Der alte Frosch

„Und das war so.“, begann der alte Frosch.

Der gesamte Teich, bis vor wenigen Augenblicken mit einem vielstimmigen Quaken befüllt, verstummte innerhalb von vier klitzekleinen Wörtern. Wenn der alte Frosch zu reden begann, lauschte man. Atemlos, falls möglich. Einzig eine vorlaute Grille wählte diesen fast heiligen Auenblick, um inmitten der plötzlich emporwuchernden Stille ein vergnügtes Liedchen anzustimmen. Man vernahm ein rasches Zungenschnalzen, irgendjemand schmatzte kurz, dann war Ruhe. Wirkliche Ruhe.

„Und das war so.“, begann der alte Frosch zu zweiten Mal, sich nun sämtlicher verfügbarer Aufmerksamkeit sicher wissend. Er räusperte sich kurz, doch jeder einzelne der anwesenden Frösche wusste, dass er nicht mit dem Erzählen seiner Geschichte, einer weiteren spannenden Episode seines abenteuerreichen Lebens, beginnen würde, bevor er ein drittes Mal begonnen, ein drittes Mal „Und das war so.“gesagt hatte.

Alle Augen richteten sich auf ihn, den alten Frosch, der vom Alter gezeichnet und doch imposant, einem Froschkönig gleich, auf seinem Stein hockte, dort auf seinem algengrünen Thron, ruhte, als hätte das Universum ihm bereits vor Jahren sämtliche seiner Geheimnisse ins Ohr geflüstert.

„Und das war so.“, begann er ein drittes Mal, und unzähligen Froschmündern entglitt eine Woge in die milde Abendluft hinausgeseufzter Anspannung. Die Geschichte würde nun beginnen, die Welt war an ihrem Platz und alles hatte seine Richtigkeit.

Die tiefe Stimme des Frosches dröhnte angenehm träge aus dem warzigen Maul, als der Alte endlich eine Geschichte preisgab:
„Vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Hüpfer war, bezwang ich einen Storch.“
Ungläubiges Staunen raunte es aus zahllosen Mündern, und der alte Frosch schmunzelte.

Plötzlich brachen riesige Beine durch das Schilf. Ein Schnabel senkte sich, Flügel flatterten und ehe die andächtig lauschenden Frösche sich der Ereignisse bewusst wurden, war ein riesiger Schatten über den Teich davongeglitten und den wenigen Blicken überrascht hinterherblickender Frösche entflohen.

„Der Storch!“, flüsterten die ersten. „Der Storch!“, wisperte alsbald der ganze Teich, von lähmender Furcht erfüllt. „Der Storch!“
„Der Alte!“, hörte man dann jemanden rufen und plötzlich bodelte das Wasser. Der alte Frosch war verschwunden! Der Storch hatte den Alten geraubt!

Frösche hüpften aufgeregt hin und her, quakten des Alten Namen. Einige suchten verzweifelt unter Seerosen und Schilfblättern, als hätte er sich nur versteckt, nur einen Spaß erlaubt. Eine Fröschin tastete in ihrem Unglauben gar Stück für Stück des grünen Thronsteines ab. Der Teich war erfüllt von wirrem Quaken, von herzzerreißend verzweifelten Lauten, von einem Hüpfen und Springen, einem Tauschen und Platschen, einem Hoffen und Suchen.
Doch nirgends gab es eine Spur, und allmählich lähmte Gewissheit alle Glieder: Der Storch hatte ihn geholt!

Längsam verstummte der See. Die Frösche schwiegen, erinnerten sich an den Alten, der immer Rat gewusst, immer eine weitere Geschichte gekannt hatte. „Was nun?“, fragten sich einige, doch niemand wagte zu antworten.

Nacht kroch herbei, und die Frösche zogen sich in ihre Unterschlüpfe zurück, tief in dunklen Gedanken versunken, die auch der im Teich gespiegelte Schein des Sichelmondes nicht zu erhellen vermochte.

Als endlich der Morgen anbrach, begannen die Frösche lustlos ihr Tagwerk. Träge fingen sie Insekten, gedankenlos hüpften sie von Seerose zu Seerose, tauchten in die Tiefen des Wassers, um Augenblicke später unverrichteter Dinge zur Oberfläche zurückzukehren. Hin und wieder sah man einen Frosch nach oben blicken, zum Himmel, dorthin, wo der Storch, der Alte, verschwunden war, doch die Hoffnung war schmal und bar jeder Kraft.

