Auf dem Rasen

Der Rasen sah verlockend aus. Rasch hatte ich mich meiner Schuhe und meiner Socken entledigt und lief über das frische Grün, auf dem noch letzte Morgentautropfen schimmerten.
Plötzlich bebte der Boden. Ein kleiner Haufen entstand, wo sich eben noch ein Grasbüschel befunden hatte, und wuchs langsam in die Höhe. Dann hielt er inne, wackelte kurz und spuckte ein kleines schwarzes Wesen aus. Das Wesen war so klein, dass es ohne Probleme Platz auf meiner Handfläche gefunden hätte, wäre es es nicht sichtlich zufrieden mit dem von ihm soeben errichteten Erdhaufen gewesen.
„Ein Maulwurf!“, rief ich verzückt, und der Maulwurf dehnte und streckte sich wohlig, bevor er mir mit seinen Schaufelhänden zuwinkte: „Guten Morgen!“
Er war mir sofort sympathisch.
„Was machst du hier?“, wollte ich wissen. Ich war schon immer ein wenig neugierig gewesen, doch die Gegenwart von Maulwürfen schien diese Eigenschaft üblicherweise zu verstärken.
„Machst du Urlaub?“
Der Maulwurf schüttelte mit dem Kopf. Seine Äuglein waren fest zusammengekniffen, und nur seine Nasenspitze schien sich in ständige Bewegungs zu befinden.
„Ich zaubere.“, sagte er, und wenn ich nicht gewusst hätte, dass Maulwürfe nicht kichern, hätte ich geglaubt, dass er kicherte.
„Du zauberst?“, fragte ich, denn meine Neugier war gewachsen wie ein Maulwurfshügel auf einer Frühlingswiese.
„Ich zaubere.“, wiederholte der Maulwurf. „Beziehungsweise: Ich verwandle.“
„Du verwandelst?“, fragte ich und wollte vor Neugier fast platzen.
„Ich verwandle Löcher in Tunnel.“, erklärte der Maulwurf.
„Wie geht das denn?“, wollte ich wissen.
Der Maulwurf grub sich noch ein wenig aus seinem Hügel hinaus und setzte sich dann bequem auf die weiche Erde.
„Ich grabe Löcher. Ich grabe mich in die Erde ein und schaufle mir einen Gang. Egal, wie tief oder lang meine Gänge sind, letztlich sind es immer nur Löcher, die ich grabe.“
Ich nickte zustimmend.
„Doch sobald ich wieder zur Erde zurückkehre, sobald ich die Erdkruste durchbreche und ans Tageslicht gelange, wird aus dem Loch ein Tunnel.“
Der Maulwurf seufzte zufrieden.
„Es ist Magie.“
Ich dachte kurz darüber nach, aber tausend Fragen brannten auf meinen Lippen.
„Aber du kannst doch nichts sehen! Wie orientierst du dich denn?“
Der Maulwurf lachte kurz.
„Ich kann hören. Ich kann fühlen. Und vor allem kann ich riechen. Wenn ich richtig rieche, weiß ich sofort, wo ich bin.“
„Wirklich?“, fragte ich erstaunt.
„Und nicht nur das. Ich rieche, dass du keine Socken trägst. Ich rieche mindestens 47 Tautropfen auf dieser Wiese. Ich rieche, dass du gerade zur Arbeit gehst. Und ich rieche, dass dieses Gespräch bald beendet sein wird.“
„Huiuiui.“ Ich war verblüfft. „Also kannst du auch riechen, wenn sich ein Loch in einen Tunnel verwandelt?“
Der Maulwurf nickte langsam.
„Ich rieche das Licht.“, sagte er verträumt. „Es ist der vielleicht schönste Geruch von allen.“
Ich war noch immer neugierig. „Und wie riecht Licht?“
„Wie Musik.“, sagte der Maulwurf, grinste und verschwand in seinem Hügel.