Ich sitze in der Universitätsbibliothek und pausiere vom ermüdenden Versuch, Dinge zu lernen, die in meinen zusammenkopierten Aufzeichnungen nur unzureichend beschrieben und ohnehin für mich unverständlich sind.
Unweit meines Tisches steht ein weiterer. Gestern saß dort ein Junge, der vorübergehend abwesend war. Diese vorübergehende Abwesenheit ist das Markenzeichen der Bibliothekstische; denn alle sind sie mit Heftern und Laptops belegt, doch nur selten sitzt auch jemand daran, um fleißig zu sein oder sich vorzugaukeln, fleißig zu sein. Der abwesende Junge brauchte nur die Hälfte des für zwei personen ausgelegten Tisches, und so entschloß sich ein Mädel, ihre Unterlagen auf der anderen Hälfte auszubreiten.
Ohne großen Erfolg, denn der Junge kam alsbald zurück. Er lächelte, als er sie sah, ohne sie zu kennen und ohne ihre Entschuldigung für die Tischbesetzung richtig wahrzunehmen: An seinem Tisch saß ein gutaussehendes Mädel und gab ihm Grund, sein Nichtlernen forzusetzen, indem er ein Gespräch begann.
Ich weiß nicht genau, wie er das bewerkstelligte, doch schwer fiel es ihm nicht, studierte sie doch – ebenso wie er – irgendetwas Technisches. Schon bald hörte ich beide flüsternd miteinander reden. Tiefe Männerstimmen sind nicht sehr ausbreitungsfähig; seine Worte erreichten mich kaum. Doch die ihren begannen allmählich, mich zu belästigen. Ich verstand nicht genau, was gesagt wurde und wollte es auch nicht, doch der Stimme des Mädels wohnte eine klanglose Monotonie inne, die mich staunen ließ. Sie leierte jede Antwort langsam und emotionslos herunter, als berichte sie über Dinge, die abseits ihrer selbst geschahen.
Den Jungen schien das nicht zu stören; eine schöne Frau, noch dazu wenn sie intelligent ist, darf auch eine monotone Stimme haben. Nach zwei Stunden gab ich meine Konzentrationsversuche auf, ließ die beiden zurück und fuhr nach Hause.
Am gleichen Tisch sitzen heute Asiaten.Bibliotheksasiaten.
Die Besonderheit an ihnen ist, daß sie niemals alleine sind, auch nicht zu zweit. Nein, es gibt immer mindestens vier von ihnen auf einem Haufen. Die Besetzung des Haufens jedoch wechselt immerfort, und jeder scheint jeden zu kennen.
Wieder und wieder kommt jemand angerannt, hat eine Frage, borgt etwas aus, holt jemanden ab, kommt zurück, blättert in fremden Unterlagen, wird unterbrochen, redet, muß zur Toilette, usw.
Die Asiaten zu beobachten ist, als säße man vor einem Ameisenhaufen. Nach außen hin wirkt er ruhig, und die Berwegung jedes einzelnen Teils wirken gezielt und bewußt. Aber blickt man länger hin, so bemerkt man das Gewimmel und Gedränge, die stete Ruhelosigkeit, die sich unwillkürlich auf das eigene Gemüt überträgt.
Glücklicherweise reden die Asiaten nicht viel, und mir gelingt es, meine Blicke in meine Unterlagen zu vertiefen.
Im Augenblick pausiere ich, überprüfe meine Mails und finde spannende Dinge, die mich davon abhalten, an meinen Platz zurückzukehren.
Ich sitze neben einem Fahrstuhl, der nie ruht, ständig auf und ab fährt, Menschen verschlingt udn wieder ausspeit, und jede Bewegung mit einer Frauenstimmensprachausgabe kommentiert. „Tür schließt.“ Wenn Fahrstühle den Studenten sagen müssen, daß sich eine Tür bewegt, dann vermisse ich das Vertrauen in deren, unsere, Intelligenz.
Neben mir sitzt ein Paar, jeweils einen Rechner in Beschlag nehmend. Offensichtlich wollen die beiden Zeit totschlagen und bemühen dazu das Internet. Sie findet scheinbar Spannendes, während er den morigen Speiseplan gewissenhaft studiert. Sie jauchzt hin und wieder, redet mit den Bildern und Texten, die sie sieht, liest, nicht mit ihrem Mann, der sie nicht wahrnimmt, nur mit dem Rechner, eigentlich dem Monitor, und der Luft.
Ich fühle mich nicht gestört, doch bin verwundert über ein solches Verhalten. Gerade ertappe ich sie dabei, wie sie den Text vor ihren Augen laut mitliest. Als ich verwundert hinüberblicke, schweigt sie prompt, um kurz darauf wieder undefinierbare Laute zu äußern.
An mir gehen Studenten vorbei, die Stöckelschuhe tragen. Ich wundere mich, warum eine Bibliotheksstille unbedingt mit solchen Schuhe zerstört werden muß, doch stoppe diesen Gedanken, bevor ich ihn zu Ende denke. Die Schnallen meiner Springerstiefel verfügen schließlich auch über ein liebliches, bibliotheksfremdes Klingeln, das Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und Konzentrationen zu stören weiß.
Es ist Zeit. Zu viele Dinge warten darauf geschafft, verstanden zu werden. Mit leisem Klingeln begebe ich mich an meinen Arbeitsplatz, versuche, meinen zunehmend schmerzenden Rücken zu ignorieren und meine Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, deren Erschließung sich mir fortwährend verweigert…