Skaliert

Zu den Dingen, die ich mag, gehört, oberflächliche Menschen-Beurteilungen, die ich nach kurzem oder längerem Blick fasste, widerlegt zu bekommen. Am besten gleich mehrfach hintereinander.

Heute beispielsweise fuhr ich Straßenbahn, wie so oft in einem lesenswerten Buch schmökernd. Die Lektüre fällt in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht immer leicht, doch mittlerweile habe ich es geschafft, die üblicherweise um mich herum stattfindende Geräuschkulisse auszublenden.

Es stieg ein Mann hinzu, in Schwarz und Leder gewandet, mit Springerstiefeln und Nietengürtel bestückt. Ich hatte ihn schon öfter gesehen und, da ich mich einer ähnlichen Fraktion zurechne, für etwas sonderbar, aber nicht unsympathisch befunden. Er traf einen Bekannten und fing sogleich an, über Musik zu reden, laut genug, um mich zu stören, aber nicht laut genug, um ein Ärgernis zu sein.

Ich wurde neugierig, versuchte, die ausdiskutierten Bandnamen zu vernehmen, doch bekam nur Satzfetzen an mein Ohr. Nun gut, dachte ich, im Geiste schulterzuckend, und las weiter. Der Neuankömmling jedoch holte sein Mobilfunkgerät heraus und spielte ein Neuwerk irgendeiner Metallcombo ab, das ich nicht kannte. Blechern und bassfrei, dafür jedoch lautstark, tönte es durch die Bahn, und mich umsehend wudnerte ich mich, warum niemand es wagte, den Lärmenden auf sein störendes Geräuschisieren aufmerksam zu machen, ja sogar einfach nur empört in seine Richtung zu blicken. Niemand interessierte sich, scheinbar, für das, was – selbst für mich als Möger derartiger Musik – ohrenbelästigend aus dem winzigen Telefonierapparat schallte.

Ich jedoch war ein wenig genervt, wollte ich lesen und konnte es nun nicht mehr. Ich tippte den Handybesitzer an. Die Kopfhörer in seinem Ohr in Verbindung mit der tösenden Technik in seiner Hand waren einer wortreichen Kommunikation abträglich, doch schaffte ich, ihm deutend zu erklären, dass ich mich in meiner Konzentration beeinträchtig fühlte.

Er, den ich – auch noch nach Lärmbeginn – für nicht unsympathisch gehalten hatte, schaute nun herablassend auf mich und mein Buch und meinte abwertend, dass ich doch zu Hause lesen könne. Wie immer in solchen Augenblicken lag kein geistreiches Erwiderungswort auf meiner Zunge, und so schwieg ich, setzte den unfreundlichen Kerl auf meiner Menschbewertungsskala mehrere Etagen tiefer und bemühte mich, einzig und allein den Text wahrzunehmen, der sich vor meinen Augen befand.

Sein Gesprächspartner stieg aus, der Unsympath schaltete die Musik ab und drehte sich mir zu. „Entschuldigung“, sprach er mich an, und verdutzt schaute ich auf. „Was liest du denn da?“ Ich erklärte mit längst nicht ausreichenden Worten, welches Buch ich gerade konsumierte und dass davon mehrere Teile existierten, doch erntete kein großes Interesse. Nur die Antwort, dass er ja haufenweise Hohlbein lese. Ich mag Wolfgang Hohlbein nicht mehr so gerne wie früher und teilte ihm das mit. Was folgte, war eine kurze Diskussion über den Autor, über sein umfangreiches Werk, das er zusammen mit seiner Frau geschaffen hatte, über die vielen Hohlbein-Schmöker, die mein Gesprächspartner in seinem Besitz wisse, ich erwähnte mein Lieblingsbuch – und musste dann aussteigen.

Als die Straßenbahn fortfuhr, warf ich einen Blick auf meine innere Menschbewertungsskala und staunte nicht wenig darüber, ihn inzwischen wieder in angenehmen Positivbereichen einsortiert zu haben…

Taschentücher

Fremden Kindern gegenüber bin ich vorsichtig. Es sind ja nicht meine, und falls sie sich in meiner Gegenwart auch ungut verhalten sollten, werde ich – außer in Extremfällen – nicht derjenige sein, der mit Disziplinarmaßnahmen droht, um sie und ihr Verhalten in die richtigen Bahnen zu lenken.

Als ich unlängst mit der Straßenbahn fuhr, setzte ich mich in die vorletzte Reihe. Mir gegenüber hatten sich zwei Damen platziert, eine etwa Vierzigjährige und eine, die sich am Ende der Zwanziger befand und vermutlich zu den Studierenden zu zählen war. Hinter mir ließen sich zwei Jungen nieder, vielleicht elf, zwölf Jahre alt [Ich war noch nie ein Meister darin, das Alter von Personen zu schätzen.]. Sie blätterten in Zeitschriften, in Autozeitschriften, soweit ich das während eines flüchtig nach hinten schweifenden Blickes erkennen konnte. Ich las in einem angenehm-spannenden Buch, doch gelang es mir nur schwer, mich zu konzentrieren — die Kinder waren zu laut, und ihre mit „Alter“ und „Ey“ gespickte Sprache widerten mich an.
Die beiden Jungen versuchten mit jedem Wort, einander zu übertreffen. Fand der eine ein interessantes Zeitschriftenfahrzeug, das er mit begeisterten Attributen bestückte, so entdeckte der andere ein vermeintlich besseres, das dem Kindermund noch extremeres Vokabular zur Umschreibung und Faszinationsbekundung entlockte.

Der beleibtere der beiden hielt sich für besonders krass und zog alle zehn oder zwanzig Sekunden das Innere seines Riechorgans hoch. Das Ergebnis war ein rotziges, unangenehmes Geräusch, das nicht unbedingt dazu beitrug, mich meinem Lesevergnügen frönen zu lassen. Die Jungen diskutieren, protzten – und der Dicke zog immerfort Schleim die Nase hinauf, so intensiv, so begeistert, dass ich glaubte, ihm müsste bald der Schädel platzen vor angesammeltem Nasenunrat. Zumindest jedoch – darauf wartete ich voller Vorekel [„Vorfreude“ war es bestimmt nicht …] – würde er alsbald all das Hochgezogene in seiner Mundhöhle sammeln und es irgendwo spuckenderweise in die Straßenbahn schleudern. Doch er tat nichts dergleichen; er blätterte weiter in seiner Zeitschrift, redete Unsinn und schniefte, als gäbe es nichts Intelligenteres.

