Der verrückte Alte

Der alte Mann humpelte die Straße entlang. Als ich mich näherte, glaubte ich ein kehliges Kichern zu vernehmen fast lautlos, das durch die zahlreichen Zahnlücken seines Mundes ins Freie drängte. Der alte Mann kicherte, und als ich ihm in die Augen blickte, wurde ich eines schalkhaften Funkelns gewahr, eines Blitzens, das den alten Mann sogleich in jene Schublade steckte, die seit jeher verrückten Alten zugeschrieben war.

Doch der alte Mann war nicht verrückt. Er war fröhlich. Alle paar Meter wechselte er sein Humpeln aus, ließ es von einem Bein auf das andere wandern und zog mal diesen, mal jenen Fuß nach. Ginge es nach ihm, erklärte mir der alte Mann kichernd, würde er beide Füße nachziehen. Alle beide hätten es verdient, meinte er, seien alt genug, um sich hin und wieder eine Pause zu gönnen. Mein Humpeln ist also kein echtes Humpeln, kicherte er vergnügt.

Das ist so wie mit meinen Zahnlücken, führte er dann weiter aus und entblößte die wenigen Stummel, die ihm in seiner Mundhöhle noch verblieben waren. Die Lücken sind längst keine Lücken mehr, keine Ausnahmen zwischen Reihen strammstehender Zähne. Nein, die Zähne sind die Ausnahme, kämpfen tapfer mit jedem Stückchen Essen, stehen noch immer ihren Mann, doch sind eigentlich alt genug, um pausieren zu dürfen.

Ein Humpeln für Zähne, das wärs!, rief der alte Mann dann aus und warf seine dürren Arme in die Luft. Dann lachte er, und insgeheim zog ich die Schublade „Verrückte Alte“ wieder auf, um ihn samt seines Humpelns hineinzustopfen.

Ich weiß, was du jetzt denkst, kicherte der Alte und klopfte seine Taschen ab, ich bin nicht verrückt! Er klopfte noch ein wenig weiter, als würde er etwas Wichtiges suchen. Und ich kann es beweisen, rief er dann, und aus seinem zahnlosen Grinsen wurde ein triumphierendes, zahnloses Grinsen. Er steckte seine Hand tief in die linke Jackentasche, wühlte ein wenig und holte eine Quietscheente hervor. Hier, sagte er dann und reichte mir das gelbe Plastiktier, das ist mein Nichtverrücktenausweis.

Und während ich verblüfft auf die Ente in meiner Hand startrte, humpelte er lachend von dannen.

Und vielleicht, überlege ich mir, während ein trauriges Lächeln meine Lippen formt, ist es Liebe selbst, die mich umgarnt, die um mich schwebt, als wäre sie Aura, als wäre sie eigenständiges Wesen, körperlos und doch von steter Präsenz. Formlos, ziellos streunt sie durch mein Dasein, bildet Zuversicht und Hoffnung, malt mir Freude über Winzigkeiten ins Gemüt, lässt mich Schönheit suchen und entdecken. Das Leben, weiß ich dann, wenn Liebe sich erneut schwebend durch meine Sinne flüsterte, ist angefüllt mit Pracht, mit Anmut, die für meine Sinne zuweilen kaum ertragbar ist. Und dann halte ich inne, atme tief jeden einzelnen dieser güldenen Momente und brüte das Leben in mir zu Wonne. Wie schön du bist, denke ich, meine Dich, meine mich, meine den Grashalm zu meinen Füßen, den Käfer, der auf ihm sitzt, den wehenden Wind, die flüchtenden Wolken. Wie schön du bist, Welt, denke ich und seufze, unfähig, all das in meinem Herzen zu bewahren, was mich lieben lässt.

Und so wandle ich durch die Tage, umgeistert von der Liebe, fülle sie in mein Lächeln und verschenke sie, preise Lob, gebäre Gutes. Von Liebe durchflutet, von Liebe umwoben, von Liebe, die tausend Namen trägt.

