Raus

Als ich aus der Haustür trat, schaute Frau Kantner aus dem Fenster, Ellenbogen auf ein schmales Kissen gebettet, den Kopf weit aus dem Rahmen gestreckt.
So wie sie es immer tat.
Misstrauen hatte sich jahrzehntelang in ihr Gesicht gegraben, hatte tiefe Furchen in ihrer Stirn hinterlassen, unter der nun kritische Blicke jede meiner Bewegungen argwöhnisch verfolgten.
Doch ich hatte meinen Müll sorgsam getrennt, hatte die Hausordnung pünktlich ausgeführt, hatte sogar darauf geachtet, die Haustür langsam hinter mir zuzuziehen, um keinen störenden Lärm entstehen zu lassen. Ich hatte mich ordnungsgemäß verhalten.
So wie ich es immer tat.

Durch meine Gedanken tollten Formeln und Regeln, mathematische Gesetze, physikalische Prinzipien, komplexe Probleme, mit denen ich mich nun tagelang auseinandergesetzt hatte, ohne der Lösung näher gekommen zu sein. Ich hatte analysiert, hatte vierunddreißig Seiten voller Notizen erstellt und Blatt für Blatt dem Aktenvernichter übergeben, hatte mich mehr als sechs Stunden lang durch das Internet gekämpft, war jeder noch so schwachen Spur in jede mögliche Sackgasse gefolgt, hatte mich durch insgesamt vierzehn unnütze Bibliotheksbücher gewälzt, hatte zwei Bleistifte und einen Kugelschreiber mit den Abdrücken meiner Zähne übersät, hatte selbst die Kartons der beiden gelieferten Pizze Funghi mit neuen Ansätzen und Lösungsmöglichkeiten bekritzelt und anschließend der korrekten Mülltonne übergeben. Es gab zwölf neue Dateien auf meinem Rechner, ich hatte neun Emails und zweiundvierzig Textnachrichten geschrieben und empfangen, doch keine von ihnen hatte mich vorangebracht. Ich hatte sogar mit meinem Vater telefoniert und ihn um neue Ideen gefragt, aber seine Gedanken steckten irgendwo in den prächtigen Blüten seines Rosengartens, und der einzige Rat, den er mir geben konnte, war: „Geh mal raus.“
Also ging ich raus.

Ich hatte meinen Rechner zugeklappt, Mantel und Schuhe angezogen und war rausgegangen. Ich hatte den Schlüssel doppelt im Schloss gedreht, so wie ich es immer tat, war fünf Stufen gelaufen, umgedreht, wieder in die Wohnung gestürzt, hatte den Rechner aufgeklappt und einen weiteren, neuen Gedanken verfolgen und kurz darauf mit Ernüchterung abwürgen müssen, hatte gerade erneut die Wohnungstür erreicht, als mir eine weitere Idee kam, hatte eine halbe Seite im Notizbuch mit Skizzen und Stichpunkten befüllt und schließlich kopfschüttelnd durchgestrichen, war wieder aufgestanden und hatte die Wohnung verlassen, war die Treppen nach unten gegangen, den Kopf tief in Denkwelten getaucht, aus denen es kein Entkommen zu geben schien, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, als könnten sie dort eine Lösung für mein Problem finden, als gäbe es dort einen Ansatz, den ich bisher nicht verfolgt hatte.

Ich hatte die Haustür langsam hinter mir zugezogen, so wie ich es immer tat, hatte zu Frau Kantner hinaufgenickt, ohne zu wissen, ob sie wirklich dort saß und alles beobachtete, was vor ihrem Hauseingang geschah.
Doch sie saß dort, beobachtete den unrasierten Mittvierziger, dessen weichendes Haar heute noch keinen Kamm gesehen hatte und dessen Augen Schlaf vermissten, beobachtete ihn, wie er sich noch tiefer in sich zusammenfaltete und von den eigenen Schritten die Straße entlang tragen ließ, ohne dass er ein Ziel zu haben schien.

Meine Füße kannten den Weg. Ich spürte Frau Kantners bohrenden Blick im Nacken, aber kümmerte mich nicht. Ich hatte nichts falsch gemacht, hatte mich ordnungsgemäß verhalten, hatte sogar beim Überqueren der Straße nach links, rechts und wieder nach links geschaut, obwohl hier durchschnittlich nur achtzehn Autos pro Tag vorbeifuhren.

