So etwas wie ein Loblied

Normalsterbliche Erwachsene schlafen um diese Uhrzeit, dachte ich mir und grinste. Ich war müde und geschafft. Die letzten Tage hatten es nicht an Anstrengung mangeln lassen, jedoch im Gegenzug nicht ausreichend Schlaf geboten, um meiner wachsenden Erschöpfung Herr zu werden. Ich sollte schlafen, dachte ich mir und grinste erneut. Schließlich war ich gerade dabei, mir Schuhe anzuziehen.

Freitag Nacht um eins. Eigentlich ein guter Zeitpunkt. Um auszugehen, das Nachtleben zu erfahren. Oder einfach um zu schlafen. Ich griff nach meinem Rucksack, fand Portemonaie und Schlüsselbund und verließ die Wohnung. Das Treppenhaus war finster, und im Dunkeln lief ich die Stufen herab.

Ich fühlte mich matt, weich irgendwie, und hätte ich mich in ein Bett gelegt, so wäre ich innerhalb weniger Sekunden in tiefste Träume versunken. Mein Fahrrad stand auf dem Hof, wartete. Um diese Uhrzeit auf öffentliche Verkehrsmittel zu warten, hätte in elende Warterei gemündet. Und vielleicht wäre ich sogar an der Haltestelle eingschlafen.

Es regnete nicht, obwohl ich fest damit gerechnet hatte. Obwohl ich bereit gewesen war, durch strömendes Nass zu fahren. In meinem Bauch rumorte der Liter Cola, den ich wenige Minuten zuvor konsumiert hatte. Keine gute Kombination, dachte ich, lähmende Müdigkeit und koffeiniertes Erfrischungsgetränk. Denn anstatt sich gegenseitig auszulöschen, ergänzten sich diese zwei Komponenten zu einem unwirklichen Gefühl von Trunkenheit.

Ich sollte schlafen, dachte ich und schwang mich aufs Rad. Der warme Sommerwind fegte mir ins Gesicht, und ich genoss es, durch die leeren Straßen zu rasen. Vermutlich hätte ich das Fahrradlicht anschalten sollten, doch das kümmerte mich nicht. Mein Ziel war nicht fern, und mein Weg führte mitten durch kleinstraßiges Wohngebiet.

Die Zeit verflog zu rasch. Als die Packstation vor meinen Augen auftauchte, glaubte ich einer Täuschung aufgesessen zu sein. So schnell?

Ich zückte die goldene Karte und hatte keine Mühe, mich an meine PIN zu erinnern. Nicht Christoph Kolumbus; nicht 1492. Meine Merkhilfe war unnütz und nützlich zugleich, und nur wenige Augenblicke später hielt ich mein Paket in der Hand.

Natürlich, es ist Unrecht, dass die Post persönlichen Service durch Automaten ersetzt, dass womöglich Arbeitsplätze verloren gingen, bloß weil es preiswerter für das Unternehmen war, Automaten zu betreiben als Menschen zu beschäftigen. Und doch: In diesem Augenblick war ich bereit, eine Ode zu schreiben, an Loblied auf die Packstation zu singen, eine Hymne komponieren, in der ich pries, was da gelb und klobig vor mir aufragte.

Denn nicht nur, dass ich sowohl per Mail als auch per SMS benachrichtigt wurde, dass ich nicht erst nach Hause fahren musste, um dort im Briefkasten eine Mitteilung zu finden, die ein erneutes Losfahren erwirkte [Aber nicht vor 16.30 Uhr desselben Tages!], nicht nur, dass ich nach bis in die Abendstunden gehender Arbeit keinen Grund hatte, mich über idiotische Postfiliaenöffnungszeiten zu ärgern. Nein, ich konnte auch trotz Doppelbenachrichtigung vergessen, bei der Packstation vorbeizufahren und mein Paket abzuholen; ich konnte heimkehren und mich erst Stunden später an das Geschickte erinnern, dass irgendwo in einem Metallcontainer auf mich wartete; ich konnte mich nachts um eins aufs Rad schwingen, durch leere Straßen sausen und völlig übermüdet mein Paket in Empfang nehmen; ich konnte mit zusätzlicher Euphorie bestückt nach Hause fahren, mich aller Sachen entledigen und kurz bevor mir die Augenlider tatsächlich zufielen, die Pappe aufreißen und deren Inhalt bewundern; ich konnte plötzlich erneutes Wachsein und Lust finden, noch ein wenig zu blättern, zu begutachen, was mir die Post zukommen ließ, was ich in unsinnigem, nächtlichen Überschwang unbedingt abholen musste und was mich nun glücklich und zufrieden einschlafen ließ.

[Im Hintergrund: Depeche Mode – „The Singles 86-98“]

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