Am Sonntag ist Wahl.
Das Deutsch des obigen Satzes ist wahrlich kein gutes, doch an seinem Inhalt ist nicht zu rütteln, zumindest wenn man in Sachsen-Anhalt wohnhaft ist, in jenem Sachsen-Anhalt, daß in sämtlichen Kategorien den letzten Platz, die viel zitierte rote Laterne, sein Eigen nennt – außer natürlich in Negativdisziplinen. Da sind wir plötzlich ganz weit vorne. Grund genug, alles besser machen zu wollen.
Ich lasse die Frage außen vor, ob es nicht immer einen letzten Platz, ein Bundesland, geben muß, das im Vergleich zu allen anderen den Schwarzen Peter zieht [paßt farblich ganz gut zur Laterne] und erkläre lauthals, von Politik keine Ahnung zu haben. Selbiges behauptet jeder, der sich dafür entschuldigt, soeben lauthals mit unsinnigen Stammtischparolen gegen das „System“ gewettert zu haben und sollte eigentlich nicht auch für mich als Ausrede dienen, mich vor meiner Verantwortung als Wähler zu drücken.
Gut, dann formuliere ich es anders: Mein politisches Interesse ist minimal.
In politischen Brisanzzeiten, beispielsweise wenn ein Irakkrieg beginnt oder zum ersten mal eine Frau für den Bundeskanzler[innen]posten kandiert, neige ich dazu, die Medienberichte zu verfolgen und Meinungen zuzustimmen oder sie mit kritischen Worten niederzumachen. Jedoch merke ich selbst dann, keine Ahnung zu haben, nur die Oberfläche zu kennen, unter der ein dickes Geschwulst an Informationen pulsiert, das kein Spiegelbild in meinem Schädel findet – und sich auch verwehrt, in mein Wissen einzudringen.
Denn befasse ich mich eine Weile mit einer mich interessierenden Thematik, so stelle ich schnell fest, daß in zahllosen Texten und Sendungen dieselben oberflächlichen Informationen wiedergekäut werden, ohne daß wirklich Neues oder gar Tiefergehendes hervorgebracht wird.
Es gibt das Internet; ich kann mich informieren. Und das tue ich – anfangs. Irgendwann glaube ich genug zu wissen und werde alsbald eines Besseren belehrt. Oder entdecke die zwanzigste abwegige Spekulation über Dinge, die erst entschieden werden müssen und wende mich genervt ab.
Ich interessiere mich nicht für Politik. Wenn ich jemals ein Gespräch in diese thematische Richtung lenke, fühle ich mich wie auf einem Minenfeld, wie im Treibsand, wie auf einem Bürgersteig Magdeburgs. Jeder weitere Schritt, jede weitere Aussage, wird offenbaren, daß ich nichts weiß, wird mich schmachvoll untergehen lassen. Also schweige ich lieber präventiv und versuche zuzuhören. Manchmal frage ich auch nach, um mir Zusammenhänge zu erarbeiten. Doch blicke ich zwei Tage später auf das Gespräch zurück, kann ich mich keines Wissens erinnern, das bei mir verweilte.
Trotzdem wähle ich. Ich bin fähig zu lesen und zu verstehen. Es ist ein Leichtes für mich, die Wahlprogramme der Parteien zu durchstöbern, und auch wenn ich nicht alles erfasse, bin ich doch in der Lage, bestimmten Thesen mit Zustimmung oder Ablehnung zu begegnen.
Ich bin auch nicht denkfern, kann Dummenfang und Stammtischparolen erkennen, den Namen des jetzigen Ministerpräsidenten [und zufälligerweise auch des sachsen-anhaltinischen Finanzministers] nennen und ihren Parteien zuordnen.
Doch wenn man mich fragen würde, was die CDU in den letzten vier Jahren in Sachsen-Anhalt bewegt hat, würde ich schweigen. Wenn man mich fragte, wer außer dem Ministerpräsidenten und dem Finanzminister im Landestag herumsitzt, würde ich schweigen.
Oder ausweichen. Ich könnte erzählen, daß ich einstmals mit Freundin C und Freund M vor dem Landtagsgebäude in Magdeburg parkte. Eigentlich wollten wir weiterfahren, doch das frischgekaufte Speiseeis sollte zunächst verzehrt werden. Wir parkten also, stiegen aus und nahmen auch einen handflächengroßen Ball mit ins Freie, um ihn uns gegenseitig zuzuwerfen. Wir hatten keine Minute unserem arglosen Spiel gefrönt, als ein Sicherheitsmann an uns herantrat und darauf verwies, daß sich schon Abgeordnete beschwert und die Befürchtung geäußert hätten, wir könnten mit unserem gefährlichen Bällchen ihre Autos zerschmettern.
