Ohne Termin

Ich hatte keinen Termin, brauchte allerdings auch keinen. Alles, was ich von meiner Hausärztin wollte, war eine Überweisung. Und die wollte ich noch nicht einmal von meiner Hausärztin, sondern von der im Empfangsbereich sitzenden Schwester, der Sprechstundenhilfe, die nun mal das Bürokratische abzuwickeln und die zahlreichen 10-Euro-Scheine in Empfang zu nehmen pflegte. Ich hatte keinen Termin, denn für das Ausstellen einer Überweisung, deren Aufwandsmaximum beim arztseitigen Unterschreiben liegt, benötigt man keinen Termin. Dennoch war es noch früher Morgen, als ich bei der Arztpraxis vorfuhr. Man konnte ja nie wissen.

Und tatsächlich: Es begann bereits. Die ältere Dame, an der ich eben noch vorbeigefahren war, nutzte die Zeit, die ich zum Anschließen meines Fahrrads brauchte, um mit einer für Trippelschritte erstaunlich hohen Geschwindigkeit an mir vorbeizueilen und kraftvoll, fast triumphierend, den Arztpraxis-Klingelknopf zu betätigen. Daraufhin geschah nichts – außer dass die Frau an der Klinke rüttelte, fest entschlossen, die Tür notfalls aus den Angeln zu reißen, wenn sie sich nicht freiwillig ergab. In meinem Kopf flehte die Tür bereits um Erbarmen, als die Omi abließ und mit großer Wucht ein zweites Mal auf den Klingelknopf drückte. Ein Moment der Stille. Nichts passierte. Erneutes Rütteln. Die Tür ging auf.

Ohne den Mann, der auf seinem Weg nach draußen die Tür geöffnet hatte, die Gelegenheit zu geben, ins Freie zu treten, sauste die Omi an ihm vorbei und auf die Arztpraxis zu. Die Verblüffung des Türöffners hielt lange genug an, dass auch ich vorbeiflitzen konnte, und so befand ich mich wenige Augenblicke später in der Arztpraxis, murmelte ein „Morgen.“ in die Runde, das mit gleichartiger Euphorie zurückgenuschelt wurde: „Mrgn.“

Meine Vordrängler-Omi, der ich mittlerweile wachsende Sympathien entgegenbrachte, klammerte sich bereits an den Tresen. Das Sprechstundenhilfe-Vorzimmer war nicht besetzt, doch würde es sicherlich jeden Moment werden. Und dann war es wichtig, die eigene Position gesichert zu wissen.

Es klingelte. Die Sprechstundenhilfe ließ sich nicht blicken und ohne zu zögern oder sich um die fragwürdige Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu kümmern, betätigte die ältere Dame den Tür-Öffnungs-Knopf. Ich schaute wohl fragend, denn sie sah zu mir auf und sagte: „Das habe ich schon öfter gemacht.“ Ich glaubte Stolz aus ihren Augen blitzen zu sehen und lächelte ihr zu.
Als es ein weiteres Mal klingelte und sie ein weiteres Mal auf den entsprechenden Knopf drückte, hielt ich es bereits für normal.

Nach einer Weile des Wartens trat die Sprechstundenhilfe ein und betätigte sie zunächst den Türöffner. Unnötigerweise zwar, aber es war schön, dass sie überhaupt reagierte. Die ältere Frau erklärte ihr Anliegen, zeigte Zettel und Karten vor, und ich sah und hörte weg. Es fällt schwer, diskret zu sein, wenn man weniger als einen halben Meter hinter jemandem steht, doch ich versuchte mein Möglichstes.

Bevor die Sprechstundenhilfe die Omi auffordern konnte, im Wartezimmer Platz zu nehmen, war sie bereits davongeeilt und hatte einen Stuhl besetzt. Ich grinste, wandte mich der Sprechstundenhilfe zu und berichtete von meinem Wunsch nach einer Überweisung. Hinter mir warteten mittlerweile sechs oder sieben Menschen, und ich freute mich darüber, so zeitig eingetroffen zu sein. Außerdem freute ich mich darüber, ihnen einen Gefallen tun zu können, indem ich möglichst wenig Aufwand verursachte. Ungefragt hatte ich nämlich sowohl Chipkarte als auch einen Zehn-Euro-Schein aus meiner Tasche geangelt und auf dem Tresen platziert. Und nur wenige Augenblicke später war der Überweisungsschein ausgedruckt, und die Karte verweilte zusammen mit einer Quittung wieder in meiner Tasche.

‚Dann kann ich ja gehen.’, dachte ich und wollte mich bereits bedanken, als die Sprechstundenhilfe meinte: „Die Frau Doktor muss noch unterschreiben. Nehmen Sie doch solange im Wartezimmer Platz.“

Ich seufzte. Hätte ich Wartezeiten eingeplant, wäre ich mit einem Buch angerückt. Kurz überlegte ich, ob ich mir den Spiegel greifen sollte, der zwischen Bild-Zeitungen und Klatschzeitschriften noch ertragbar schien, doch entschied mich dagegen. Sicher würde ich nur wenige Minuten warten, da bedurfte es keines Börsencrashobamamccainypsilanti-Artikels, um Zeit zu vernichten. Ich setzte mich und versuchte, mir einen Comic auszudenken.

„Wollen Sie?“, wurde ich von links gefragt und erkannte sogleich meine sympathische Vordränglerin. Sie reichte mir den Sportteil ihrer Bild-Zeitung. „Nein, danke.“, antwortete ich lächelnd, jede Bemerkung über die Ekelhaftigkeit ihrer Lektüre vermeidend. Ihr anbietender Arm wich nicht. „Ich hab’s nicht so mit Sport. Und außerdem dauert’s bei mir sowieso nur ein paar Augenblicke. Das lohnt sich gar nicht.“
„Ach so.“, meinte sie und steckte den Papiermüll weg. „Ich dachte nur, weil ihr jungen Männer doch …“

Ich konnte mich nicht entscheiden. Waren ihre Sympathiewerte nun gesunken, weil sie – wie offensichtlich alle anderen Wartenden – Bild las, oder sollte ich sie aufgrund ihrer Freundlichkeit noch mehr mögen? Ich entschied mich für letzteres und dachte wieder an meinen Comic.

Gerade, als sich mir gegenüber eine Frau niederlies und mich verblüffte, indem sie ein Buch aufschlug, trat die Ärztin ins Wartezimmer. „Herr Morast?“, fragte sie, den Überweisungsschein hoch haltend. Ich stand auf, nahm ihr den gewünschten Zettel ab, bedankte mich und ging.