Perfekte Welt

Alle Zeichen waren positiv; die Zugfahrt schien, obgleich noch einmal ansatzweise begonnen, zu einer angenehmen zu werden. Ich hatte meinen Fünf-Euro-Gutschein bereits eingelöst und längst eine Fahrkarte erworben. Zudem hatte ich den Bahnhof zu einem Zeitpunkt betreten, der mich den nächsten Zug knapp aber problemlos erreichen ließ – im Gegensatz zum üblichen Verfahren, bei dem ich ausgerechnet dann das Bahnhofsgebäude betrete, wenn mein gewünschter Zug gerade die Gleise verlässt.

Mein Zug stand bereits fast eine halbe Stunde auf dem Bahnsteig, hatte also genug Zeit gehabt, sich mit Menschengruppen zu füllen und durch magische Verteilung dafür zu sorgen, dass ausgerechnet denjenigen Personen, neben denen noch vereinzelte Plätze zu finden waren, jede Fähigkeit verlorenging, ansatzweise sympathisch zu wirken. Das jedenfalls wäre die übliche Prozedur gewesen, und mich hätte es nicht gewundert, neben einem übergewichtigen Fastfoodabsorbierer und dessen allzu schwatzhafter Lebensabschnittgefährtin Platz nehmen oder mit einer Überzahl an Fahrrädern um den letzten Sitz kämpfen zu müssen. Angenehmerweise jedoch waren genug Plätze frei, und ich bekam nicht nur eine eine Vierergruppe zugestanden, auf der ich mich und mein Gepäck ausbreitete, sondern saß auch noch am Fenster in Fahrtrichtung.

Glücklich lehnte ich mich zurück und genoss zugleich das gute Gefühl zu wissen, in den nächsten siebzig Minuten Zugfahrt nicht in die Verlegenheit kommen würde, die üblicherweise zugewiderte Zugtoilette besuchen zu müssen. Ich konnte einfach hier sitzen, ein paar mitgebrachte Süßigkeiten verzehren, aus dem Fenster sehen und die Fahrt genießen…

Doch halt! Im letzten Moment stiegen weitere Passagiere zu. Vier Stück. Mutter, Vater, zwei Söhne. Neben meinem befand sich noch ein weiterer Vierer, vollkommen unbesetzt, und ich ertappte mich, wie ich wiederholt flüsterte: Nicht hier. Nicht hier. Nicht hier. Natürlich setzten sie sich. Der ältere der beiden Söhne hörte nicht auf, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zu maulen, der andere zog sogleich die Sandalen aus und platzierte seine nackten Füße provozierend unweit seines Bruders. Die Eltern jedoch nahmen Abstand. Nicht, indem sie ihre Kinder ignorierten, sondern indem sie sich zu mir setzten.

Ich nahm also meinen Rucksack von der Bank, hängt meine Jacke ordnungsgemäß an einen Haken und verzichtete darauf, meine Beine langzumachen. Als der ältere Sohn erneut zu maulen begann, blickte mich die Mutter an, als wüsste ich Bescheid, wie Söhne manchmal sind. Lass mich da raus, wollte ich denken, doch die Frau war zu sympathisch. Sicherlich, sie hätte etwas mehr essen können und ihre Kleidung erweckte den Eindruck, eine vehemente Ökotussi vor mir zu haben, doch ihr Lächeln war nett, und beeindruckenderweise schaffte sie es, mittels weniger Worte ihren Sohn zu besänftigen und gleichzeitig zu tadeln.

Der Vater wirkte zwar, als hätte wüßte er seine Kleidungsgrößen nicht und als würde ein böses Wort ihn zu Tränen rühren, doch zugleich gelang es mir nicht, ihn unsympathisch zu finden. Dann halt nicht.