Das Begräbnis währte Stunden. Lieder wurden gesungen, alte Geschichten erzählt, ein riesengroßer Stein in Gedenken an die Weisheit des Alten im Teich versenkt. Alle waren da, und wer fehlte, war nicht weit, hatte sich nur zurückgezogen, um in Abgeschiedenheit eigenen Gedanken zu frönen.

Es war ein Fest, ein stilles zwar, aber dennoch ein Fest, eines, das des alten Frosches würdig war, eines, wie er es selbst wohl am meisten genossen hätte. Denn als alles gegessen, vieles gesagt, einiges gesungen und sogar ein bisschen getanzt worden war, fehlte es nur noch einer kleinen Geschichte, um der Feierlichkeit einen krönenden Abschluss zu schenken.

Da raschelte es im Schilf, und panisch hüpften die Frösche durcheinander. „Der Storch! Der Storch!“, quakten sie und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, sich unter Blättern und Steinen zu verstecken, abzutauchen oder einfach nur so stillzustehen, als wären sie Teil der Landschaft. Noch einmal raschelte es im Schilf, doch nicht der Storch war es, der plötzlich am Rand des Teiches erschien, sondern der Alte, eine weiße Feder in der Hand tragend, mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen.

„Der Alte!“, flüsterten ein paar Frösche erstaunt, und bald schwoll das Flüstern an zu einem vielstimmigen Rufen, zu Freudenschreien und glücklichen Jauchzern. „Der Alte! Der Alte!“

Gemächlichlich hüpfte der Alte auf seinen algengrünen Stein, blähte kurz die Backen und aller Trubel verstummte. Die Frösche, die noch immer nicht fassen konnten, was dort vor ihren Augen geschah, sammelten sich, fanden einander, kamen zur Ruhe und starrten freudig erregt auf den alten Frosch, der nun damit begann, die allseits bekannten Worte zu zu formen, jene Worte, die ein jeder Frosch, ob groß, ob klein, sich so sehr gewünscht hatte:
„Und das war so.“, sprach der alte Frosch und legte die Storchenfeder beiseite.

Diesmal begann er die Geschichte sofort.
Vorsichtshalber.

Waldspaziergang

Ich wanderte durch den Wald und fing die letzten Sonnenstrahlen des Tages mit meinem Lächeln. Vögel zwitscherten um mich herum, und hin und wieder erfreute mich ein Specht mit hungriger Holzklopferei. ‚Toi toi toi.‘, schmunzelte ich und bückte mich, um nach Walderdbeeren Ausschau zu halten. Plötzlich vibrierte der Boden. Altes Laub raschelte, trockene Äste suchten sich neue Stellungen, das Lärmen der Vögel setzte aus.
„Was..?, wollte ich fragen, dann sah ich es: Ein Eichhörnchen! Nur drei oder vier Meter von mir entfernt stand es auf beiden Hinterfüßen und starrte mich an. Ich starrte zurück, hatte ich doch noch nicht viele schwarze Eichhörnchen gesehen. Vor allem keine, die mehr als doppelt so groß waren wie ich.
‚Ein Rieseneichhörnchen!‘, dachte ich.
„Ein Eichhorn!“, rief ich und überlegte, ob es besser sei, reglos stehen zu bleiben oder panisch davonzueilen.
„Kein Eichhorn.“, sagte da das schwarze Eichhorn, und seine Stimme klang überraschend weich. ‚Als hätte man den weichen Puschelschwanz zu Tönen geformt.‘, dachte ich.
„Kein Eichhorn.“, wiederholte das Eichhorn mit sanfter Stimme. Ein fragender Blick bemächtigte sich meiner und vertrieb auch noch das letzte Quentchen Angst.
„Ich bin ein Eichhörnchen.“, meinte das Eichhorn, das anscheinend ein Eichhörnchen war.
„Aber… aber…“, stotterte ich. „Du bist riesig!“
„Bin ich nicht!“, antwortete das Eichhörnchen trotzig. „Ich bin ein Eichhörnchen.“
„Bist du dir sicher?“, zweifelte ich.
„Ja.“, meinte das riesige Eichhörnchen, nickte recht putzig und ergänzte: „DAS ist ein Eichhorn!“
Es wies mit dem Puschelschwanz nach links, von wo ich ein Grollen vernahm, wie von rasch nahendem Donner.
„Mami!!“, rief das schwarze Viermetereichhörnchen erfreut und sprang seiner Mutter auf die Arme.