Ritzen

Als plötzlich lauthals um Hilfe gerufen wurde und Menschen herbeistürmten, um ihr Möglichstes zu tun, dachte ich, Katastrophales hätte sich ereignet. Selbst als sich die Hilfeschreie in Versuche verwandelten, den Hauptwasserzuleitungshahn zu finden und zuzudrehen, glaubte ich noch, daß eine mittelschwere Überflutung die Gänge befeuchtet hätte. Doch als ich aufstand und nachsah, entdeckte ich nichts. Nur aus der Herrentoilette hörte ich es fröhlich sprudeln. Einen kleineren Wasserrohrbruch erwartend schaute ich nach und entdeckte das Pissoir, das nicht aufhören wollte zu spülen. Unter ihm befand sich eine kleine Wasserlache, doch war sie gefahrlos und nicht bereit, plötzlich zu einer Flutwelle anzuschwellen. Das Pissoir rauschte fröhlich vor sich hin, und ich ging meiner Wege.

Später gab es Grund, die Herrentoilette erneut zu besuchen. Neugierig beschaute ich mir das defekte Pissoir. Man hatte ihm das Rauschen und Sprudeln mittlerweile ausgetrieben und es zu stillstem Schweigen verdonnert. Damit kein Geistesferner auf den Gedanken kam, es dennoch zu benutzen und das funktionsuntüchtige Keramikgefäß mit Nichtwegspülbarem zu füllen, hatte man mehrere Streifen gelb-schwarz-gestreiften Absperrbands über die Pissoiröffnung geklebt.

Nun neige ich ohnehin dazu, die Nutzung von Pissoirs zu vermeiden, so gut es geht. Doch als ich das notdürftig verklebte Gerät sah, überkam mich ein schelmisches Grinsen und der Drang, meiner Pissoir-Meide-Gewohnheit ausnahmsweise nicht nachzugehen. Überall zwischen den Absperrbandstreifen prangten Ritzen und führten mich in Versuchung, meinen Harndrang auszuleben, indem ich sorgfältig in jene Ritzen zielte. Ein uringelber Strahl würde zwischen den Absperrbandstreifen hindurchspritzen und das verklebte Pissoir füllen.
Die Ritzen lockten und grinsten mich an.

Ich widerstand und schloß die Toilettenkabinentür hinter mir. Doch jedesmal, wenn ich an dem gelb-schwarzen Pissoir vorbeilaufe, grinsen mir die Ritzen wieder zu. Und jedesmal halte ich kurz inne und grinse verstohlen zurück.

5 Gedanken zu „Ritzen“

  1. Puh! Ich kann nur Rätseln, ob es Absicht war oder nicht, aber bei der Überschrift in Kombination mit Hilferufen und Toiletten hatte ich einen gänzlich anderen Verlauf und vor allem eine andere Flüssigkeit im Mittelpunkt befürchtet. Ich sollte in Zukunft bestimmte Bereiche lyrischer Seiten vermutlich eher meiden (wenn sie schon so meine Wahrnehmung verändern).

    Was spülstopunwillige Toiletten angeht… ich kann die Schreie schon ein bisschen verstehen, als mir das mal selbst passiert ist, bin ich ebenfalls in Panik geraten – zumal ich es dann nicht schaffte, den Hauptwasserhahn zuzudrehen. Der Freund war nicht erreichbar, der zukünftige Schwiegervater empfahl mir Schraubendreherexperimente, die ich dann aber doch nicht durchführte. Und bis dann endlich der Klempner ankam, saß ich in der Wohnung, versuchte, zu arbeiten, während der stetige Wasserfall zwei Zimmer weiter meine Nerven fortzuspülen schien.

    Zum Rest der Geschichte: igitt.;)

  2. Ich bin versucht, den – ich taufe ihn einmal – Ritzendrang psychologisch zu interpretieren. Halte mich aber zurück.

  3. @Herbstsonne: Äh… An derartiges dachte ich überhaupt nicht. Habe aber bschlossen, trotz dieser berechtigten Assoziation nicht auf das Wort „Ritzen“ zu verzichten.

    @teacher: Bergen Interpretationen nicht auch die Gedanken des Interpretierenden…?

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