Olaf, der schwarze Kugelschreiber

Eines Tages erwachte Olaf und sagte mit düsterer Mine [Er war schließlich ein schwarzer Kugelschreiber.]:
„Ich habe keine Lust mehr auf das Hier und Jetzt! Den ganzen Tag hänge ich unnütz in der Tasche herum, warte darauf, irgendwann herausgeholt und aufgedreht zu werden, ein paar unleserliche Zeichen auf Zettelchen und Zettel zu notieren und dann wieder zu verschwinden. So kann das nicht weitergehen! Ich wandere aus!“
So konnte das nicht weitergehen, sagte sich Olaf und beschloß auszuwandern.

„Wohin?“, fragte die Schildkröte Uru, als er vorsichtig aus der am Garderobenhaken hängenden Jacke hüpfte und genau in Urus Abendbrotresten landete.
‚Immerhin eine weiche Landung!‘, dachte Olaf, doch antwortete: „Irgendwohin. Das Schicksal zeigt den Weg.“ Diesen Satz hatte er sich lange vorher überlegt. Er klang gut, fand Olaf. Am liebsten würde er ihn einfach niederschreiben, aber…
„Ich begleite dich.“, meinte Uru, „Zumindest ein bißchen.“
Der Kugelschreiber hüpfte glücklich auf und ab, war er doch so auf den ersten Metern seines Wagnisses nicht allein.
‚So bin ich auf den ersten Metern meines Wagnisses wenigstens nicht allein.‘, dachte er, und gemeinsam gingen und hüpften sie los.

Zuerst hüpfte Olaf wie wild voran, übersprang dank guter Kugelschreiberfeder sogar größte Kiesel, doch mußte bald einsehen, daß Kugelschreiber nicht für dauerhafte Fortbewegung geschaffen waren. Ihm ging die Puste aus. Außerdem bewegte sich Uru nur schwerfällig über den Boden, krabbelte langsam hinter ihm her, als hätte sie alle Zeit der Welt.
„Schnell, schnell!“, rief Olaf, sprang zwei-, dreimal nach oben, war bereits erneut außer Atem und keuchte: „Wir … haben doch … nicht alle … Zeit der Welt!“
„O doch.“, brummte Uru freundlich und krabbelte in gleichem Tempo weiter. „Das Auswandern braucht keine Eile, nur ein Ziel.“
Aber Olaf hörte sie nicht; schon war er wieder vorausgehüpft, weiter und weiter dem Unbekannten entgegen.

Nach einer kurzen Weile jedoch wurden seine Sprünge immer kleiner und kleiner, und er beschloß, eine Pause einzulegen. An einem hölzernen Pfahl wuchs ein Grasbüschel, das verlockend weich wirkte. Er setzte sich und wartete auf Uru, die aussah, als könne sie in ihrer Langsamkeit noch tagelang weiterwandern.
„Du siehst aus, als könntest du noch tagelang weiterwandern.“, rief Olaf, als Uru sich näherte. „Ich jedoch brauche schon jetzt eine Pause.“
„Innehalten ist weise.“, brummte Uru und knabberte verzückt an dem weichen Gras, auf dem Olaf hockte.
„Mmmhh… Mwo mwillst du eigentlich hin?“, fragte sie, einen Grashalm zerkauend. „Welches Ziel strebst du an?“
„Ich … äh … weiß es nicht…“, stotterte Olaf und wunderte sich. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“, sagte er und versuchte nun verzweifelt, ein Ziel zu ersinnen.
„Ohne Ziel ist eine Reise nur eine Flucht. Mit Ziel jedoch der Anbeginn von Neuem.“, erklärte Uru und wandte sich einem Löwenzahnblatt zu, das sich ihr in grüner Köstlichkeit entgegenreckte.
„Ich … äh … ich ..“, antwortete Olaf unsicher.
„Schau:“, meinte Uru und hob den Kopf. „Über uns befindet sich ein Wegweiser. Welcher Weg gefällt dir am besten?“
Olaf sah auf und erkannte, daß am oberen Ende des Holzpfahls, an den er sich lehnte, mehrere Tafeln angebracht worden waren. Er hüpfte ein paar Schritte zurück, um sie besser erkennen zu können: Es waren Pfeile, die in verschiedene Richtungen zeigte – und zu jedem Pfeil gehörten seltsame Zeichen.
„Das ist … Schrift!“, wußte Olaf und versuchte zu entziffern, was auf den Tafeln geschrieben stand.
„Und?“, fragte Uru, die sich behäbigen Leibes zu ihm gesellt hatte. „Wohin willst du?“
„Ich weiß es nicht.“, stammelte Olaf. Seine Stimme war kaum lauter als ein Mäusepieps.
Doch Uru hatte gute Ohren. „Du weißt es nicht?“, wunderte sie sich.
„Ich … Ich kann nicht lesen.“, gab der Kugelschreiber Olaf kleinlaut zu und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Doch der Boden war fest und steinern, und Uru antwortete mitfühlend: Du bist ein Kugelschreiber und kannst nicht lesen? Du Ärmster! Und kannst du denn schreiben?“
Olaf schüttelte traurig mit dem Kopf. Eine schwarze Träne kullerte aus seinen Augen.
„Uiuiui.“, murmelte Uru, „Ein Kugelschreiber, der nicht weiß, was er schreibt…“