Ich senkte meinen Blick und las. Ich versuchte, mich an den Buchstaben, an den Wörtern, festzukrallen, doch es gelang nicht; der Sinn der Zeilen entwich immer wieder; ich konnte mich nicht konzentrieren. Behend griff ich in meine Rucksacktasche, wo ich eine Packung Zellstofftaschentücher vermutete, zog diese heraus und reichte sie – ohne auch nur ein Wort zu sagen – über meine Schulter nach hinten. Der dicke Junge sah mich an, schwieg kurz, dachte offensichtlich nach, wartete vielleicht auf einen Kommentar meinerseits, der jedoch nicht kam, betrachtete die Taschentücher in meiner Hand – und schüttelte dann den kopf. „Nein, danke.“, meinte er, „Ich habe selber welche.“

Ich sagte ihm nicht, dass ich ihm nicht glaubte, sagte ihm nicht, dass er sie doch benutzen könne, sagte ihm nicht, dass er und sein Getue mich störten, sondern zog meine Hand zurück und verstaute die Taschentuchpackung dort, wo ich sie hergeholt hatte. Die Studentin lächelte mir anerkennend zu, die andere Frau verzog keine Miene. Doch hinter mir kehrte Ruhe ein, keine absolute Ruhe, kein Schweigen, doch ein Gespräch, das sich normalisiert hatte – und frei war von widerlichem Nasenschleim.

Als ich gestern die Straßenbahn nutzte, stiegen plötzlich zwei Mädchen zu. Sie waren ungefähr dreizehn oder vierzehn [Wie erwähnt: Mit Altersschätzungen habe ich es nicht so.], und der blonderen von beiden rannen die Tränen literweise aus den Augen. Jemand hatte sie beleidigt, und ihre Freundin war keine große Hilfe, indem sie ihr riet, diese Beleidigung einfach wegzustecken. Denn offensichtlich war das „Wegstecken“ nicht mit Einfachheit lösbar.

Ich las – mal wieder – und gab mir Mühe, den beiden, obgleich sie mir direkt gegenüber saßen und obgleich ich jeder einzelnen Träne hinterherschauen konnte, geringste Aufmerksamkeit zu widmen und sie in diesem intimen Augenblick absolut allein zu lassen [auch wenn sie von unzähligen Mitfahrenden umgeben waren]. Mein Buch fing meine Blicke, doch vor ihrem Gesprochenen schützte es mich nicht.

„Hast du mal n Taschentuch?“, fragte die Tränenbedeckte irgendwann, und ihre Freundin gab einen Nein-Laut von sich. Wie von selbst glitt meine Hand in meine Rucksacktasche, und obgleich ich mir keineswegs sicher war, ob sich dort eine Packung befinden würde, fanden meine Finger plastikverpackte Papiertaschentücher, zogen sie heraus und reichten sie herüber. Kurz sah ich von meinem Buch auf und erhaschte das kleine Lächeln, das sich auf ihre Lippen stahl.

„Taschentücher“, dachte ich beeindruckt, „sind nützlich.“

Bahnfahrt

Ich suche einen Sitzplatz. Straßenbahnen sind wundervoll, denke ich, weil ich dort endlich mal wieder zum Lesen komme, und beginne meine Suche. Die Suche, besser: das Finden, ist wichtig, denn im Stehen zu lesen ist zwar machbar, aber nicht sinnvoll, weil so mit jeder beschleunigenden oder abbremsenden Bewegung der Bahn das eigene Standgleichgewicht in Frage gestellt wird.

Durch die Tür drängeln sich ein Kinderwagen samt dazugehöriger Mutti und ein Rollator samt kleinwüchsiger Nutzerin. Hey, bin ich versucht der Mutti zuzurufen, die ohne Umsicht allen verfügbaren Stellplatz für sich und ihr Kindesgefährt annektiert, hey, pass doch auf, nimm doch mal Rücksicht! Schließlich wird die kleinwüchsige Frau ihren Rollator nicht ohne Grund mit sich herumschleppen und sich genug ärgern, dass Magdeburg noch immer angefüllt ist mit alten DDR-Straßenbahnkolossen, für deren Benutzung drei steile Metallstufen zu überwinden sind. Nimm Rücksicht auf Benachteiligte, will ich rufen, doch halte inne, weil ich mich frage, wer mehr Recht auf den Stellplatz des eigenen Gefährts hat: Kleinkind oder Kleinwüchsige.

Die beiden arrangieren sich irgendwie, und die Mutti schafft es, dabei nicht ein einziges Mal zu der Rollatorfrau zu blicken, ich drängle mich vorbei und suche einen Sitzplatz. Schnell werde ich fündig und finde gleichzeitig ein verzweifeltes Knurren in meinem Hals, das ausgestoßen werden möchte. Ich schweige, doch strafe zwei Sitzende mit unfreundlichen Blicken. Denn nicht genug, dass die beiden älteren Herrschaften zu zweit einen Viererplatz blockieren, nein, sie mußten sich auch noch auf den Plätzen am Gang platzieren, um zugleich mit ihren Leibern den Weg zu den anderen beiden zu versperren.

Ich habe keine Lust darauf, mich durch diese Enge zu pressen, mich an ihren Leibern und Taschen vorbeizuquetschen, habe keine Lust zu fragen, ob ich denn mal dürfe, ob die beiden möglicherweise, habe keine Lust, neben einen der beiden zu sitzen und zu versuchen, mich schmal zu machen, mich zu verdünnen, damit die Sitzbank für uns beide reiche, ohne dass ich mit ungewollter Körpernähe konfrontiert werde.

Ich gehe weiter und finde einen letzten freien Platz. Ich sehe sofort, warum dieser Platz frei ist, denn neben ihm befindet sich ein Mann mit wildem Haarwuchs, sowohl auf dem Haupt als auch im Gesicht. Er ist einer von denen, denen man den Bier- und Schweißgestank förmlich ansieht.
Ich zucke mit dem Schultern, gehe auf ihn zu; das Lesen ist mir wichtiger, und an Gestank kann man sich gewöhnen. Er starrt mich an, ahnt, dass ich neben ihm Platz nehmen werde, und ich frage mich, ob er sich darüber freut oder nicht.

