eigentlich wollte ich schlafen, doch mir ging dieser merkwürdige lateinische sinnspruch nicht aus dem kopf, besser: ich mußte darüber nachdenken, wie albern der derzeit hochaktuelle satz „genieße jeden augenblick.“ doch ist. überall versucht man diesem trend hinterherzuhängen, erfindet neue slogans, die allesamt das gleiche besagen, doch nur eines ausdrücken wollen: der augenblick muß genossen, der moment gelebt werden.
irgendwie mißfällt mir daran, daß versucht wurde, in den spruch „carpe diem.“, der ja eindeutig „pflücke den tag.“ bedeutet, etwas hineinzudichten, hineinzuinterpretieren. ich gebe zu, daß die wörtliche übersetzung etwas holprig klingt, doch schon „nutze den tag.“ wäre weitaus annehmbarer, als jedes „genieße den augenblick.“ jemals sein wird.
ein augenblick währt – im biologischen sinne – 0,3 sekunden, in lyrik und prosa gar noch weniger. innerhalb von 0,3 sekunden habe ich es möglicherweise gerade geschafft, die augenlider zu schließen – eine handlungsweise, die man im allgemeinen ja mit genuß in verbindung zu bringen pflegt, sicherlich aufgrund dessen, daß man versucht, in sich zu gehen, um die außenwelt abzuschalten und sich voll und ganz auf das objekt des genusses zu konzentrieren.
einer minute allein wohnen 200 augenblicke inne. zweihundert. schon wenn man sich fragt, ob man den letzten augenblick genossen hat, ist wieder einer verronnen. tragisch. innerhalb eines augenblicks bin ich zu echtem genuß überhaupt nicht fähig.
vielleicht hätte man es beim original belassen sollen. ein tag umfaßt immerhin 288.000 augenblicke. damit läßt sich schon etwas anfangen.
vermutlich sehe ich diesen sinnspruch viel zu eng, sollte ihn in weiterem rahmen betrachten. doch dazu bin ich im augenblick [hihi] nicht willens, denke ich doch an einen zweiten slogan, der, wenn man ihn überdenkt, genauso albern wie der erste wirkt und sogar mit diesem themenverwandt ist: „leb jeden tag als wäre es dein letzter.“
ohne lange darüber zu sinnieren, würde das für mich folgendes bedeuten: an meinem letzten tag würde ich all die dinge machen, die ich liebe, die mich erfreuen – und jene, vor deren konsequenzen ich stets zurückschreckte. nun, da es sich um meinen letzten tag auf erden handelt, gestatte ich mir… ja, was?
das einfachste beispiel wäre wohl, daß ich mir gestatten würde, den gesamten tag wachzubleiben. notfalls mit den erforderlichen mitteln nachhelfend würde ich versuchen, meinen allerletzten tag vollends zu genießen und nicht mit der untätigkeit des schlafes zu befüllen. kein problem, die konsequenzen blieben mir ja erspart.
allerdings, wenn ich nun versuche, jeden tag so zu leben, als wäre es mein letzter, wenn ich also den ganzen tag auf schlaf verzichte, dann werde ich nach wenigen derartigen tagen merken, daß es mir nicht gelingt, mich vor den konsequenzen zu drücken, daß mein gelebter tag eben nicht der letzte war und daß die folgen grinsend auf mich warten.
der fehlende schlaf sollte also als beispiel dienen und aufzeigen, daß auch dieser sinnspruch sinnentleert ist.
was ist also zu tun, will man diesen weisen worten gehorchen und sich ihnen trotzdem insoweit verweigern, als daß das typische klischee eines alles-erlebenden, eines sich-alles-wagenden, eines jeden-augenblick-mit-allen-sinnen-auskostenden keine erfüllung findet?
ich weiß es nicht.
was mir zuweilen hilft, ist mir bewußt zu machen, daß das leben nicht nur von unendlicher schönheit ist und daß es manchmal nur eines zweiten blickes bedarf, um diese schönheit zu erkennen. wichtig ist auch, das dasein gelassen anzugehen. zeit ist zeit, eine erfindung der menschen. nicht jeder termin ist den streß und die aufregung wert, die man auf sich nimmt, um ihn pünktlich zu erreichen. ruhe ist ein kostbares gut.
was noch?
nicht immer denken, nicht schlimmstes befürchten, zuweilen einfach drauflosgehen, ja sagen und dem unbekannten entgegenspringen. manchmal aber auch innehalten, abwarten, das gegenwärtige, so kurz es ist, genießen und sich daran erfreuen, was ist. und auf das leben vertrauen: es gibt immer unzählige wege in unzählige richtungen. und wenn nicht, so werden sie einem in jenen augenblicken begegnen, in denen man sie am wenigsten erwartet.
erwarte nichts und erfreue dich an dem, was kommt.
mmmh… das klingt wie eine moralische gute-nacht-geschichte, meinem geist entsprungen. ich selbst bin nicht wirklich imstande, mich zu derartigem handeln zu befähigen, glaube zuweilen nicht länger an die schönheit des daseins, nicht länger daran, daß irgendwann alles gut werden könnte.
doch zum glück gibt es andere, andere, deren licht in mein dasein leuchtet und das dunkel zu vertreiben vermag, andere, die in finsteren augenblicken meine eigenen gedanken wahr werden lassen, weil sie mir leben zeigen, wo ich es am wenigsten erwarte…
meine füße sind kalt.
gute nacht.