Ein älteres Ehepaar

An irgendeiner Haltestelle in Magdeburg sitzend warte ich auf die Straßenbahn. Angeblich verbringt man fünf Jahre seines Lebens allein mit Warten, und ich beschließe, mein Warten nicht als Warten, sondern als Lesen zu definieren. Ich sitze also lesend an irgendeiner Haltestelle in Magdeburg, als sich ein älteres Ehepaar zu mir gesellt. Sie unterhalten sich, beziehungsweise sie imitieren eine Unterhaltung, denn in Wirklichkeit lästern sie. Ich weiß nicht, um wen es geht, doch als eine dicke Frau an uns vorbeiläuft, deren Antlitz große Ähnlichkeiten mit dem Jabba the Hutts aufweist, schweigen sie kurz, lassen sie passieren, blicken ihr hinterher und reden dann weiter. Ich höre etwas von Scheidung und denke „Schhhhh…!“, denn ihr Versuch zu flüstern ist tatsächlich nur ein Versuch. Insbesondere der ältere Herr mit seiner tiefen Brummstimme scheint außerstande zu sein, dezibelarme Worte von sich zu geben, ist sich jedoch dessen nicht bewusst. Die dicke Frau verzieht das ohnehin verzogene Gesicht noch ein wenig mehr und geht wie zufällig noch ein paar Schritte weiter. Das ältere Ehepaar lässt sich nicht irritieren. Scheidung, jaja, Scheidung. Ja, die ist geschieden. Ich lese.

Zwar bin ich Freund des Straßenbahnfahrens, aber Haltestellen mag ich nicht. Ich mag nicht die stählernen Bänke, die niemals bequem und meistens zu kalt sind, mag nicht die rauchenden Mitwartenden, mag nicht, immer wieder aufzusehen, ob denn meine Bahn bereits eingetroffen ist. Diese Haltestelle ist besonders schlimm, denn ihr Blickfeld ist immens. Ohne große Schwierigkeiten kann ich eine Straßenbahn erkennen, wenn sie noch zwei Haltestellen von mir entfernt ist. Wenn ich also keine Straßenbahn sehe, heißt das, dass ich mich nicht nur ein bisschen, sondern noch eine geraume Weile zu gedulden habe. Das stört mich, und ich wehre mich gegen die Versuchung, hin und wieder die Gleise nach einer sich nähernden Bahn zu prüfen. Ich presse meine Blicke in mein Buch und versuche, die Außenwelt draußen zu lassen.

Als eine Bahn sich nähert, beginnt die Diskussion. „Die nützt uns nichts.“ „Nein, die biegt doch ab.“ „Nee, die fährt doch da lang.“ „Wir nehmen die nächste.“ „Die hier bringt uns ja gar nichts.“ Die beiden Rentner sind derselben Meinung, doch ihr Tonfall lässt das nicht erahnen. Gespannt erwarte ich eine Eskalation des „Streits“, aber als die Bahn unbestiegen davonfährt, schweigt das Paar. Schließlich ist auch die Jabba-Frau verschwunden. Der Mann setzt eine Miene auf, die zeigt, dass er sowieso die ganze Zeit Recht gehabt hat und dennoch großmütig die Meinung seiner Frau akzeptiert. Die Frau starrt in die Richtung, aus der die nächste Bahn kommen wird.

„Ist sie das?“, höre ich sie nach einer Weile fragen. „Ja. Nee.“, antwortet ihr Mann und versucht, die Straßenbahn in der Ferne zu orten. Der Himmel ist grau, und die Bahn ebenso. „Die erkennt man ja gar nicht.“, beschwert sich der Mann. „Normalerweise sind die hell.“, fällt die Frau in denselben Meckertonfall ein. „Bei dem Wetter sieht man die überhaupt nicht.“, ergänzt der Mann, und ich seufze innerlich.

Als die graue Straßenbahn an der Haltestelle einfährt, ist sie ziemlich gut sichtbar. Gut genug jedenfalls, um einzusteigen.