Und kaum sehe ich mehr von ihm, kaum erblicke ich mehr als sein verzotteltes Gesicht, begreife ich, dass ich mich irrte, freue mich darüber, mein Vorurteil widerlegt zu bekommen, erkenne saubere, gepflegte Kleidung und rieche nichts, gar nichts. Ich wühle in meinem Rucksack, setze mich, klappe das Buch auf, lese, bis irgendwer zu telefonieren beginnt, jemanden anruft und die ganze Bahn über die Planung seines Wochenendes informiert.

Ich will das nicht wissen, möchte ich rufen und frage mich, warum er ausgerechnet an einem dieser menschbefüllten Orte, wo Leiber dicht gepackt und komprimiert beeinanderstehen und -sitzen, wo jeder imstande ist, sein Gespräch zu verfolgen, warum er ausgerechnet hier, wo das Tuckern der Bahn sich zu den Gesprächen der Passagiere gesellt, sein Mobiltelefon zückte und zu reden begann, warum er nicht leiser reden kann, zumindest so leise, dass ich ihm nicht zuhören muss, dass ich verschont bleibe und lesen, in meinem Buch versinken, darf.

Als er der Bahn entsteigt, noch immer telefonierend, entbrennen belustigte Dialoge über Straßenbahntelefonierer, mein Sitznachbar drängelt sich an mir vorbei, flieht im letztmöglichen Augenblick aus der Bahn, und ich genieße die Freiheit, mich ausbreiten und endlich lesen zu können, finde die Stelle wieder, an der ich unlängst innehalten musste und setze nun die Lektüre fort, führe die Handlung weiter, und sei es auch nur für ein paar Minuten, bis zur nächsten Haltestelle, wenn ich mein Buch zusammenklappe, im Rucksack verstaue und aussteige.

Zöpfchen

„Könnte das Täschchen aufs Schößchen?“
Die Angesprochene blickte von ihrem Handy auf und reagierte – trotz musikbefüllter Ohrstöpsel – sofort. Die ältere Dame, die L und mich mit ihren Verkleinerungsformen soeben zu einem geschmunzelten Blickabtausch bewegt hatte, setzte sich uns gegenüber, auf den letzten freien Platz der von mir für gewöhnlich als „Vierer“ bezeichneten Sitzgelegenheitenanhäufung.

Während hinter der Glasscheibe Berlin vorbeiratterte, meine Aufmerksamkeit jedoch Wichtigerem galt, bemerkte ich am Rande meines Wahrnehmunsghorizonts ein Murmeln. Ein kurzer Blick ortete die Quelle: Die alte Frau gab Geräusche von sich, die Worte hätten sein können, wenn sie zu verstehen gewesen wären. Ihre Banknachbarin reagierte nicht, lauschte unverdrossen den Klängen aus ihren Kopfhörern. ‚Alte Frauen murmeln eben zuweilen in ihren Altfrauenbart.“, dachte ich, im Geiste mit den Schultern zuckend, und wand mich wieder L zu.

Aussteigen. Umsteigen. Irgendwo. Ich kümmerte mich nicht um Haltestellennamen, verfügte über kundige Begleitung.

Auf der Rolltreppe murmelte es erneut, hinter mir, diesmal jedoch mit gerade noch verständlichen Worten. „Jaja,“, hörte ich, „zum Friseur gehen braucht man nicht. Und Scheren sind ja auch so teuer…“
Die Worte galten meinen Haaren, die zu einem Zopf geformt über meinen Rücken wallten.

Ich drehte mich um und entdeckte die alte Dame aus der S-Bahn. Mit mühelos sanfter Stimme erwiderte ich:
„‚Man‘ kann auch Selbstgespräche führen, anstatt direkt zu kommunizieren…“

„Jaja,“, unterbrach sie mich barsch, „Ich bin ja sowieso verrückt. Gehöre in die Klapse…!“
Sie schaute mich nicht an, zerschmetterte jedes noch hervorzubringende Argument mit ihrem defensiven Rundumschlag. „Ich bin verrückt!“, hieß die Mauer, die sie blitzschnell zwischen sich und der eben noch beschimpften Welt erbaute – nicht zum ersten Mal, vermutete ich.

L zog mich weg, bevor ich überhaupt daran denken konnte zu reagieren. Schweigen war wohl ohnehin die bessere Wahl. Grüßend wedelte ich kurz mit dem Zopf in Richtung der alten Frau und ließ mich von L blind in irgendeine Richtung führen.

Reflektion

In der Bahn.
Irgendwo in der Dunkelheit hinter der Fensterscheibe fliegt die Welt vorbei.
Ich sehe in das reflektierende Glas, erblicke, betrachte mich.
Ringe umkränzen meine Augen, Stoppeln be-schatten meine Haut.
Und dann entdecke ich das Antlitz meines Vaters, entdecke ihn, hier, inmitten meines Spiegelbilds.
Zum ersten Mal erfasse ich, wie sehr wir uns gleichen.
Innerlich. Äußerlich.
Ich lächle, verwirrt, weine.
Meine Tränen auf seinem Gesicht.

Die Blinden und die Sitze sind schuld!

Erfrischende Glattheit reckte sich glänzend meiner Hand entgegen, als ich die Kastanie aufhob. Doch nun sitze ich auf dem Bahnhof, die Herbstfrucht in der Hosentasche verstaut, wartend, während meine Banknachbarin dem alten Gesetz der Nichtraucherei frönt: Raucherqualm sucht sich stets zu belästigende Nichtraucheropfer.

Ich steige in den ankommenden Zug ein und entsinne mich, dass ich einst wusste, welche die Fahrtrichtung die richtige war. Vermutlich sitze ich falschherum, doch die Bedeutung des In-Fahrtrichtung-Sitzens wird ohnehin als zu immens gewertet. Denn sowohl als Nach-Vorne- als auch als Nach-Hinten-Blickender werde ich im Laufe der Fahrt das gleiche, ja: dasselbe, zu Gesicht bekommen. Die dazwischenliegende, minimale Verzögerung ist angesichts endlos langweiliger Außenlandschaften und deren einschläfernder Monotonie unbedeutend.