Ich war erstaunt ob der Disziplin, die uns nur aufgrund des Verweilens in der Nähe von Politikern auferlegt wurde.
Wie die hießen, wußte ich trotzdem nicht.
Käme ein Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder [Ich sollte wohl Bindestriche setzen: Anti-Politikverdrossenheits-Massenmörder] daher und zwänge mich mit vorgehaltener, geladener und entsicherter Armbrust unter Androhung meines Todes, die wichtigsten Punkte des SPD-Wahlprogramms wiederzugeben. würde ich stotternd abzulenken versuchen und darauf verweisen, daß ich argwöhnte, ein radikaler CDU-Politiker triebe in Magdeburg sein Unwesen.
Der Massenmörder fiele auf meine Finte herein und fragte „Wieso das denn?“ und zwänge mich mit vorgehaltener, geladener und entsicherter Armbrust zum Berichten folgender Worte:
Aufgrund der derzeit stattfindenden Wahlwerbungskampagnen, wird insbesondere der Magdeburger Innenstadtbereich mit unzähligen überdimensionalen Gesichtern bepflastert, die mit unsinnigen, nichtssagenden oder schlichtweg durchschaubar-dummen Sprüchen für ihre Partei und um meine kostbaren Stimmen werden. Heimlich hat sich an den meisten dieser Plakate ein Sprühender versucht, der mit roter Farbe allen Politikern rote, runde Clownsnasen verpaßte und somit ein oder zwei Sympathiepunkte meinerseits einheimste. Nicht, weil ich am Liebsten stammtischgerecht ausrufen würde: „Recht so! Politiker – das sind eh alles Betrüger! Mafia!“, sondern weil durch diese Aktion die ausufernde Wahlplakat-Überallpräsenz ins Lächerliche gezogen wird, wo sie auch hingehört.
Der heimliche Sprayer verschonte jedoch das wohl lächerlichste Plakat von allen, auf dem vier CDU-Politiker behaupten, sie würden sich „ins Zeug legen“ – und das durch eine leichte Abschrägung ihrer Körpersenkrechten untermauern.
„Die CDU wurde verschont?“, wunderte ich mich und argwöhnte, daß es einen radikalen CDU-Sympathisanten gäbe. Allerdings ging die Vorstellung einer solchen Person mir nicht in den Schädel, weswegen ich erleichtert aufatmete, als ich gestern auch rotnasiger CDU-Plakate gewahr wurde.
Der Massenmörder und seine Armbrust jedoch fänden die Geschichte nicht komisch, denn schließlich enthielt sie kein Wort vom SPD-Wahlprogramm. Auch mein Bericht über die Einzelbewerberin Christine HabdenNamenvergessen, die täglich ihr mit Sprüchen bemaltes Bettlagen aufspannt, indem sie das eine Ende an einer Laterne , das andere an sich selbst befestigt, würden den Massenmörder nicht von meiner Politikweisheit überzeugen, und so bliebe ihm nichts weiter übrig, als mir den Armbrustpfeil durchs Auge zu schießen.
Doch die Armbrust klemmt, und bevor ich unvorsichtigerweise Häme ob der Benutzung mittelalterlicher Waffen äußern kann, resigniert der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder seufzend und rät mir, zumindest einmal den Wahlomaten aufzusuchen und mich dort testen zu lassen.
„Hab ich doch längst!“, töne ich frohlockend, doch der Armbrustmörder ist schon auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer.
Allerdings muß ich gestehen, daß der Wahlomat für mich keine große Hilfe darstellt. Bisher hatte ich immer Glück, das das gezeigte Ergebnis mit meinem ohnehin gefaßten Wahlwunsch zusammenfiel. Doch wäre dies nicht der Fall, so würde ich den Wahlomaten in eine virtuelle Ecke kicken und mit meiner Mißachtung strafen. Nicht, weil ich die Idee dieser Spielerei nicht zu würdigen weiß, sondern weil ich mir von einer Webseite nicht vorschreiben lassen möchte, welche Meinung ich zu vertreten habe – egal wie recht sie hat.