Bis irgendwann, eines Tages, Sie erscheint und sich mein Sehnen und Seufzen, mein Träumen und Wünschen, an sie haftet, um Sie rotiert, als wäre ein neuer Mittelpunkt geboren. Meine Liebe formt sich zu Ihrem Leib, zu Ihren Gedanken, Ihrem Lächeln, und ich bin bereit, mich vollends in Ihr zu verlieren. Für immer.

Und im Angesicht meiner Liebe, der Liebe, die einen Namen fand, strahlt Sie, Sie, die ich begehre, Sie, die nun zum Sinn mir wird, heller, näher, gleißt durch all mein Fühlen, glimmt sich süß durch jeden Atemzug, wärmt mich weich mit Sucht. Wie schön Du bist, denke ich dann, und flüstere Ihren Namen, sanft, mir seiner Kostbarkeit bewusst.
Und wenn Sie lächelt, wenn Sie selber liebt, wenn Sie mich in Ihren Küssen findet, dann blüht die Liebe, verschlingt mich, reißt mich fort, tiefer in Sie hinein, lässt das All leuchten und jede Welt zu Licht erblühen.

Meine Liebe, an Ihren Leib, an Ihr Haar, gehaftet, funkelt wild und träumend, und ich begreife, des Begreifens nicht länger fähig zu sein, versinke in der Schönheit, die sich mir erschließt, die sprießt und gedeiht, sich auf jeden Schritt, jeden Regentropfen, jede Silbe, erstreckt, versinke im Jetzt, das alle Ewigkeiten vereint.

Wenn Sie dann geht, geht Sie nie. Meine Liebe, wieder formloses Wesen, Aura meiner selbst, Hauch aus Hoffnung, flutet sich um meine Sinne, verkriecht sich in die Geborgenheit meines Innenichs, lässt Welten unbemerkt vorüberziehen, auf der Suche nach Wegen, nach Wünschen, nach Wollen. Doch wenn Sie geht, dann geht Sie nie. Nie kann Sie sich aller Partikel erwehren, nie von all meinen Träumen befreien, sich niemals vollends meinen Gedanken entziehen. Denn zwischen berstenden Welten sehe ich noch immer meine Liebe an Ihr funkeln, letzter Zeuge des Möglichen, jenes Strahlen, das abzustreifen höchstens Zeit imstande wäre. Flackernd entzieht Sie sich meiner Küsse, klaubt mir Ihren Namen von der Zunge, löst Ihr Lächeln aus meinem Gesicht. Und doch kann ich Sie funkeln sehen, spüre das Glitzern meiner Liebe auf Ihrer Haut, irgendwo dort, in fernster Fremde.

Und ich finde mich, werde mich immer finden. Nach Tagen und Jahren wird die Liebe aus meinen Innereien bersten, wird sich wie Schleier vor meine Augen legen, wird meine Sinne mit Drang benetzen. Und plötzlich höre ich das Leben summen, sehe ich Welten flüstern, spüre ich Pfade unter meinen Füßen wogen, als wollten sie mich leiten. Möglichkeiten bemächtigen sich meiner, und streichelnd umflutet mich der Liebe seidener Glanz. Wie könnte ich widerstehen, könnte ich mich gegen die Schönheit verwehren, die mich plötzlich wiederfindet, die mir in die Augen fließt, mein Herz befüllt, mich aller Finsternisse entreißt?

Ich schmunzle, sehe mich lieben, sehe mein Sehnen Namen formen, neue, alte, sehe lichtene Nebel aus meiner Brust entwachsen, die Welt umarmen, als wartete sie nur auf mich, nur auf mein Sehnen, darauf, dass ich irgendwann innehalte, irgendwann zu Träumen erwache, irgendwann finde. Und wieder wird mein Licht sich um Ihr Antlitz betten, und wieder wird Ihr Name zur kostbarsten Welt, wieder Ihr Lächeln zu meiner Liebe Leib.

Wieder und für alle Zeiten.