Tageswort Nr. 50: Stuttgärtner

Seit drei Jahren wohne ich nun hier, und erst heute fiel mir auf, dass sich auf meinem Heimweg ein Buchladen befindet. Ein knuffeliger, echter, kein Weltbild-Quitschquatsch, keine Buchkettenfilialkasperei. Ein Buchladen.

Seit drei Jahren wohne ich nun hier, und es gelingt mir immer noch, mich inmitten der innersten Innenstadt orientierungslos zu fühlen – obwohl direkt an der nächsten Ecke Pflastersteine auf mich warten, die ich schon hundertfach mit meinen Schuhabdrücken veredelte.

Seit drei Jahren wohne ich nun hier, und noch immer glaube ich, mich nicht als Bestandteil dieser Stadt sehen zu dürfen. Die Bewohner machen es einem auch nicht leicht, geben sie sich doch oft genug verschlossen und verwehren sich Außenstehenden mit absurden Dialekten, deren Dechiffrierung mir zwar oft genug gelingt, die ich aber keinesfalls in meinem eigenen Wortschatz wiederfinden möchte, den Zugang zu ihrem Heiligtum.

Und doch: Zuweilen sagte ich „Kruschti“, wenn ich das Brötchen namens „Krusti“ bestelle – einfach, weil es so niedlich klingt. Und für die hiesigen Spezialitäten kann ich mich, insofern sie auf Vegetarismus herunterskaliert werden, durchaus mit Begeisterung füllen. Zudem scheue ich mich längst nicht mehr, meine Wohnung, meine hiesige Wohnung, inmitten dieser Stadt gelegen, als Heimat zu bezeichnen, also jeden Tag nach Hause heimzukehren, dorthin, wo ich mich – auch dies sei eingestanden – wohl fühle.

Natürlich fällt es mir leicht, mich wohl zu fühlen, solange es an meinem Aufenthaltsort Menschen gibt, die ich mag. Nun fällt es mir sicherlich auch leicht, nach drei Jahren fleißiger Miete die eigene Wohnung als einen Ort zu sehen, an dem ich mich selbst zu finden vermag, der also durch eigene Positivität auf die der gesamten Stadt abfärbt.

Und dennoch: Ich bin kein Stuttgarter. Vielleicht würde ich von Einheimischen auch niemals als solcher bezeichnet werden, doch wehre ich mich schon prophylaktisch und freiwillig gegen diesen Titel. Ich bin kein Stuttgarter.

Allerdings steckt mittlerweile ein bisschen Stuttgart in mir, ein kleines Gefühl des Hiesigen, ein bisschen Verbundenheit mit dem Hier.

Und dann fällt mir ein, dass Stuttgart seinen Namen vom einst hier befindlichen Stutengarten erhielt und daher noch immer ein Ross im Wappen trägt. Und dann fällt mir ein, dass im letzten Sommer meine beiden Terrassentomatenpflanzen über zweihundert Cocktailtomätchen produzierten.

„Ich bin ein Stuttgärtner.“, sage ich also und grinse in mich hinein.

Tageswort Nr. 49: Spreeaue

Das heutige Wort des Tages sei

Spreeaue

Seitdem ich das Wort vor mehreren Tagen zum ersten Mal las, geistert es mir durch den Schädel. Denn fünf hintereinander gereihte Vokale beeindrucken mich durchaus ein bisschen, und man ich musste mir schon einige Mühe geben, ein Wort zu finden, das ähnlich vokalintensiv daherkommt.

Beispielsweise ersann ich das Fortpflanzungsprodukt der allseits beliebten eierlegenden Wollmilchsau: Saueier. Das klingt aber ziemlich konstruiert, weswegen ich einfach mal Teeeier als real existierendes Konkurrenzwort zu Spreeaue erwähle.

Mühsam wird es, will man ein Wort finden, das nicht nur fünf, sondern sechs Vokale aneinanderreiht. Leider gab mein zermartertes Gehirn nicht viel Sinnvolles preis und wollte auch partout nicht von den Eiern abweichen. Falls also irgendjemand auf die Idee kommen sollte, Kleie zu Figuren zu formen, bitte ich um die Entwicklung diverser Kleieeier, die allein schon wegen ihres zweifachen ei-Lauts eine gewisse Ästhetik besitzen.

Tageswort Nr. 47: Humpelstilzchen

Der Nachtbus näherte sich, doch wir waren noch zu weit entfernt von der Haltestelle, um ihn problemlos zu erreichen. „Der Bus!“, rief ich, zeigte auf das abbiegende Gefährt und wollte damit beginnen loszurennen. Ich sprang, kam auf den Boden auf, fand meinen Fuß in einem Straßenbahngleis, knickte um – und spürte nur noch Schmerz.

