Rocking the Damaschkeplatz

Der Magdeburger Damaschkeplatz ist der Inbegriff von Hässlichkeit. Und obwohl sich hier der Nachtverkehr zur Weiterfahrt sammelt und Umsteigenden die Möglichkeit gibt, sich in alle Richtungen Magdeburgs transportieren zu lassen, vermeide ich es, hier zu warten. Verkachelte Betonklotzhäuschen von häßlich graubrauner Farbe, die vermutlich noch nicht einmal in den 70ern hübsch ausgesehen hatten, erinnern nur zu deutlich daran, was für einen abartigen Geschmack Städtebauer zuweilen gehabt haben mussten.

Üblicherweise passiere ich den Damaschkeplatz in einer Bahn opder einem Bus sitzend, und selbst wenn der Nachtverkehr minutenlang auf Neuankömmlinge wartend an Ort und Stelle steht, bin selten ich es, der zusteigt. Nein, ich bin der, von innen nach außen schaut und interessiert die Leute betrachtet, die sich dort auf den Bahnsteigen und innheralb der anderen Gefährte tummeln.

In den letzten Tagen entdeckte ich immer wieder einen jungen Mann, vielleicht zwanzig, mit kurzem, dunklem Haar, modischer, aber unspektakulärer Kleidung und einem Schäferhund an der Leine. Der Schäferhund wirkte freundlich, und ihm schien es keineswegs etwas auszumachen, dass sein Herrchen immer wieder vor- und zurück wippte, wieder und wieder, einem Metronom gleich.

Ich wunderte mich ein wenig, doch bin ich bisher genug behinderten Menschen begegnet, um das Wundern nicht lange beibehalten zu können. Als sich Busse und Bahnen in Bewegung setzten, hatte ich den jungen Mann zumeist schon wieder vergessen.

Heute jedoch wartete ich am Damaschkeplatz. Der Optimist in mir hatte mich davon überzeugen können, dass ich möglicherweise eine frühere Bahn erreichen könne, wenn ich nur alsbald zum Damaschkeplatz käme – und irrte sich. Ich war allein auf dem Bahnsteig, und obwohl meine Bahn erst in zehn Minuten eintreffen würde, war ich nicht gewillt, mich laufenderweise nach Hause zu begeben. Schließlich wartete in meinem Rucksack ein Buch darauf, gelesen zu werden.

Ich setzte mich, ignorierte den aus dem Fußgängertunnel zeitweise hervorquellenden Urindunst, ignorierte den Boden unter meinen Schuihen, der angefüllt war mit Zigarettenkippen und nicht näher zu definierendem Ehemaligem, ignorierte die Un-Architektur um mich herum – und begann zu lesen. Dann vernahm ich Gesang.

Keineswegs waren es Engelchöre oder menschliches Äquivalent, das da an mein Ohr drang, auch Worte waren nicht vernehmbar – und dennoch handelte es sich um Gesang. Ich blickte auf, und mir gegenüber, auf der anderen Gleisseite stand der junge Mann und wippte hin und her. Nein, vor und zurück wippte er, und zwar in konstant gleicher Geschwindigkeit und im Takt zu den Lauten, die aus seinem Mund drangen.

Denn Laute waren es, die er von sich gab, nicht viel mehr. Es war, als hörte man Timmy aus Southpark zu, wie er versuchte zu singen. Und nicht nur das: Der erste Eindruck hatte mir vorgegaukelt, Englisch zu vernehmen, doch das, was der junge Mann ertönen ließ, waren Silben, die eher Englisch imitierten als es zu sein. Es war, als würde er ein Lied nachsingen, dessen Text er nicht verstanden hatte.

Sein Gesang hätte niemand als schön oder ergreifend bezeichnen können, doch war er auch kein verqueres Musikgebilde, das einem zerrütteten Geist entsprungen war. Nein, der junge Mann traf Töne, hielt den Rhythmus – und kannte offensichtlich das gesamte Lied in- und auswendig – wenn man von seiner kleinen Textschwäche absah. Minutenlang saß ich wie gebannt da, außerstande, mich auf mein Buch zu konzentrierten, gebannt von dem, was auf der anderen Seite der Gleise geboten wurde.

Was ich hörte, war moderne Rockmusik, und ich bemühte mich verzweifelt zu erkennen, um welche Band es sich handelte. Doch abgesehen von einem Wort, das „closer“ heißen konnte, war kein Text auszumachen – und somit jede Chance auf potentielle Nachrecherche vertan. Also lauschte ich nur und versuchte, einen Blick auf das rechte Ohr des Jungen zu werfen. Denn nur das linke war mir zugewandt – es war leer, und ich hätte gerne gewusst, ob sich im rechten ein klitzekleiner Kopfhörer verbarg.

Mit welcher Unermüdlichkeit er vor sich hin sang, beeindruckte mich. Er musste dieses Lied wirklich lieben, wenn er es auf diese Art und Weise auswendig kannte. Als es endete, begann ein weiteres, ebenso detailreich wiedergegeben, ebenso unverständlich wie das erste. Ich war fasziniert.