„Die Frage ist …“, murmelte ich vor mich hin, erzeugte weitere Schritte, legte Entfernung zurück, ohne zu wissen, wohin ich unterwegs war.
„Das Problem ist…“, dachte ich laut, und ließ das Asphalt unter meinen Blicken vorbeistreichen.
„Die Sache ist die…“, begann ich, mir selbst meine Probleme zu erklären. Nur gab es nicht nur eine Sache, ein Ding, das einer Lösung bedurfte. Ich hing an einem Konstrukt aus ineinander verschachtelten Unmöglichkeiten, und irgendwo zwischendrin wartete eine Lösung darauf, von mir entdeckt zu werden.
Ich seufzte, schüttelte mit dem Kopf, seufzte erneut.
Vielleicht gab es ja gar keine Lösung. Vielleicht war ich längst festgerannt, steckte in gedanklichen Sackgassen fest, irgendwo, wo keine Formel, keine Gleichung der Welt, einen Ausweg bot.

Ich blickte auf, sah mich um.
„Wo bin ich hier?“
Meine Füße standen auf steinernem Boden, meine Hände lagen auf dem Rest einer Mauer. Wind hob mein Haar zu einer absurden Krone, und meine Blicke ragten weit über die gesamte Stadt.
„Ach, hier bin ich.“, sagte ich und lächelte fast.
Ein alter Aussichtspunkt, eine gesicherte Ruine, Innehaltepunkt für spezierende Fußgänger, abendlicher Treffpunkt für unbescholten trinkende und rauchende Jugendliche, hatte mich eingefangen und bot mir nun ein atemberaubend schönes Panorama über den Talkessel, in den sich die Innenstadt schmiegte. Irgendwo dort lag auch meine Wohnung, lag auch mein Notizbuch, lag vielleicht die Lösung, die sich mir die ganze Zeit verwehrte.

Ich seufzte, wandte den Blick ab, sah nach oben.
Drei Wolken, zwei klein und unscheinbar, eine groß, grau und gewaltig, thronten über dem Kessel, ließen sich von mindestens sieben Vögeln verschiedener Art umkreisen. Nein, nicht ‚umkreisen‘, korrigierte ich mich. Die Vögel zogen keine perfekten Kreise mit immerwährend identischem Radius. Vielmehr waren es Schleifen, einfache und zugleich faszinierend komplexe Muster, die die kleinen Flügelpaare in den Himmel schrieben.

Mein halbes Lächeln wuchs zu einem ganzen, als ich dem Treiben der Flatterkreaturen folgte, als ich ihren luftenen Pfaden hinterhereilte, als könnte ich bei ihnen verweilen, könnte ihnen folgen, mit ihnen über Stadt und Bergkranz gleiten, Schleifen in das Oben zeichnen, als könnte ich mich kurz von meinem Körper, meinem prall gefüllten Schädel, lösen, einfach die Flügel ausbreiten und den lauen Winden folgend allen Berechnungen, allen Methoden und Lösungsansätzen, Lebewohl sagen.

„Über den Wolken…“, dachte ich laut und fühlte mich leicht, leichter als ich mich fühlen sollte, fühlte mich, als zöge die Gravitation, die Erde mit ihrer gewaltigen Masse, nicht länger an meinem Leib, als hätte das Unten keine Macht mehr über mich.

Mein Lachen war ein Zwitschern, und ich hob meine Füße näher an meinen Körper. Meine Schwingen drückten mich nach oben, weiter und weiter, funkelnd im Sonnenweiß, leicht und doch kraftvoll. Formen verschoben sich, und das Wesen der Straßen und Häuser, der Kanten und Geraden, verlor sich in meinen Kreisen und Spiralen, entwand sich der kargen Zweidimensionalität, entließ mich aus mir selbst.

„Geh doch mal raus“, hatte Vater gesagt, doch ich ging nicht. Ich flog. Raus und weiter hinaus, hoch und höher, hinab, hinauf, ins Freie, ins Leere, ins Blau des Himmels.

Und dann durchquerte ich die Wolken, die kleinen, streichelnd sanften, dann die große, tumbe, graue, die mich mit kühler Feuchte benetzte, Tropfen auf meinem Leib hinterließ wie Küsse, durchquerte die Winde, durchquerte alle Himmel.

Als ich die Augen öffnete, stand ich noch immer hier, Schuhe auf grauem Stein, Hände auf den Resten der Mauer, das Gesicht in ein breites Lächeln gehüllt. Meine Füße trugen mich zurück, heimwärts, nach unten, doch mein Kopf verweilte noch immer dort oben, inmitten der gleitenden Vögel, zwischen Wolkennass und Sonnenglitzern.

„Hat es geregnet?“, fragte Frau Kantner neugierig, als ich schließlich die Haustür öffnete.
„Nein.“, sagte ich, doch in meinem Haar kicherten die Tropfen.

Selfie

Hier ist ein kleines Selbstportrait, das ich unlängst anfertigte. Vielleicht lasse ich mich noch dazu hinreißen, ihm ein paar Farben zu schenken…

Selbstportrait