James Dean

Ich konnte mich nicht daran erinnern, das James-Dean-Poster jemals an der Wand meines Zimmers aufgehängt zu haben, doch jetzt blinzelte es mir verschwörerisch zu. Nicht „es“, „er“! Ich hatte noch nie Interesse für James Dean aufbringen können, auch klebte ich mir längst keine Poster mehr über die Tapete. Aber James Dean hing dort oben, bestückt mit dem typischen Cowboyhut und lässiger Miene, und zwinkerte mir zu.

Er wirkte lebendig, plastisch und realistisch, und fast schien es mir, als bedürfe es nur eines Schrittes in das Poster hinein, und ich stünde neben James Dean, in dessen Hand eine filterlose Zigarette vor sich hinglimmte. Die Zigarette war echt, ich roch es, doch ihr Qualm klebte starr auf der Fotografie.

Ich lächelte unsicher. Vielleicht war ich verrückt. Erst gestern hatte ich entdeckt, daß mein blauer Kugelschreiber leuchtete, wenn ich ihn berührte. Bei allen anderen blieb er langweilig blau, doch sobald ich meine Finger um ihn schloß, strahlte er ein fast überirdisches Leuchten ab. „Entweder“, hatte ich gesagt,“bin ich göttlich oder der Kugelschreiber oder wir beide.“
Die anderen hatten gelacht, mir den Kugelschreiber entrissen und waren weggelaufen.

Und nun zwinkerte James Dean mir zu. Von einem Poster.
‚Warum‘, überlegte ich, ’nennt man Schauspieler eigentlich stets bei ihrem vollen Künstlernamen?‘ Es kam mir falsch vor, James Dean als „Mr Dean“ zu bezeichnen [selbst wenn man die Namensähnlichkeit zu Mr Bean ignorierte]. Und ein schlichtes „James“ war ohnehin respektlos. Der Mann war schließlich tot.

Ich hatte noch nie einen einzigen Film gesehen, in dem Mr Dean, James, mitgespielt hatte. Natürlich hatte ich von „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Giganten“ gehört und auch davon, daß der arme Herr Dean bereits in jungen Jahren verstorben war. Aber mich hatte das nie interessiert.
Und nun starrte ich auf ein Poster an meiner Wand, das mir zuzwinkerte.

„Komm mit!“, schien Herr Dean überlegen zu lächeln, während die Zigarette in seiner Hand nutzlos glimmte.
‚Komm mit!‘, fauchte ich angewidert in Gedanken. Das war doch eine Zeile aus dem schrecklichen Lied „Abenteuerland“ von Pur, in dem es hieß, daß der Eintritt den Verstand koste, Sollte ich wirklich in das Poster steigen und dabei den Verstand verlieren, dann würde ich lieber darauf verzichten.

Der Kugelschreiber, der gestern so wunderschön, ja himmlisch, geleuchtet hatte, fehlte mir. Es war nicht nur mein Lieblingskugelschreiber gewesen, jener, mit dem ich all meine Texte und Gedichte zu schreiben pflegte [In dieser Hinsicht ähnelte ich tatsächlich Herrn Dean: Wir hatten beide noch nie einen Computer benutzt.], sondern sein magisches Leuchten hatte mir Kraft gespendet, Entschlußkraft, Selbstvertrauen …

James Dean hing immer noch an meiner Wand und zwinkerte verlockend. Es war leicht: Ich brauchte nur die Hand auszustrecken und in seine Welt zu greifen. Wenn meine Finger gegen Beton stießen, wäre ich nur einem weiteren Irrsinn aufgesessen und hätte mir wohl auch meine Kugelschreibergöttlichkeit eingebildet. Wenn ich aber hindurchdrang, plötzlich in der anderen Welt war – dann war alles möglich. Vielleicht war ich tatsächlich auserwählt, vielleicht wartete eine Mission auf mich, vielleicht …

Vielleicht sollte ich James Dean wirklich besuchen. Immerhin, allzu unsympathisch sah er nicht aus. Und in den Dreißigern war es vielleicht auch ganz nett. Oder in den Vierzigern. Oder wann immer dieses Foto geschossen worden war.

Warum war James Dean eigentlich bunt? Gab es überhaupt Farbfotos von James Dean? Hatte es damals, in den 30ern, 40ern, 50ern – oder wann auch immer Herr Dean zu Ruhm gelangt war – schon Farbfotografie gegeben?
Wahrscheinlich spielte es keine Rolle. Einem Schwarz-Weiß-Foto hatte ich niemals vertraut.

James, ich duzte ihn jetzt, blinzelte erneut. Erstaunlich, wie geduldig er mir zublinzelte, während ich untätig nach einer Entscheidung suchte. Ich wandte mich ihm zu. ‚Na gut‘, dachte ich, ‚was habe ich schon zu verlieren?‘

James schien zu lächeln. Er sah wirklich sehr sympathisch aus mit seinem Cowboyhut, seinen Cowboystiefeln und seinem Cowboyhemd, in dessen Tasche ein Kugelschreiber steckte …

Moment, das war doch MEIN Kugelschreiber! Wie konnte …? Dieser verdammte …!

Kurzentschlossen griff ich in das Poster, zerrte den Kugelschreiber aus James Brusttasche und gab dem Mistkerl noch eine schallende Ohrfeige, bevor ich das alberne Poster von der Wand riß, zerknüllte und in den Mülleimer warf.
Der Kugelschreiber in meiner Hand leuchtete zufrieden.