Das Sternchen befand sich bereits mehrere Meter vor mir, während ich auf den Gleisen in mich zusammensank, einen Schrei unterdrückend oder ausstoßend, ich wußte es nicht. Der linke Knöchel zeigte ein unerträgliches Maß an Anwesenheit und ich kämpfte mich wieder nach oben. Das Sternchen bemerkte mich, fragte, was los sei, doch ich war nicht imstande zu antworten, biss die Zähne zusammen, um den Schmerz nicht hinauszubrüllen. Geht gleich vorbei, dachte ich, hoffte ich und humpelte von den Gleisen runter. „Ich muss mich setzen.“, stöhnte ich in Richtung des Sternchens, überlegte kurz, mich einfach auf den Betonboden niederzulassen, entdeckte dann am Haltestellenhäuschen gegenüber einen Platz, begann, in diese Richtung zu humpeln. Die Schritte schmerzten nicht, denn der Schmerz war konstant. Das Sternchen ergriff mich, zeigte mir den Sitzplatz direkt neben mir, auf dieser Seite der Gleise.

Ich nahm Platz, griff mir mit beiden Händen an den Schädel und biss die Zähne noch stärker zusammen. Mein linker Knöchel bestand nur aus Schmerz. Ich verkrampfte die Finger, versuchte, den Schmerz wegzudenken, wegzukämpfen, doch es gelang nicht. Der Sternchen war besorgt, doch ich hielt sie auf Abstand; erst einmal wollte ich selbst zur Ruhe kommen. „Zieh den Schuh aus.“, riet sie, und ich lockerte langsam die Schnürsenkel. Mühsam streifte ich die Schuh ab. Man sah nichts.
Kaum hatte ich den Schuh wieder angezogen, kam die Bahn. Wir stiegen ein und das Sternchen versuchte, mich dazu zu überreden, den Fuß hochzulegen. Ich weigerte mich, war zu stolz.

Am Alten Markt stiegen wir um. Das Sternchen hatte plötzlich Lust auf Mozarella, doch Karstadt schloß gerade. „Dann gehen wir eben noch kurz ins Allee-Center.“, überredete ich sie. Der Schmerz im Knöchel hatte nachgelassen, doch war noch immer präsent. Meinem Gehstil fehlte jede Eleganz; ich humpelte, sorgsam jeden Schritt setzend, langsam voran.

Im Allee-Center besuchte ich die Apotheke, erwarb zwei Kühlakkus und eine Salbe, die in solchen Fällen helfen sollte, und setzte mich dann auf eine Bank. Aus irgendeinem Grund war mir nicht danach, das Allee-Center zu durchqueren, um Mozarella zu kaufen. Das Sternchen kam bald zurück, brachte nicht nur Mozarella, sondern auch Erdnussflips und salzige Chips mit. Ein DVD-Abend stand bevor.

Wir begaben uns zu Haltestelle, eine 4 stand bereits da, doch ich weigerte mich zu rennen. War auch nicht nötig, wir erreichten sie trotzdem, stiegen alsbald um und erreichten die Videothek. Längere Suche war vonnöten, dann entschied ich mich spontan für „Hairspray“, weil mir nach Amüsanz war, und wir humpelten heim. Der Knöchel war geschwollen, wir salbten und kühlten, so gut es ging.

Der nächste Tag brachte nichts Neues; der Knöchel sah unverändert aus. Mein Laufstil war noch immer sehr unansehnlich. Ich beschloß, die Notaufnahme aufzusuchen. Es regnete, und Sternchens mühevoll herbeigezauberte Frisur schwamm hinfort. Der Arzt wünschte ein Röntgenbild, und ich humpelte durch unzählige Gänge bis zur entsprechenden Abteilung. Mehr als eine halbe Stunde lang saß ich untätig wartend herum, beobachtete Paienten auf Betten und in Rollstühlen, bis ich endlich an der Reihe war, mich meiner Fußbekleidung entledigte und fotografiert wurde. Eine Bleischürze reudzierte die Gefährdung potentieller Nachkommen. „Fertig.“, sagte die Schwester dann, und ohne ein weiteres, wegweisendes Wort wurde ich entlassen. Ich humpelte zurück und wartete auf den Neuaufruf beim diensthabenden Arzt.
„Nichts gebrochen.“, erklärte er nach einer Weile des Wartens. Eine Schwester stürmte herein: „Ich mach das schon.“, und in Sekundenschnelle erhielt ich einen stützenden Verband und durfte gehen. Naja, „gehen“ war übertrieben.

Zu Hause angekommen rief mich mein Bruder an. „Humpelstilzchen„, nannte er mich, und ich schmunzelte.

