Bleib

„Und? Bleibt er liegen?“, fragt Mutter am Telefon, und fast bin ich geneigt, „Ja.“ zu antworten. Doch ich zögere.

An meinem Bürofenster stürmt der Schnee vorbei, unzählige Flocken jagen einander, finden einander, befüllen die längst gilbe, von Herbstkrähen auf Nahrungssuche zerhackte Rasenfläche mit einem Weiß, das mein Lächeln weckt. Und es hört nicht auf. Stundenlang schneit es, als müsste es jede Erinnerung an Frühling und Sommer unter einer Schicht verformten Wassers verdecken.

„Hier hat es auch geschneit.“, berichtet Mutter, 500 Kilometer entfernt. Doch der Schnee blieb nicht lange, paarte sich mit Regen, malte grimmige Gesichter auf Weihnachtsgeschenke suchende Passanten und verschwand.

Doch hier, vor meinem Fenster, schneit es. Ununterbrochen. Die Schneckdecke auf dem ehemaligen Rasen, auf dem Dach des sechsten Stockwerkes, wächst und gedeiht, und kein Schritt wagt es, ihre Jungfräulichkeit zu schänden.

„Bleibt er liegen?“, fragt Mutter, und „Ja.“ liegt auf meiner Zunge. Ja, hier bleibt er, lässt mich bei jedem Blick grinsen, mein inneres Kind vor Freude hüpfen. Ja, hier bleibt er, der Schnee, der mich plötzlich inspiriert, zu Gedichten, Fotos, Gemälden drängt. Ja, hier bleibt er.

„Nein.“, antworte ich schließlich. Auf den Straßen bleibt nichts. Auf den Wegen bleibt nichts. Zu warm ist es noch, als dass anderes als Schneematsch entstehen kann, der schließlich auch verschwinden wird.

„Nein.“, antworte ich. „Er bleibt nicht liegen.“ Selbst wenn er könnte, ergänze ich im Geiste. Schließlich schneit es hier im Schwabenländle, wo Kehrwoche oberste Bürgerpflicht ist, und jede Schneeflocke, noch bevor sie den Boden erreicht, zusammen mit einem letzten verirrten Herbstlaubblatt vom Weg entfernt wird.

Als ich nach Hause laufe, ist vom stundenlangen Schneefall kaum noch etwas übrig. Nur auf den Wiesen liegt etwas Weiß und hofft darauf, noch ein wenig liegen bleiben zu dürfen.