Meine Faszination war jedoch noch steigerbar: Denn irgendwann bemerkte ich ein hintergründiges Taktgeräusch. Es klang, als trete man mit feuchtem Schuh kräftig auf und das Wasser quetschte sich aus dem zusammengepressten Material. Oder als fegte man mit einem Handfeger über groben Asphalt. Dies war das Metrum, und es deckte sich mit der Wippbewegung des Jungen, die ihn abwechselnd den linken und den rechten Fuß, beziegungsweise, da er in Schrittstellung stand, den vorderen und hinteren Fuß heben ließ. Und es passte zu seinem Gesang, selbst als sich dieser – bewusst – neben dem Takt bewegte.

Ich begriff es nicht. Irgendwo musste das Geräusch doch seine Ursache haben. Es seinen Schuhen zuzuordnen, wäre logisch gewesen, doch niemals wäre sein Schuhwerk, so trocken und unversehrt es war, zu solchen Geräuschen fähig gewesen. Der Taktklang musste aus seinem Mund kommen.

Aber auch das war kaum möglich, sang er doch stetig und kontinuierlich, gepresst und mit Timmy-artig genutzter Stimme, und ich an seiner Stelle hätte ein zusätzliches Taktgeräusch nicht gleichzeitig hervorbringen können. Aber vielleicht er. Vielleicht hatte er, ohne es bewusst wahrzunehmen, eine Möglichkeit gefunden, seinem Mund zugleich Perkussion und Gesang zu entlocken.

Ich horchte, beobachtete ihn. Ich schämte mich nicht, ihn anzustarren, denn er schämte sich auch nicht, auf öffentlichem Platz vor wachsendem Warte-Publikum lautstark englischige Rockmusik zu intonieren. Besonders gewissenhaft achtete ich auf Pausen. An irgendeiner Stelle musste er doch stillstehen, innehalten, den Takt ruhen lassen, oder mit dem Wippen aufhören. Doch das geschah nicht. Drei komplette Lieder, von Anfang bis Ende, zumindest soweit ich das beurteilen konnte, vernahm ich, und nicht einmal hielt er inne und ließ mich erkennen, woher das Taktgeräusch stammte, das mich so sehr rätseln ließ. Und auch die Band erkannte ich nicht, wenngleich ich feststellte, die Musik für eingängig und hörbar zu befinden.

Sein Schäferhund war dieses Gebaren offensichtlich gewohnt. Im Takt schwang seine Leine auf und ab, doch er blieb stoisch sitzen, mit gespitzen Ohren seine Umgebung wahrnehmend, als wäre es das Normalste der Welt, dass jemand auf einem Umsteigebahnhof für öffentlichen Personenahverkehr lautstark Lieder trällerte.

Dann kam meine Bahn, und alsbald füllte sich der gesamte Damaschkeplatz mit Gefährten, mit Aus- und Umsteigenden. Ich behielt den jungen Mann im Auge, als ich mir einen Sitzplatz suchte, betrachtete ihn durch drei Glasscheiben hindurch – doch von seinem Gesang vernahm ich nichts mehr. Er wippte weiter vor sich hin, zog die Aufmerksamkeit verschiedener Passagiere auf sich, doch stieg nirgendwo ein. Er hatte kein Ziel, nur seine Musik, die er unverdrossen erklingen ließ.

Ich freute mich. Keine Zeile meines Buches hatte ich gelesen; die Faszination war stärker gewesen.

Als meine Bahn zur Fahrt ansetzte, trat eine ältere Frau auf den jungen Mann zu, kramte in ihrer geblümten Tasche und holte Süßigkeiten hervor. Sie unterhielt sich mit ihm, und lächelnd nahm ich wahr, wie er selbst, als er ihr antwortete, nicht aufhörte zu wippen.

[Im Hintergrund: Empyrium – „A Wintersunset…“]

4 Gedanken zu „Rocking the Damaschkeplatz“

  1. Das ist einfach mal extrem faszinierend. o.o
    Beobachte das bloß weiter, ich möchte wissen wie er das macht. ^^

  2. REPLY:
    Heue habe ich ihn nicht gesehen, obwohl ich zu günstiger Zeit am Damaschkeplatz rumlungerte. Naja, ich halte meine Augen (und Ohren) offen.

  3. REPLY:
    Wow. Du hats um 23.05 Uhr kommentiert. Sehr sympathisch.

    Neulich sang der junge Mann sogar auf Deutsch. Ich habe aber trotzdem nichtas verstanden oder erkannt. Intreessant fand ich jedoch, dass er offensichtlich längst bekannt ist. In der Straßenbahn hörte ich Kommentare „Ach ja, der ist häufig hier.“ oder so. Leider ohne präzisere Informationen. Immerhin sprach niemand negativ über ihn.

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