Olaf wäre am liebsten weggelaufen. Schon wieder. Diesmal aber ohne die Schildkörte Uru. Allein. Irgendwohin. Egal, was die Pfeile dort oben am Ende des Pfahls bedeuteten.
Doch er war noch immer ein wenig außer Puste und würde nicht weit kommen, ohne alsbald eine weitere Pause einlegen zu müssen. Außerdem war Uru die einzige Freundin, die er hatte…
„Lauf nicht weg, Olaf.“, unterbrach Uru seine Gedanken, als hätte sie erahnt, was in Olafs Kopf geschah. „Überall gibt es Schilder und Tafeln. Und jedesmal wirst du dich neu entscheiden müssen, wohin du gehst. Wäre es da nicht besser zu wissen. was auf den Schildern geschrieben steht?“
Olaf nickte. Nur ein bißchen, denn er wollte nicht, daß sich eine weitere Träne aus seinen Augen löste.
„Ich bringe dir Lesen und Schreiben bei.“, sagte Uru mit einem Lächeln in der Stimme. „Es ist nicht einfach und wir ein paar Tage dauern. Doch du bist ein gescheites kerlchen und kannst das schaffen.“
Olaf blickte überrascht auf. Hatte er sich verhört?
„Nein, hast du nicht.“, sagte Uru, die tatsächlich Gedanken lesen konnte.

Und so geschah, was sonst nur in Märchen geschieht: Olaf lernte lesen und schreiben und begriff hnun, was sein Besitzer in – mittlerweile lesbaren – Zeichen auf Zettelchen und Zettel notierte.
„Er ist ein Poet.“, staunte Olaf und erzählte der Schildkröte abends von den Gedichten und Geschichten, die er geschrieben und gelesen hatte. Und manchmal, wenn er einen besonders weisen Gedanken in sich spürte, lenkte er die Hand des Poeten in die richtigen Bahnen:
Das Ziel jeder Reise sei Wissen.

2 Gedanken zu „Olaf, der schwarze Kugelschreiber“

  1. Eine süße Geschichte mit einer leicht verdaulichen, märchenhaften ‚Moral‘

    Was mich persönlich ein wenig verwirrt hat, war die Frage, wie die beiden aus der Wohnung herausgekommen sind (ich ahne zwar, weshalb sie nicht beantwortet wurde, aber als Leser neige ich dazu, mich an solchen Dingen ‚aufzuhängen‘).

    Die Wiederholung von Gedanken in der Erzählung und der Erzählung in Worten und Gedanken… auf der einen Seite hat es etwas angemessen Kinderbuchhaftes, aber auf der anderen Seite klingt das irgendwie, als würde der Autor annehmen, man hätte es beim ersten Mal nicht verstanden. Gerade im ersten Absatz, als der Erzähler Olaf widerholt, fand ich es sehr irritierend.