Noch nie hörte ich von einem, der ein außerzugliches Ereignis aufgrund seiner Sitzposition vor anderen entdeckte und durch einen rasch abgesonderten Warnlaut alle anwesenden Nach-Hinten-Blicker vor deren Tod bewahrte. Allerdings muß ich eingestehen, bisher auch noch nicht allzu vielen Zugunglückserfahrern gelauscht zu haben. Eigentlich keinem. Es besteht also Grund zur Freude, dass niemandem aus meinem Umfeld bisher ein Zugunglück zustieß. Hurra. Ich freue.

Eigentlich freue ich mich, weil freuen ein transitives Verb ist, also stets eines Akkusativobjektes bedarf und keineswegs allein im Raum bzw Satz stehen sollte. Doch ich wollte es der Bibliotheksfahrstuhlstimme nachmachen, welche wieder und wieder die Fahrstuhletagen und dieselben zwei Sätze zu wiederholen hat: „Tür schließt.“ und „Tür öffnet.“

„Tür schließt.“ ist zwar ein kurzer, aber dennoch unzweifelhaft richtiger Satz, „Tür öffnet.“ dagegen klingt und ist schlichtweg falsch. Für ein lächerliches „sich“ hätte das Tonband sicherlich auch noch Platz gehabt. Ich weiß, dass in modernen Fahrstühlen die Stimmen keineswegs „von Band“ kommen, sondern in digitaler Form an die Lautsprecher übergeben werden, doch ist es ohnehin schlimm genug, dass von Studenten genutzte Fahrstühle mit Stimmen bestückt werden müssen, die nicht nur die jeweilige Fahrstuhletage verkünden, sondern auch noch über die Zustand der Fahrstuhltüren informieren. Studenten nämlich freuen sich über ein wenig akustische Hilfeleistung, wenn sie mal wieder ratlos im Aufzug stehen und nicht wissen, auf welcher Etage sich dieser befindet oder ob die Tür sich gerade öffnet oder schließt.

Allerdings wird mir gerade bewusst, dass Studenten nicht nur schlau genug sein könnten, um den leuchtenden Etagentasten die jeweilige Fahrstuhletage entnehmen zu können, ohne dass sie durch eine grammatikalisch inkorrekt sprechende Stimme darauf hingewiesen werden müssen, sondern dass einzelne Exemplare womöglich über eine weitere Eigenschaft verfügen, die jede Stimmmaßnahme – abgesehen von der inkorrekten Grammatik – rechtfertigt: Sie sind blind. Natürlich ist Otto Normalstudent [um mal einen wahrlich unschönen Begriff deutsche Alltagssprache zu missbrauchen] nicht blind, doch es gibt Ausnahmen und wäre äußerst unnett, des Sehens nicht Mächtigen die Informationen über die derzeitige Fahrstuhletage vorzuenthalten. So grausam bin ich nicht, lungere ich doch, was die Stärke bzw Schwäche meiner Augen betrifft, doch selbst in bemitleidenswerter Nähe zur Hund-Stock-Dreipunktarmbinde-Fraktion herum.

Andererseits sind die Blinden, wenn die schreckliche Fahrstuhlstimme nur für sie installiert wurde, eindeutig die Schuldigen, auf die sich mein anklagender Finger richtet, wenn ich mich mal wieder über das fehlende „Tür öffnet.“-sich beschweren möchte. Ich werde durch die Stadt laufen, auf jeden einzelnen Blinden mit meinem Zeigefinger deuten [was sicherlich wenig nützt, angesichts ihrer Sehschwäche] und lauthals die von Trübsal und Verzweiflung triefenden Worte proklamieren: „Die Blinden sind schuld! Die Blinden sind schuld!“

Allerdings sollte ich bedenken, dass die Blinden vermutlich mit mir leiden, nicht auf der Straße, den anklagenden Worten lauschend, sondern im Fahrstuhl stehend, das ungute Falschdeutsch vernehmend. Blinde sind schließlich nicht dafür bekannt, sich hundsgemein gegen korrekte Spache verschworen zu haben. Nein, vielmehr werden sie genauso sehr auf das fehlende „sich“ erpicht sein wie ich, weil sie zwar nicht mit den Augen, aber doch mit den Händen lesen können und somit vermutlich ein gutes Stück Literatur ebenso zu schätzen wissen wie einen grammatikalisch richtigen Aussagesatz. Vielleicht werden wir uns, sobald die Fahrstuhlstimme wieder ihr unsägliches Deutschimitat von sich gegeben haben wird, an den Händen fassen und gemeinsam weinen. „Blinde können zwar nicht sehen, aber weinen.“ werden die in der Bibliothek herumstromernden Studierenden staunen und hilfsbereit blütenweiße Taschentücher zücken und uns die salzigen Perlen [<= standardisiertes Tränensynonym] aus dem Antlitz wischen.

Ups, da ist mir doch in den vorangegangenen Satz ein Wort hineingeschlüpft, dessen es im allgemeinen und auch in meinem persönlichen Sprachwortschatz nicht bedarf: „Studierende“. Studierende sind Studenten. Bloß weil man der konsequenten Femininisierung aller Worte in Form eines Wortmitten-Is überdrüssig ist und auf „StudentInnen“ verzichten möchte, herrscht nicht automatisch Bedarf nach einem geschlechtsneutralen substantivierten Partizip.

„Es gibt aber Studenten, die den ganzen Tag lang in der Gegend rumgammeln und ihr Bafög versaufen, somit also gar nicht studieren! Und es gibt welche, die fleißig jede Vorlesung besuchen und tonnenschwere Bücher wälzen, als studieren. Da muß man doch differenzieren!“, mischt sich ein Kritisierender … äh … Kritiker ein. „Letztere Gruppe sind die Studierenden, die eindeutig geringer an Zahl sind als Studenten, weil sich ja jeder ein Student ist, der einen entsprechenden Ausweis besitzt, aber nicht jeder von denen wirklich studiert.“

Jaja!, entgegne ich äußerst unwirsch. Aber bloß weil ein Bauarbeiter mal biertrinkend und Bildzeitung betrachtend in der unverputzten Ecke sitzt, muß man doch nicht gleich zwischen Bauarbeitern und Bauarbeitenden unterscheiden. Außerdem ist das etymologisch betrachtet …
„Was?!“, unterbricht mich der Kritiker, der Fremdwörter nicht zu mögen scheint. Ich verbessere mich:
Wenn man sich die Sprachgeschichte des Wortes „Student“ betrachtet, stellt man schnell fest, dass der Wortstamm im lateinischen „studere“ beheimatet ist.
„Stimmt.“, meint der Kritiker, der mich diesmal verstanden hat. „Das sagte mein Professor auch immer: ‚Student kommt von studieren – sich bemühen.'“