Ich holte mein Buch aus dem Rucksack und verkroch mich dahinter. Aber als mich nach wenigen Minuten umblickte, war eine unglaubliche Wandlung vorgegangen. Die gesamte Familie schwieg – und las. Jeder einzelne hielt sich ein Buch vor die Nase und las. Einfach so. Jedes Gespräch war unterbrochen, jeden Nörgelei beseite gelegt. Mami las etwas von Coelho, „Der Dämon und das Fräulein Prym“, und wunderte sich ihrem Mann gegenüber, dass sie das nicht bereits gelesen habe. Er wiederum las „Bloody Mary“ von Tom Sharpe und schmunzelte hin und wieder bei einigen Passagen. Was die Söhne lasen, konnte ich nicht genau erkennen, doch sah ich, dass sich der ältere irgendetwas aus dem Diogenees-Verlag vor die Augen hielt, während der jüngere ein dickes Hardcover-Fantasy-Werk schmökerte, von dem es anscheinend auch noch mehrere Teile gab.

Ich war verblüfft, und ja, ich schmämte mich sogar, weil das Buch, das ich selber in den Händen hielt, A. Lee Martinez „Eine Hexe mit Geschmack“, anspruchloser Fantasykram war und ich plötzlich das Gefühl bekam, minderwertigen Schund zu lesen – verglichen mit der Familie. Natürlich war mein Buch nicht vollkommen minderwertig, doch ein Blick auf das – wie so oft – nicht mit dem Buchinhalt in Zusammenhang stehende Cover hätte dergleichen vermuten lassen können.

So saßen wir also im Zug nach Magdeburg, fünf Leute, die allesamt schwiegen und lasen. Ich grinste in mich hinein. Nicht nur, weil ich plötzlich die Eltern respektierte, die es geschafft hatten, ihre Kinder dazu zu bringen, freiwillig zu lesen, sondern auch, weil die Zugfahrt sich anscheinend doch als problemlos und entspannt erwies. Dass ich mir etwas mehr Beinfreiheit gewünscht hätte, war dann auch nicht mehr so wichtig.

Die Fahrkartenkontrolleurin war freundlich und hatte Geduld mit mir, als ich den halben Rucksack umkrempeln musste, um an meine Bahncard zu gelangen. Und als dann der jüngste Sohn triumphierend „Ich bin durch!“ ausrief und sein Buch wie zum Beweis in die Luft hielt, dachte ich, dass irgendjemand die übliche Welt der Zugfahrt ausgetauscht und durch eine angenehmere Variante ersetzt haben musste.

Ich las weiter, und der jüngste Sohn fand eine weitere Beschäftigung: Er hörte Musik. Leise genug, um mich keinen Ton vernehmen zu lassen. Lang genug, um niemanden zu stören. Laut genug, um auf die Fragen seines Bruders nicht zu reagieren. Denn dieser wollte sich anders hinsetzen und die Fußproblematik vom Reisebeginn war noch nicht ausgestanden. Doch bevor die Sache eskalieren konnte, hatte sich der Vater erhoben. „Wollt ihr was essen?“, fragte er, verteilte selbstbelegte Brote und Brötchen und glättete in Sekundenschnelle die Wogen.

Spätestens jetzt müsste ich angwidert das Gesicht verziehen, dachte ich, darauf wartend, dass ekelhafter Leberwurstgestank oder ähnliches zu mir herüber dringen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Ich schüttelte ungläubig mit dem Kopf.

Ich fischte das letzte Schokoding aus der Packung, gerade als der Zug in Magdeburg einfuhr. Perfekt, dachte ich vergnügt, und stopfte mein Buch in den Rucksack. Die Familie stieg aus. Ohne großes Trara, ohne Maulerei oder Gedränge. Sekunden später war auch ich auf dem Bahnsteig und pröblemlos schlängelte ich mich in Richtung Ausgang.

Draußen schien die Sonne. Was ist nur los?, fragte ich mich. Will man mir denn allen Grund nehmen zu meckern? Ist dies gar der erste Schritt zu einer perfekten Welt? Dann sah ich die Straßenbahn. Wäre ich gerannt, hätte ich sie trotzdem verpasst. Immer das Gleiche!, echauffierte ich mich und ging zu Fuß nach Hause.