Das Kaninchenchen

Und dann sah ich den Hasen wieder.

Kein Hase, natürlich, Hasen gibt es hier selten. Wohl ein Kaninchen, und noch nicht einmal ein großes. Ein Kaninchenchen vielleicht.

Ich bewunderte es um seine Ruhe, seine Unbekümmertheit. Zwei, drei Hopser auf der Wiese, ein kurzes Innehalten, um desinteressiert das Grün zu beschnuppern, ein weiterer Hopser, und dann war es verschwunden.
Nicht wirklich, doch ein grauer Klotz verdeckte meine Sicht. Ich mochte ihn nicht, den Klotz, und seine einzige Funktion schien daraus zu bestehen, mir die Sicht auf das Kaninchenchen zu nehmen, es wie von Geisterhand erscheinen und verschwinden zu lassen. Der graue Klotz war ein magischer Hut. Sozusagen.

Und vielleicht stimmte es ja, vielleicht sollte der Klotz den ganzen Tag nichts weiter tun, als mir und meinen Kollegen das Draußen zu verhässlichen. Dies war schließlich ein Büro, kein Aussichtspunkt. Ich schmunzelte. Ein Kaninchenchen hatte man nicht berücksichtigt, nicht sein flauschiges Fell, nicht seine sich plötzlich aufrichtenden Ohren, nicht sein sporadisches Erscheinen und Verschwinden.

Ich hatte versucht, es zu füttern, hatte ihm Mohrrüben und teure Joghurtdropse aus der Tierfachhandlung hingelegt. Vielleicht, um es an mich zu gewöhnen. Vielleicht nur, um es häufiger zu sehen. Doch es wollte nicht, hatte mein Angebot verschmäht, und ich musste mich mit der Frage konfrontieren lassen, warum ich draußen Nahrungsmittel verstreute.

Dann eben nicht, hatte ich gedacht, und mich wieder vor den Rechner gesetzt, am Bildschirm vorbei auf den grauen Klotz gestarrt, der mich zu verhöhnen schien. Mistkerl.

Wochenlang hatte das Kaninchenchen sich nicht blicken lassen, als wollte es ein Zeichen setzen, als wollte es seine Unzähmbarkeit beweisen. Ich hatte verstanden, doch es kam nicht.

„Du musst doch was essen.“, hatte ich gemurmelt und im Geiste auf die Wiese gedeutet. Das war kein Gras, sondern Schnittlauch. Angeblich sei das pflegeleichter, hatte der Gärtner gesagt, und jedesmal, wenn er mit dem Rasenmäher vorbeikam, roch die ganze Firma nach Schnittlauch.
„Du kannst dich dich doch nicht nur von Schnittlauch ernähren.“, hatte ich gemurmelt und mir selber einen Halm abeknickt. Schmeckte gar nicht schlecht. Trotzdem.

Irgendwann, nach Tagen, hatte ich mich gefragt, ob es überhaupt existiert hatte, ob meine Sinne mir nur einen üblen Streich gespielt hatten, ob alles nur beginnender oder gar fortschreitender Wahnsinn war. Ich wusste es nicht mehr.

Und dann sah ich den Hasen wieder.

Kein Hase, natürlich, ein Kaninchen, ein Kaninchenchen, aber dennoch elegant, ungefangen, ungezähmt – wie ein Hase. Kein guter Vergleich, ich weiß. Adler wäre besser gewesen, doch Adler fressen kleine Nagetiere, und daran wollte ich erst gar nicht denken.

Ich sah es, und mein Herz hüpfte im Kaninchenchentakt. Da war es wieder! Mein Kaninchenchen!

Es hoppelte von dannen, hinter den grauen Klotz. ‚Zurecht‘, dachte ich beschämt. ‚Das Kaninchen gehört allein sich selber.‘ Und als hätte es meine Gedanken gelesen, kam es kurz zurück, hob den Kopf, streckte Ohren gespannt in die Höhe – und hopste wieder fort.

Ich schmunzelte. Dankte leise.
„Was grinst du denn so?“, fragte mein Kollege, und mein Schmunzeln verkroch sich nach innen.
„Nichts.“, sagte ich, schaute wieder auf den Bildschirm.

Als das Kaninchenchen das nächste Mal erschien, stahl sich jedoch erneut ein breites Lächeln auf mein Gesicht. Vorsichtig lugte es hinter dem grauen Klotz hervor. ‚Ich tu dir nichts.‘, dachte ich besänftigend, doch das Kaninchenchen blieb, wo es war. ‚Ich werde dich nicht verraten.‘, schwor ich. Das Kaninchenchen zögerte, doch dann hoppelte es heraus. Sonnenstrahlen wärmten sein Fell, es fand einen Grashalm, der sich zwischen den Schnittlauch verirrt hatte, und knabberte genüsslich.

Mein Lächeln blieb, und selbst, als das Kaninchenchen sich gemächlich wieder aus meinem Sichtbereich entfernt hatte, schien es nicht möglich, meine Mundwinkel in Normalposition zurückkehren zu lassen. Warum denn auch? Ich glühte innerlich vor Freude über dieses unscheinbare Wesen, das mich derart zu erfreuen wusste, gleißte förmlich im Angesicht meines klitzekleinen Geheimnisses, das ich – so wusste ich nun – mit niemandem teilen würde.

Und wem sollte ich es auch erzählen? Wir befanden uns im Dachgeschoss, in der vierzehnten Etage eines Bürogebäudes. Wer sollte mir da glauben, dass auf der Terrasse, jenseits der Schnittlauchbüschel, ein Hase lebte, der eigentlich ein unzähmbares Kaninchenchen war?

„Du grinst ja schon wieder.“, meinte mein Kollege, und ich zuckte mit den Schultern. Lächelnd.