Eben., antworte ich. Das Partizip Perfekt Aktiv, also das deutsche Partizip I, also „sich bemühend“, lautet im Lateinischen „studens“; im Genitiv, also im zweiten Fall, im Wes-Fall, „studentis“. Dort sieht man ihn schon, den Wortstamm, der für unsere Betrachtung von Bedeutung ist und zu unserem „Student“ führen wird. Er steckt im Partizip „sich bemühend“. Ein Student ist also ein Sich-Bemühender.
Will man aber aus dem Studenten einen Studierenden formen, so muß man ihn entweder zum Sich-Bemühen animieren oder erneut das Partizip bilden, diesmal jedoch in der deutschen, nicht in der lateinischen Sprache; um genau zu sein: von „studieren“, nicht von „studere“.

Dennoch ist das Ergebnis dasselbe: Ein „Student“ ist ebenso wie ein „Studierender“ nichts weiter als ein substantiviertes Partizip, abgeleitet vom lateinischen Wort für „sich bemühen“. Wozu muß man also „Student“ ersetzen, wenn der Ersatz, „Studierender“, nicht nur das Gleiche bedeutet, sondern auch länger und umständlicher ist?

Der Kritiker schweigt. Mein Vortag langweilte ihn wohl. Jaja, diese Kritiker: political correctness duldet zwar Pingelichkeiten, doch keine Berichtigungen. Ich jedoch sage: „Wenn pingelig, dann richtig!“ und ergänze: „Wenn Fahrstuhlstimme, dann grammatikalisch korrekt!“ Der Schaffner betritt das Abteil und meint: „Wenn Zugfahren, dann ohne Schuhe auf den Sitzen!“

Er hat recht. Beschämt stelle ich meine beschuhten Füße auf den Boden und reiche ihm meine Fahrkarte. Für einen Moment sehne ich mich danach, dass er diese nicht mit einem uninteressanten Datumsstempel, sondern mit einem gestanzten Loch versieht, so wie es einst üblich war. Ein Loch stünde meiner automatenbedruckten Bahnfahrkarte sicherlich prima. Doch er stempelt und verlässt das Abteil, ohne zurückzuschauen und zu bemerken, dass meine Schuhe schon wieder klammheimlich die kostbaren Zweite-Klasse-Sitze in Beschlag nahmen.

Böse Schuhe!, tadle ich matt, doch für heute habe ich schon genug Tadel verteilt. Außerdem sind es nicht meine Schuhe, sondern die ungünstig geformten Sitze, die Schuld daran tragen, dass ich mich genötigt fühle, meinem Leib in eine bequemere Verweil-Position zu suchen – welche die verbotene Schuhablage mit einschließt. Gerne würde ich aufstehen und durch den Zug laufen, meinen anklagenden Zeigefinger auf jeden einzelnen der unförmigen Sitze richtend, und rufen: „Die Sitze sind schuld! Die Sitze sind schuld!“

Doch in Anbetracht eines Zuges voller Sitzmöglichkeiten – selbst die Sitzmöglichkeiten der ersten Klasse erwirken die Schuh-auf-Sitz-Bewegung – und somit anstehender, aufwendiger Dauerbeschuldigung schweige ich lieber, lege mein Notizbuch weg und erfreue mich der beruhigenden, glänzenden Glattheit der vorhin aufgelesenen Kastanie.

Nett

In seinen Augenwinkeln bemerkte ich Lachfältchen, ungewohnt ausgeprägt und zahlreich für sein Alter, das ich – in solchen Fragen oftmals unsicher – auf Mitte Zwanzig schätzte. Die Lachfältchen wußten bereits eine Geschichte zu erzählen und stimmten mich fröhlich.

Sein Gesicht war gepflegt, dessen Behaarung ebenso. Sein Lachen war echt und ansteckend, offenbarte weiße, mustergültige Zahnreihen. Ein modischer Kurzhaarschnitt und unaufdringliche, jedoch zeitgerechte, stilbewußte Kleidung komplettierten das Bild.
Es gab keinen Grund, ihn unsympathisch zu finden – sah man von seiner Freundlichkeit ab.

Jeden neu eintreten Straßenbahnbahnnutzer strahlte er vergnügt, mit funkelnden Augen an, grinste fröhlich und grüßte. Seine hohe, mit Speichel getränkte Stimme verriet ihn, die übertriebene Hektik seiner Gesten vernichteten den gewonnenen Positiv-Eindruck:
Der Verstand des jungen Mannes weilte abseits normalen Denkens.

Doch er lächelte, lächelte und grüßte und fand Gefallen dran, sich umzudrehen und seinen Hintermann zu fragen, wohin er unterwegs sei. „Nach Hause?“ Der Hintermann nickte, wollte sich nicht auf das Spiel [denn mehr schien es nicht zu sein] einlassen. Zufrieden mit der knappen Antwort drehte sich der junge Mann um und versuchte die Aufmerksamkeit des an der Tür stehenden Kindes erwecken: „Hallo!“ rief er durch die Straßenbahn, steht kurz auf, um dessen Pullover zu berühren und sich – nach beharrlicher Ignoranz seitens des Kindes – wieder zu setzen – jedoch ohne jede Spur von Enttäuschung.

Als ich die Straßenbahn betrat, begrüßte er auch mich, verriet den Eindruck, den sein normales Äußere erweckte, schnell durch unnormales Verhalten. „Hi!“, grüßte ich zurück und lächelte ihm zu. Er griff meinen Arm, ohne mich meiner Bewegung zu entreißen. Und noch bevor ich Überraschung zeigen konnte aufgrund der fast aufdringlichen Annäherung, war ich bereits vorbei, hatte mich schräg hinter ihm plaziert.

Ich sah ihm zu, wie sein Frohsinn, seine Offenheit, von den verwirrten Gesichtern der Fahrgäste abprallte, wie er sich nicht entmutigen ließ, auch noch den nächsten Einsteigenden zu begrüßen, den nächsten Aussteigenden zu verabschieden.

