Schnutenfrau und Messermann

Nachdem die S-Bahn es wagte, nur zwei Minuten vor Abfahrt meines ICEs aus dem Bahnhof Stuttgart in selbigen einzufahren und mir somit ermöglichte, samt Gepäck in Windeseile zwei Etagen voller Treppen ersteigend längst überfälliges Konditionstraining zu absolvieren, war ich nun froh zu sitzen. Hier, auf meinem reservierten Platz im Zweite-Klasse-Abteil des ICEs nach Frankfurt.
Eine Reservierung wäre nicht nötig gewesen, stellte ich beim Umsehen fest, doch allein der Umstand, dass ich den einzigen Einzelplatz bekommen hatte und mit niemandem eine harndrangbedingte Aufsteh-Bekanntschaft eingehen brauchte, war den finanziellen Zusatzaufwand wert. Und natürlich die Aussicht. Denn auf der anderen Seite des Ganges hatte sich ein älteres Ehepaar um einen Tisch herum ausgebreitet und benahm sich beobachtungswürdig.

Der Ehemann las Bild. Dazu hatte er den größten Teil des Papiers auf dem Tisch zurechtgelegt und diesen somit völlig in Beschlag genommen. Einen weiteren Teil hielt er in den Händen. Der ihm gegenübersitzenden Ehefrau war also nicht nur der Blick auf das Gesicht ihres Gatten, sondern auch jegliche Benutzung des eigentlich für vier Personen ausgelegten Tisches verwehrt.
Bei so viel ehegattiger Ignoranz tat sie recht daran, eine Schnute zu ziehen.
Und das nicht nur einmal. Als würde sie für ein Shootoing facebookiger Duckfaces posieren, formte sich ihr Mund im Sekundentakt zu eben erwähnter Schnute, zogen sich die Lippen zur Spitzmäuligkeit zusammen, um sich gleich darauf wieder gen Normalität zu entspannen. Ein Tick, den ich zugleich störend und faszinierend fand.
Wie mochte er wohl entstanden sein?, fragte ich mich gerade, da entnahm die Schnutenfrau einer Bäckerstüte ein mit Käse belegtes Baguette. Sie richtete ein paar Wörter an ihren beschäftigt Bilder und Textfragmente betrachtenden Mann, und dieser kramte aus den Tiefen seiner Hose ein Schweizer Taschenmesser hervor.
Na klar, dachte ich, was für ein Rollenverteilungsklischee. Der Mann darf den gesamten Platz belegen und hat die Obhut über die gefährliche Waffe Taschenmesser. Die Frau hingegen kümmert sich um das Futter.
Und das tat sie. Die Schnutenfrau kreierte eine zeitunsgfreie Stelle auf dem Tisch und schnitt das Baguette erst längs und dann quer durch. Der Mann bekam zwei Stücke gereicht, blieb jedoch trotz Nahrungsaufnahme in seine Lektüre vertieft. Die Frau hingegen teilte den verbliebenen Rest noch einmal. Vielleicht war ihr Schnutenmund zu schmal.
Das Taschenmesser leistete schlechte Arbeit. Das Zerteilen sah eher aus wie eine Opferung, ein Ritual, das begangen werden musste, um die Zuggeister gnädig zu stimmen. Das würde auch erklären, warum die beiden überhaupt etwas essen musste, nur wenige Minuten von Einsteigebahnhof entfernt , so kurz nach dem Aufstehen und recht wahrscheinlichen Frühstück, das ich vermutlich sogar zum ungefähr gleichen Zeitpunkt vollzogen hatte wie diese beiden, ihr Mahl geistesabwesend hinunterschlingenden Mitfahrer.
Die Bäckerstüte wurde geräuschvoll zerknüllt, die Zeitung, die den Weg zum tischeigenen Mülleimer versperrte, kurz angehoben – und schon war jede Spur der unansehnlichen Mahlzeit beseitigt. Neue Spuren mussten her, diesmal in Form von Zitrusfruchtschalen. Die Schnutenfrau, die sich soeben um die Tischreinigung gekümmert hatte, blieb ihrem Rollenbild treu und zauberte nun eine Orange hervor, die es umständlich zuzubereiten galt.
Erst als der Mann mit geschälten, von Fäden und Kernen befreiten, einzeln zerpflückten Orangenstückchen versorgt war, gab sie Ruhe, verzog in unregelmäßigen Abständen den Mund und beseitigte die orangen Obsthinterlassenschaften. Das gesamte Abteil roch nun, was die beiden gerade verspeistet hatten – und ich fühlte ein wenig Dankbarkeit dafür, dass es kein penibel zerkleinerter Döner Kebab gewesen war.
Frankfurt nahte. Doch bevor die Stadt eine Chance hatte, ihre Großbauten neben unseren Fenstern entlanggleiten zu lassen, bevor es dem Zugbegleiter gelungen war, auf die in wenigen Minuten stattfindende dortige Ankunft hinzuweisen, war das Ehepaar aufgesprungen, angezogen und gen Tür gespurtet, wo sie dann standen und den Gang mit ihrer minutenlang ausharrenden Anwesenheit füllten.

Als der Zug schließlich in den Bahnhof einfuhr, stand auch ich auf, schnappte mir meine Tasche und verließ das Abteil. Es roch noch immer nach Orange.