Theoretisch müßte ich wohl FDP wählen, denn unser derzeitiger Finanzminister und seine – bei regionalen Wahlen kandidierende – Frau habe die Großzügigkeit besessen, mehrere Hundekotcontainer zu spenden, auf daß in unserem Viertel die Besitzer vierbeiniger Schwanzwedler die Stoffwechselendprodukte ihrer Liebsten fachgerecht entsorgen können. Natürlich beeinflußt mich der Edelmut dieser Spende nicht im Geringsten, was mehrere Gründe hat – und ich zähle nur die unpolitischen auf:
– Wenn man etwas spendet, sollte man darauf verzichten, seinen Namen auf das gespendete Objekt gravieren zu lassen, weil sonst die Spende nämliche keine mehr ist, sondern einzig und allein manifestierte Eigenwerbung – bestenfalls zur Erhöhung des eigenen Gutmenschkontostands. Übrigens erachte ich es auch nicht als unbedingt sinnvoll, Hundekotcontainer mit dem eigenen Namen zu bestücken, weil die Assoziation zwischen Aufschrift und Inhalt zu naheliegend ist.
– Die Spende von irgendwas bewegt mich überhaupt nicht. Erst recht nicht zu einer veränderten Kreuzchensetzerei. Erst, wenn jemand so viel Spendet, daß es ihn selbst zu einem Spendenabhängigen machen würde, verdient er mein Respekt. Für den Spender entbehrliche Spenden sind mittlerweile zu alltäglich geworden, als daß sie mich noch berühren.
– Die Hundekotcontainer funtkionieren nicht. Ich habe auch nirgendwo bisher – wie das in meiner Heimatstadt eine Zeitlang üblich – war einen Plastiktütenspender gesehen, der Hundebesitzer eventuell davon überzeugt hätte, die Hinterlassenschaften ihrer Haustiere ohne direkte Berührung entsorgen zu können. Ehrlich gesagt habe ich bisher in meinem ganzen Leben niemals irgendwo vor meiner Nase sich bücken und die verdauten Nahrungsmittel seines Hundes wegräumen sehen. Ich gebe zu, Hunderückseiten und den daraus hervorkriechenden Abscheulichkeiten nicht unbedingt überdimensional großes Interesse zuzuwenden, doch allein meine häufig unachtsamerweise in Hundekot stapfenden Stiefel können ein ekliges Liedchen davon singen.
Erst neulich wich ich auf dem wirklich breiten Fußweg einer Familie aus, die natürlich nebeneinander gehen mußte. Das allein störte mich nicht, doch daß ich meine Aufmerksamkeit der Familie zuwendete, sorgte für fehlende Bodenbeobachtung und für eine weichbraune Sohlenfärbung. Meine Begeisterung war minimal, und ich find sogleich an, die noch herumliegenden Schneereste niederzutreten, auf daß das Feuchte das Eklige beseitigen möge. Ich sah reichlich albern aus, wie ich auf einer Strecke von dreihundert Metern Länge jeden einzelnen Schneerest mit Fußtritten bearbeite, aber letztendlich war ich erfolgreich und ging fröhlichen Gemüts an den unbefüllten Hundekotcontainern vorbei.
In den letzten Jahren war ich immer einigermaßen fester Überzeugung, daß ich diese oder jene Partei wählen sollte. Als ich 18 war und das erste Mal auf einem Stimmzettel meine Meinung äußern durfte, wählte ich die PDS, die die damals noch so hieß und war anschließend erstaunt, daß ich das getan hatte. Schließlich konnte ich meine Eltern und Großeltern dafür verantwortlich machen, die mich und meinen Bruder kurz nach der Wende überall im Stadtviertel PDS-Aufkleber verteilen ließen. Kinder lassen es sich nicht nehmen, auf einigermaßen legale Weise unzählige Laternenpfähle, Hauseingänge und Briefkästen mit Aufklebern zu bepflastern – und seien es welche politischer Natur. So etwas prägt und führte mein erstes Kreuz direkt in den Kreis neben den drei Buchstaben P-D-S.
Heute wähle ich keine PDS mehr. Käme der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder daher und fragte mich „Warum?“, so könnte ich wohl wieder keine eindeutige Antwort geben, müßte mich meiner Unwissenheit schämen und auf einen Metallpfeil in meinem Auge gefaßt machen.