‚Warum nicht?‘, dachte ich und überlegte, ob nicht wir Normalen es waren, die sich unnormal verhielten. Warum grüßten wir einander nicht, lächelten einander nicht zu, auch ohne uns zu kennen? Warum setzten wir und auf engsten Raum nebeneinander, ohne uns füreinander zu interessieren, versteckten uns hinter Kopfhörern und Büchern, hinter Schweigen und Blicken aus dem Fenster und versuchte, möglichst nicht da, nicht in dieser Straßenbahn zu sein, durch die anderen Mitfahrenden hindurchzusehen, als wäre niemand von uns wirklich existent?

Mir fiel es schwer, den Zeilen des Buches auf meinem Schoß zu folgen; immer wieder lugte ich zu diesem jungen Mann, den als „zurückgeblieben“ zu bezeichnen ich nicht wagen würde, erfreute mich seiner nie endenen Fröhlichkeit, als könnte sie sich auf mich übertragen.

‚Gern würde ich die Welt einmal durch seine Augen betrachten.‘, dachte ich, einen Gedanken aufgreifend, den ich schon früher in meinem Schädel gefunden hatte:
Vielleicht ist zuweilen besser, dumm zu sein und davon nichts zu wissen.

Meine Ausstiegshaltestelle näherte sich. Ich klappte ich mein Buch zusammen und stand auf. Bewußt wählte ich den Weg zur Tür an ihm vorbei, wollte keiner Feigheit, keiner Ignoranz frönen. Als er, um mich zu verabschieden, seine Hand ausstreckte, ergriff ich sie.
„Mach’s gut.“, sagte ich lächelnd und stieg aus.

Durch die sich schließenden Türen vernahm ich noch seine Worte, an den Hintermann gerichtet:
„Das war aber ein netter Mann.“

[Im Hintergrund: Die Apokalyptischen Reiter – „All You Need Is Love“]

Sex an der Haltestelle

An der Straßenbahnhaltestelle warteten bereit Leute. ‚Ein gutes Zeichen.‘, dachte ich, ‚Wahrscheinlich kommt der Nachtbus bald.‘

Die Verifikation dieses Gedankens wünschend versuchte ich, den aushängenden Fahrplan zu studieren, ein Unterfangen mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad, da sich ein Pärchen dazu entschlossen hatte, genau hier, vor dem Fahrplan, vor meinen Augen, auf den Bus warten zu wollen. Es wäre mir egal gewesen; meine Blicke hätten sicherlich einen Weg an ihnen vorbei, zwischen ihnen hindurch gefunden, ohne ihnen ihren erworbenen Stehplatz streitig zu machen. Als ich jedoch den Fahrplan meiner Musterung unterzog, begannen die beiden Blockierenden direkt vor meiner Nase damit, einander eingehend zu küssen, ja erdreisteten sich, dabei von ihren Zungen intensivst Gebrauch zu machen. Nichts liegt mir ferner, als Liebenden oder Nichtliebenden das Küssen verbieten zu wollen, doch in diesem Augenblick befand ich mich nicht mehr als dreißig Zentimeter von ihren speichelfeuchten Zungen entfernt und blickte an ihren einander verschlingenden Mündern vorbei auf den Fahrplan.

Kaum hatte ich die ersuchte Information ergattert, floh ich aus dem Wartehäuschen und erfreute mich der leuchtenden Reklamewand zwischen mir und dem Zungengeflecht. Rechts neben mir befanden sich nun zwei Mädel. Während die eine einen etwas ruppigen, burschikosen Eindruck machte, kicherte die andere ununterbrochen. Ihre offensichtliche Trunkenheit schien für die Erstgenannte kein Hindernis oder vielleicht gar eine Bestätigung dafür zu sein, ihr flüsternd intimste Sexualgeheimnisse zu gestehen und dabei immer wieder ein lautes, dümmliches Kichern zu erwirken.

Leider hörte ich zu viel und vermochte leicht, mir den Rest zusammenzureimen. Allerdings war ich gerade nicht in der Stimmung dafür, mir Geschichten von zu tief in den eigenen Mund gestopften männlichen Geschlechtsorganen erzählen zu lassen.
„Gestopft“ ist tatsächlich das richtige Wort.

„Der Magen war wohl schon bereit war für die Nahrungsaufnahme?“, kicherte die Kichernde.
„Es gibt Dinge, die werde ich nie mögen.“, meinte die Burschikose, von ihrer eigenen Erzählung angewidert, „Ich weiß nicht, was erniedrigender ist. Diese Stellung oder der Mann, den ich neulich sah, der im Park mit einem kleinen Plastikschäufelchen und Tütchen hinter seinem Hund herrannte, um dessen Fäkalien zu entsorgen.“

Themawechsel. Die Burschikose hatte ein Date gehabt. Ihre Freundin hatte wohl an irgendeiner Stelle verkündet, daß die Burschikose auf Ältere stehe und Single sei. Prompt war sie mit einem 36jährigen Polizisten verabredet.
’36!‘, wunderte ich mich, denn die Burschikose war gerade einmal Mitte Zwanzig. ‚Bestimmt berichtet sie davon, wie eklig dieser Typ war und was er ihr alles in den Hals stopfen wollte.‘
„Er war so langweilig.“, meinte sie jedoch. „Als ich fragte, was er am Wochenende mache, erzählte er, er stehe total auf Spieleabende. Da sitzt er mit seinen Freunden bei Monopoly und findet das geil.“
Die Kichernde kicherte nicht mehr.
„Mein Vater hat’s ja auch nicht so mit den Bullen. Als ich ihm sagte, ich hätte ein Date mit eine Bullen, war er erstmal geschockt. Dann meinte er, ich solle fragen, ob der Bulle im Innen- oder Außendienst arbeiten würde. Die im Innendienst dürfen nicht mit Blaulicht fahren. Und ein Bulle ohne Blaulicht ist ein trauriger Bulle.“

Nicht nur das pseudolässige Wort „Bulle“ stieß mich ab, sondern auch die Art und Weise, mit der über Klischees das noch nicht erlebte Date vom Vater schon von vorneherein niedergemacht wurde.
Mittlerweile näherte sich der Bus.