    Und zuletzt muss ich gestehen, dass ich bei aller Phantasie gerne in einem gewissen Rahmen bleibe. Ich habe kein Problem mit sprechenden Kugelschreibern und Schildkröten und dass eine (wenn auch telepathisch begabte)Schildkröte einem Kugelschreiber (der ja eigentlich eher der Experte in solchen Dingen sein sollte, schließlich betreibt er all die Zeit ‚Learning by doing‘) Lesen und Schreiben(!) beibringen kann… hm, ja gut. Aber ein sich setzender (ich hätte vielleicht ‚lehnte sich an‘ geschrieben) Kugelschreiber mit weinenden Augen (vielleicht da eher etwas wie ‚und schwarze Tinte tropfte wie Tränen auf den Boden‘) entfernt sich zu weit von dem tatsächlichen Wesen des Kugelschreibers. Wenn man es schon so cartoonmäßig betrachtet, könnte man ihm gleich auch noch Arme und Beine geben.

    Zuletzt bleibt noch die Frage, ob das Glück wohl verbleibt. Zwar weiß Olaf zwar jetzt um die Erfülltheit seiner Existenz, aber was, wenn sein Besitzer ihn wieder in der Jackentasche vergisst? Schließlich war das Anfangsproblem ja die Vernachlässigung, oder?

    Mir ist bewusst, dass jeder dieser Punkte von jedem anders gesehen kann, aber ich dachte, ich trage Dir dennoch meine Gedanken dazu an.

  2. REPLY:
    Mannomann.

    Es sei vorangestellt, daß diese Geschichte Teil der Morning Pages war, also in frühesten Morgenstunden entstand – und sich erst während des Niederschreibens überhaupt entwickelte. Das heißt, mit jedem Satz freute ich mich, die Geschichte ein Stück vorangetrieben zu haben.

    Wie die beiden aus der Tür herausgekommen sind, weiß ich auch nicht. ich habe allerdings auch nichts bewußt vernachlässigt. Allerdings neigte ich durchaus dazu, Einzelheiten wegzulassen, um den Text nicht ausarten zu lassen.

    Die Wiederholung klang in meinem kopf lustig – und auch, als ich sie vorlas. Nichts anderes war meine Intention. Bösartiges Für-Dumm-Halten lag niemals in meiner Absicht.

    Beim Abschreiben des Textes hatte ich ein Problem damit, daß Olaf als Kugelschreiber nicht schreiben kann. Aber dann nahm ich es hin. Ich denke, es gibt genug Leute, die ihr Leben lang nicht wissen, was sie tun. So auch Olaf. Bis ihm die weise Schildkröte weiterhilft.
    Daß sich Olaf schlecht setzen kann, ist mir klar. Aber in meinem Kopf setzte er sich, indem er sich in der Mitte durchbog. Füße bekam er trotzdem nicht. Hände wären allerdings akzeptabel gewesen. Aber er brauchte ja keine.
    Ich habe die Figur des Kugelschreibers nicht durchdacht, das ist mir klar. War aber auch nicht meine Absicht. Ich wolklte losschreiben und mich darüber freuen, was dabei herauskommt.

    Der letzte Punkt ist einer mit Berechtigung. Ich hoffe einfach, daß der Poet den Kugelschreiber, der nun von selbst weise Sachen niederkritzelt, ab sofort häufiger nutzen und vielleicht sogar zu seinem Lieblingsschreibstift erklären wird. Wäre schön.
    Wenn nicht, wird Olaf vielleicht eine weitere Flucht vollziehen – diesmal kann er ja die Schilder lesen.

    Ich finde amüsant, daß du dir derart viele Gedanken um diesen Text machtest und hoffe, daß du trotzdem Freude daran fandest. Nicht, daß du so endest wie ein Regisseur, der nicht mehr ins Kino geht, weil er anstelle des Films nur Kameraeinstellungen und Schnitte sieht…

Kommentare sind geschlossen.