Saug- und Blasvorgängen, hinter Qualm und aufgesetzter Lässigkeit verstecken. Mit einer Zigarette kann es gelingen, wildfremde Leute kennenzulernen, einfach nur, weil man um Feuer, um Rauchzeug oder um Unterhaltung in der Raucherecke bittet.

Doch ich rauche nicht. Mein diesbezügliches Bedürfnis ist minimal, fast Null. Und bisher erachtete ich das Dasein als Nichtraucher stets für die richtige Wahl. Nur ein einziges Ereignis in meinem Leben bescherte mir die ernsthaft gestellte Frage, ob ich nicht doch zu den Rauchern wechseln sollte.

Es war längst dunkel, längst nach Mitternacht. Meine Anwesenheit auf der Party war nicht länger vonnöten, und ich beschloß, nach Hause zu fahren. Schließlich hatte ich noch zwanzig Minuten Radfahrt vor mir, und wollte nicht unterwegs meiner Müdigkeit zum Opfer fallen.
Ich entkettete also mein Rad, schwang mich auf den Sattel und radelte in die Dunkelheit. Mein Dynamo war vor zahllosen Tagen abgefallen, lag irgendwo unbenutzt zu Hause, meine beiden Fahrradlampen als unnütz deklarierend.

Ich bemerkte die Stufe erst, als ich schon über den Lenker flog. Sie tauchte plötzlich aus dem Nachtschwarz auf. Mit rasender Geschwindigkeit steuerte ich darauf zu, unfähig, noch rechtzeitig zu bremsen, knallte mit dem Vorderrad dagegen, ruckelte die Kante hinauf, vernahm den Aufprall des Hinterrads auf die Stufe – und fand mich auf schmutzigem Beton wieder. Meine Knie und Ellenbogen waren aufgeschürft, bluteten leicht. Ich stand auf, humpelte. Doch es schien nichts gebrochen, nichts ernsthaft beschädigt zu sein.

Selbst mein Fahrrad hatte nur geringfügig Schaden genommen. Die Vorderlampe, ohnehin unbedeutend, war beim Aufprall zersplittert, hatte ihre Plastikstückchen in graudunkler Nacht verteilt. Wortlos, ohne Fluch auf den Lippen oder Tränen in den Augen, hob ich mein Rad auf und beschloß, es erst einmal ein wenig zu schieben, bis ich mich soweit wieder gefaßt haben würde, um meine restliche Heimreise radelnd vollziehen können.

Ich war keine Hundert Meter weit gehumpelt, als mir ein hübsches Mädchen entgegentrat, mich ansprach. Ich war dergleichen nicht gewohnt und insbesondere aufgrund meines zerschürften, lädierten Äußeren ein wenig verwundert, als sie Worte an mich richtete.

Sie stand vor einem Zigarettenautomaten und deutete darauf. Er sei kaputt, erklärte sie mir, mit Münzgeld klimpernd. Ob ich nicht wüßte, wo der nächste Automat zu finden wäre.

Ich dachte nach. Durch meinen Kopf wirbelten Bilder der Möglichkeiten. Wie leicht war es, ihr mitzuteilen, wo sich der nächste Automat befand, ihr eine mangelhafte Beschreibung zu geben, sich anzubieten, sie zu begleiten, mit ihr ins Gespräch zu kommen, sie kennenzulernen…

Ich rauche nicht. Zigarettenautomatenpositionen gehören nicht zu den Dingen, auf die ich zu achten pflege. Tatsächlich war der einzige Zigarettenautomat, der mir in den Sinn kam, derjenige, vor dem wir standen. Ich sah sie an und schüttelte mit dem Kopf. Nein, tut mir leid… Gern hätte ich mehr gesagt, doch jedes weitere Wort war entschwunden.

Ich sah ihr nach, wie sie sich schulterzuckend von mir entfernte. Sie wirkte nett, nein, mehr als nett. Es würde sich lohnen, sie kennenzulernen, dachte ich. Doch ich stand still, zu Bewegungslosigkeit, Wortlosigkeit, verdammt, krallte mich am Fahrradlenker fest.

Hätte, dröhnte es mir durch die Sinne, hätte ich geraucht, so wüßte ich, wo der nächste Automat stünde, hätte sie dorthin begleiten, mit ihr plaudern können. Hätte.

Für einen Augenblick fühlte ich mich gestraft. Von einer höheren Macht, von Gott, vom Leben, von jedem. Gestraft dafür, meine Leben lang Nichtraucher gewesen zu sein, mein Interesse nicht Zigarettenautomatenstandorten zugewandt zu haben. Das Nachteilige am Nichtraucherdasein kroch durch meine Sinne, verhöhnte mich, trieb mein gesamtes Sein und Wollen für einen Augenblick in die Lächerlichkeit.

Unwillig schwang ich mich aufs Rad, innere und äußere Schmerzen ignorierend, und radelte nach Hause.