„Als ich wieder nach Hause kam, hatte mein Vater aus dem Internet eine Statistik ausgedruckt, nach der Frauen von Polizisten häufiger von ihren Männern erschossen wurden als Frauen von Jägern oder Sportschießern…“

Ich floh in den Bus. Mir gegenüber setzte sich jedoch das Pärchen, das die ganze Fahrt über nicht anderes tat, als Speichel auszutauschen…

Heimreise

Es begann, als ich mich ausnahmsweise, einer inneren Trägheit folgend, dazu entschloß, an der „Pfälzer Straße“ auf die 2 zu warten, anstatt wie sonst üblich die wenigen Fußwegminuten zur Haltestelle „Universität“ in Kauf zu nehmen, wo unter den vielen zugleich verkehrenden Linien auch eine Bahn sein würde, die mich bis fast vor die Haustür trüge. Während die studentische, geduldig wartende Menschenmasse immer größere Ausmaße annahm, entdeckte ich allmählich nicht nur verstörte Blicke auf die eigene Uhr und in die Richtung, aus der die Straßenbahn eintreffen würde, sondern auch immer wieder Wesen, die ihren Warteprozeß mit enttäuschtem Gesichtsausdruck abbrachen und leise seufzend die Wegstreckenabarbeitung den eigenen Füßen überließen.

Mit fehlender Uhr fiel es mir schwer zu schätzen, wie lange ich wartete, doch als gefühlte zehn Minuten vergangen und noch immer keine öffentlichen Verkehrsmittel in Sichtweite zu entdecken waren, gab auch ich auf und machte mich mit einem resignierenden Gedanken über das Schicksal, das ausgerechnet dann die 2 verschluckt, wenn ich sie zu benutzen gedenke, auf dem Weg zur Haltestelle „Universität“.

Ich sah es schon von weitem: Eine Bahn stand auf den Gleisen, ihrer Passagiere beraubt, tot und träge blinkend. In meinem Schädel formte sich die Hoffnung, es möge nicht meine Richtung sei, die mit wartend-defekten Bahnen blockiert war, doch ich glaubte das Gegenteil, vermutete gar, daß das Fehlen der 2 an der „Pfälzer Straße“ mit der stehenden Bahn an der „Universität“ zusammenhing.

Ich hatte recht, in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur eine, sondern drei Bahnen standen still, reglos in ihren Gleisen verharrend, auf dem Weg in die Richtung, die ich als „meine“ bezeichnete. Ein ‚War ja klar!‘ erübrigte sich; statt dessen bedeckte ich mein Antlitz mit einem Lächeln, plante meine weitere Wegstrecke voraus. Wenn die Gleise blockiert waren, mußte ich noch drei Haltestellen weit laufen, um an die nächste Gleiskreuzung zu gelangen, von der die Möglichkeit bestand, eine Bahn zu erwischen, die mich nicht nur nach Hause brachte, sondern sich überhaupt bewegte.

Im Magdeburger Zentrum liegen zwischen drei Haltestellen nicht mehr als ein Kilometer, fünf Minuten Fußweg über den Breiten Weg, den derzeit unzählige, wegen des Weihnachtsmarktes vom Alten Markt vertriebene Stände blockieren. Es war kalt, doch die wenigen Minuten zu Fuß hatten mich bereits genug erwärmt, um jeder Sorge, wegen möglicher, totaler Straßenbahnfehlfunktion letztendlich nach Hause laufen zu müssen, mit einem desinteressierten Schulterzucken begegnen zu können.

Am Universitätsplatz stand die 5, blinkte müde in Richtung des orangefarbenen Einsatzwagens der Magdeburger Verkehrbetriebe, ein lautloser Hilferuf, dem keine Hilfe folgte. Schon minutenlang schien die Bahn hier zu stehen, jede Richtung zu blockieren, ohne daß ein Schaden offensichtlich war. Ich glaubte, eine Oberleitung beschädigt herabhängen gesehen zu haben, doch war mir nicht sicher. Ordnungsgebietend blitzten die Blaulichter zweier Polizeiwagen, doch niemand interessierte sich dafür.

An den Haltestellen, die ich passierte, stauten sich wartenden Menschenhaufen. Niemand hatte ihnen gesagt, was geschehen war, und obwohl sie sehen konnten, daß keine der Bahnen in Sichtweite sich auch nur einen Millimeter rührte, obwohl sie sehen konnten, daß es unwahrscheinlich war, in den nächsten Minuten von der Haltestelle abgeholt zu werden, blieben sie stehen, warteten wie eine verirrte Schafsherde auf ihren Schäfer, der ihnen mitteilte, was zu machen sei.
Doch kein Schäfer kam, und die Schäferhunde – Blaulichtwagen besetzende Polizisten – hielten Informationsweitergabe für überflüssigen Luxus.

Das Gedränge auf dem mit Ständen und Menschen vollgesopften Breiten Weg störte mich nicht, würde doch das Gedränge in den wenigen noch verkehrenden Straßenbahnen um eine Größenordnung stärker sein.
Am Alten Markt angekommen entdeckte ich die 6. ‚Meine Bahn!‘, dachte ich erfreut, nicht zuletzt, weil es so aussah, als würde sie noch fahren können. Überall um mich herum standen leere Bahnen wie abgestorben in ihren Gleisen. Hinzukommende Bahnen wichen in andere Richtungen aus, auf Strecken, die sie sonst nie befuhren, bewirkten, daß die Bewegungsabläufe des öffentlichen Personennahverkehrs aussahen, als wären sie die kranken Gehirn eines Irren entsprungen, von unfähigen Kinderhänden auf Stoffservietten gekrakelt und von blinden Psychopathen realisiert. Doch es funktionierte. Ich sah keinen Autostau, keinen Unfall, keine Verletzten, noch nicht einmal ordnungshütende Uniformierte.

Die 6 stand an der Haltestelle und wartete. Ich wartete ebenfalls. Die Ampel zeigte Rot, und wie bei einem Marathonlauf lauerten mit mir unzählige andere auf den Startschuß, das Ampelgrün, das den Wettlauf einläutete, dessen Ziel die Sicherung eines Platzes im Sardinengedränge, im Inneren der Straßenbahn, war. Ich positionierte mich günstig, war schnell, als einer der Ersten, im Inneren, fand einen guten Platz zum Stehen, hielt mich fest.