„Das sind doch alles Kommunisten.“, würde ich vielleicht flüstern, und der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder würde traurig den Kopf schütteln ob solch lächerlicher Stammtischparolen.
Nicht minder lächerlich ist die DVU, deren Plakate nicht nur Stammtischdummheiten, sondern auch noch faschistoides Gedankengut als wählenswert deklarieren.
Das vermutlich beste Wahlplakat ist klein und von der PDS [deren Spitzenkandidat übrigens aufgrund seines Äußeren abwegige Parallelen zu einem einstmals großen Führer aufkommen läßt] und lautet:
„Sozialer Protest buchstabiert sich ohne d,v,u„
Das ist innovativ und aussagekräftig und erwirbt sich diverse Pluspunkte auf meiner Gutfindskala.
Allerdings wähle ich trotzdem keine PDS [das zeigt wieder einmal, wie funktionstüchtig Wahlwerbeplakate sind], nicht zuletzt, weil ich bereits wählte.
Bei jeder einzelnen Wahl bin ich beeindruckt, wie einfach es ist, bereits vor der Wahl die eigene Stimme abzugeben. Zahlreiche Wahlhelfer stehen im Wahlbüro bereit, jeden Ankömmling bienengleich zu umsummen und jede aufkommende Frage sofort aus der Welt zu schaffen. Es ist sogar möglich, seine Fernwahlunterlagen per Fax oder gar Email anzufordern – nur telefonisch funktioniert es nicht. Ein Leichtes wäre es also, sich die Emailadresse WAHLBETRUEGER@beliebigedomain.de zu sichern und die Wahlunterlagen anzufordern.
Ich wählte, und nach Verlassen des Wahlbüros begriff ich, was es heißt, in einer Demokratie zu leben. Nämlich nicht, sich mit unzähligen unsinnigen Sprüchen und Gesichtern zupflastern oder von Hundekotcontainern verführen zu lassen, sondern alle möglichen Maßnahmen auszuschöpfen, um jedem Wählenden seine Kreuzchenvergabe zu vereinfachen. Jede Stimme hat eine Bedeutung, und nirgendwo wurde mir das so deutlich gemacht wie im geordneten Wirrwarr des Wahlbüros.
Käme jetzt der Antipolitikverdrossenheitsmassenmörder zu mir und wiese mich darauf hin, daß ich am Sonntag gefälligst zur Wahl gehen möge, würde ich ihm in die geladenen Armbrust lachen und darauf verweisen, daß ich bereits gestern meine Stimmen vergab. Der Massenmörder würde zufrieden lächeln, mir auf die Schulter klopfen und mich verabschieden.
Aus dem Augenwinkeln kann ich noch beobachten, wie er seine Armbrust neu lädt, ein paar Schritte geht und sie dann einem Hundebesitzer an die Schläfe hält, dessen knuffiges Pelzwesen soeben den Bürgersteig mit seinen Hinterlassenschaften bestückte…
ich bin mir ziemlich sicher, auch einen böhmer mit roter nase gesehen zu haben, und riesigem roten lächeln. fast schon sympathisch.
wenn ich den wiedersehe mache ich glaube ich ein photo
edit: ups, habe bei dir was überlesen… naja, ein foto mache ich vielleicht trotzdem
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Ich fand auch, daß die Clownisierung sehr sympathisch wirkte.
Die Plakatsammlung zwischen Alex und City-Carre war, soweit ich mich entsinne, erstes Clownsnasenzentrum. Und da waren die CDU-Vierlinge verschont geblieben. Aber mittlerweile steht dort auch ein unversehrtes PDS-Plakat.
Herrn Böhmer mit roter Nase sichtete ich auch schon. Ein Foto ist es trotzdem wert…
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cdu steht scheinbar nicht auf sympathisch, böhmer mit clowns-nase ist verschwunden.
überhaupt war mein arbeitsweg zur uniklinik gestern voll davon, heute war nur noch ein spd-plakat übrig, wo es der „künstler“ etwas übertrieb und somit sein eigenes werk zerstörte.
habe noch ein pds- und ein fdp-plakat gefunden beim ulrich-platz, zu sehen hier.
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Danke. Sehr hübsche Fotos.
Auch wenn ich nicht weiß, wie man da rankommen soll: Am besten wäre es doch, diesem Riesenposter von Böhmer am Blauen Bock ne rote Nase zu verpassen.
„Der Garant“ – mit Clownsnase…