„Könnten Sie vielleicht…“, hörte ich eine alte, brüchige Stimme, deren Besitzerin eine Fahrkarte in meine Richtung hielt.
„Na klar.“, meinte ich lächelnd, nahm die Karte in Empfang, wühlte mich durch menschliche Leiber bis zum Entwertungsautomaten, wartete auf das bestätigende Piepen des Stempels, kämpfte mich zurück und überreichte der alten Frau ihre – offensichtlich unnütze [Welcher Kontrolleur würde sich schon durch dieses Gedränge zwängen?] – Fahrkarte, stolz, als hätte ich soeben die hintertibetanischen Dschungelwüsten mit verbundenen Augen durchquert. Sie nickte nur, freundlich und schüchtern zugleich, und ich versuchte, mir meinen Stehplatz zurückzuholen, der jedoch in der Zwischen von Tannengrün besetzt worden war.

Als die Bahn zwei Ampelphasen später losfuhr, atmeten alle Straßenbahnheringe auf. Die Stimmung war gut.
„Wenn Sie fallen, fallen Sie unter Garantie weich.“, lachte eine dickte Frau neben mir.

Die nächste Ampel war ein Greuel. Vor uns standen zwei weitere Bahnen, auf Grün wartend, und pro Grün fuhr nur ein Metallkoloß durch. Es dauerte Minuten, bis wir wieder vorankamen – und am „City Carre“ hielten. Nur eine Handvoll Menschen stieg aus; doch mindestens zehnmal so viele begehrten Einlaß – unter ihnen auch eine Frau mit Kinderwagen und eine Gruppe Punker, standesgemäß mit Kassettenabspielgerät und Bier beziehungsweise Wein, sowie mehreren riesigen Hunden bestückt, von denen einer allerdings – vermutlich aufgrund einer Verletzung – auf einer Art Bollerwagen Platz genommen hatte, welcher natürlich ebenfalls in unserer vollgestopften Straßenbahn Platz finden sollte.

„Kinderwagen! Kinderwagen!“, riefen die Punker, als wollten sie der Mutti mit ihrem Gefährt Zutritt und Platz verschaffen. Doch kaum waren wir noch enger zusammengerückt, drängten sich die vier Gestalten, samt ihrer Hunde und ihres Bollerwagens in die Bahn und sicherten sich damit die ungeäußerte, aber auf vielen Mienen deutlich lesbare Abneigung der anderen Passagiere. Die Mutti paßte nun natürlich nicht mehr hinein. Ihr Kinderwagen ersdt recht nicht.

Interessiert beäugte ich den Penny-Markt-Aufnäher auf einer Lederjacke, der zwischen unzähligen Punkbandemblemen und Antifa-Zeichen eine Besonderheit darstellte. Die Frau neben mir stand auf, und ich konnte mich setzen, trat versehentlich einem schwarzen Hund auf den Schwanz, der gequält winselte, aber meine Entschuldigung – inklusive eines beruhigenden Kopftätschelns – zu akzeptieren schien.

Niemand beschwerte sich, und tatsächlich waren mehrere Zusammengedrängte trotz ihrer Situation freundlich zu den Punkern, gaben den Hunden Platz und akzeptierten, daß eine Tür durch den Bollerwagen versperrt worden war. Als jedoch ein Herr die zurückhaltende Bitte äußerte, den schwarzen Hund, der ihn in einer Ecke einsperrte und somit sein Aussteigen verhindern würde, wegzunehmen, reagierte das einzige Mädel erbost und unwillig, als müßte sie, deren Gruppe erstaunlich viel Toleranz entgegengebracht worden war, immense Aufwände auf sich nehmen, um den armen Hund ein paar Zentimeter zu verrücken, als wäre sie, der es von allen Straßenbahnmitfahrenden noch am besten ging, die einzig Gequälte hier.

Unterdessen unterhielt sich die alte Frau, die ihre Fahrkarte fürsorglich in ihrer Geldbörse verstaut hatte, mit ihrer Nachbarin, einer vielleicht zwanzig Jahre jüngeren Dame, die geduldig jede Frage beantworte und jede Aussage mit nichtssagendem Geplänkel bestätigte. Von der Frage, warum es denn so voll sei, führte die Thematik der alten Frau jedoch über die Feststellung, daß ihr sowieso nur noch wenige Jahre blieben bis hin zu Krankheiten und Tod, bis hin zur Behauptung, daß, wenn man alt und ein wenig wirr wurde, sowieso niemandem mehr für einen da sei, jeder nur die eigene Unwilligkeit mit geheuchelter Anteilnahme überdeckte, um mehr erben zu können.

Das Thema behielt sie bei, ungeachtet der Punkersituation um sie herum, erzählte mit weinerlicher Stimme, was sie wohl schon Tausend Mal erzählt und sich selbst eingeredet hatte. Sie bemitleidete sich selbst, stellte ich fest, und bewunderte die neben ihr Sitzende, die immer wieder zu reagieren vermochte, niemals zu weiteren Aussagen anregte, aber trotzdem den Eindruck erweckte, am Gespräch interessiert zu sein, obgleich auch sie von der Thematik wenig begeistert war. In Gedanken zollte ich ihr meinen Respekt und verlor für kurze Zeit sogar die Punker aus dem Sinn, die sich jedoch alsbald bemerkbar zu machen wußten.

Ein Hund stand an der Straßenkreuzung, die wir soeben passierten, und einer der Punks glaubte in ihm seinen Hund, besser: einen seiner Hunde, erkannt zu haben.
„Halt an!“, rief er nach vorne, zum Straßenbahnfahrer, der jedoch unbekümmert sein Gefährt erst mehrere Hundert Meter später zum Stehen brachte – an der dafür vorgesehenen Haltestelle. Ein unscheinbarer Mann drängelte sich aus der blockierten Tür und erwarb so den Ärger der ebenfalls aussteigenden Punks, die sichtlich Mühe hatten, den mit Hund befüllten Bollerwagen aus der Bahn zu hieven. Er kippte; der verletzte Hund fiel auf seine eigenen Beine, winselte, wurde grob von der Straße gezerrt, wieder auf den Bollerwagen gehoben.

Das Fehlen der Punks löste keinerlei Erleichterung aus. Nur ich freute mich, hatte ich doch endlich genug freien Platz um mich herum – zumindest bis zur nächsten Haltestelle, wo ich ausstieg und die abenteuerliche Heimreise beendete.