Tageswort Nr. 46

Damit die altbekannte Rubrik mal wieder Nahrung bekommt und ich daran gehindert werde, einfach nur ein einzelnes Wort unkommentiert in den Blog zu stellen, präsentiere ich nun das heutige „Wort des Tages“.

Selbiges fand ich in einer getippten Stichpunktliste, die mir noch nicht einmal gehörte, aber dafür sorgte, dass ich bei der zufälligen Lektüre laut lachen musste:

Krakenversicherung

Und so.

[Im Hintergrund: Isole – „By Blood“]

Tageswort Nr. 45: Äpfel und Engel

Und da war es wieder: Ein Wort, das sich in mein Denken schleicht, ohne daß sein Ursprung bekannt wäre

Abfüllanlage

sich vergnüglich eine Hörfehlerassoziation herbeisaugt

Apfelanlage

und sofort wieder von dannen huscht. Ich bleibe zurück, ein wenig verdutzt, mit der Frage auf den Lippen: „… und was soll das sein?“


Ein Ringschluß bildet sich, läßt mich schmunzeln. „Ein Teufelskreis!“, denke ich, doch schüttle den Schädel. Zu positiv das Gedachte.
„Ein positiver Teufelskreis?“. Ein Runzeln bedeckt meine Stirn. Und dann ein Lächeln der Erkenntnis mein Gesicht:
„Ein Engelskreis!“

Tageswort Nr. 44: Dreckeffekt

Mein Arbeitskollege ist verliebt. Vermutlich weiß er nicht davon, doch ich bin mir meiner Sache ziemlich sicher. Er liebt ein Wort. Kein gewöhnliches Wort, keines, das im Duden zu finden wäre, ja vielleicht sogar eines, das er selbst erfand.

Und immer, wenn kleinere Dinge nicht wie erwartet funktionieren und größere Funktionsprobleme mit sich bringen, spricht er es aus: Dreckeffekt.
Dreckeffekte sind es, die ihn grübeln lassen. Dreckeffekte scheinen unvorhersehbar, kaum vermeidbar zu sein. Dreckeffekte.

Das Wort mit seinem internen Reim, mit seinem doppelten K läßt sich voller Verachtung ausspeien, ohne daß es dazu einer besonderen Grimasse bedürfte. Es klingt gut, gut genug, um es sich einprägen und selber verwenden zu wollen.
In meinen Ohren tönt es nach, angenehm sogar, und fast möchte ich behaupten, selber dieses Wort zu lieben…

Tageswort Nr. 43: Telefonanruf

Soeben wurde in meiner Umgebung das Wort „Telefonanruf“ benutzt. Ich stutzte, als ich es vernahm und lächelte in mich hinein, stellte dieses Wort doch einen Pleonasmus dar, war „doppelt gemoppelt“. Ich überlegte, ob das Wort schon immer falsch oder einfach nur veraltet war. Als ich aber darüber sinnierte, welche anderen Arten von „Anruf“ es in der Vergangenheit gegeben haben könnte, wurde mir bewußt, daß die Moderne mit Voice over IP und ähnlichen Erfindungen die Möglichkeit schuf, jemanden mit technischen Mitteln anzurufen – ohne dafür ein Telefon zu gebrauchen.
Demnach ist das Wort „Telefonanruf“ überhaupt nicht hoffnungslos veraltet, sondern durchaus zeitgemäß. Bewundernd schaute ich dem Wortbenutzer hinterher und beschloß, selbiges zum Wort des Tages zu erklären.

Tageswort Nr. 42: Beistrich

Das Wort des heutigen Tages sei Beistrich.

Ich hörte, nein: las, heute zum ersten Mal davon und lernte, daß „Beistrich“ ein österreichisches Wort für „Komma“ ist. Da ich mir „Komma“ nicht herleiten kann und „Beistrich“ klingt wie ein verkürzter, also sehr kurzer, also kommaförmiger, also beistrichiger, Bleistriftstrich, entscheide ich hiermit, „Beistrich“ mehr zu mögen als „Komma“. Die Assoziationen zu „Beischlaf“ verdränge ich großzügigerweise, ebenso die Frage, warum der „Beistrich“ dieses „bei“ in sich trägt, also wozu gehört, neben welchem Dingens er stehen muß…

Tageswort Nr. 41: Cityfant

Das Wort des heutigen Tages fand ich nicht selbst, doch finde es derart entzückend, daß ich es mir frecherweise einheimste. Nun stehe ich hier und prahle damit, mal wieder ein bezauberndes Tageswort entdeckt zu haben, obgleich ich wenig dazu beitrug – außer der Lektüre einer Mail, die eben jenes Wort nicht nur beinhaltete, sondern gar als Betreff trug.

Dank gilt also der wundertollen Lily, die offenen Auges durch Magdeburg wandelte und dort einer Straßenreinigungsmaschine, die tatsächlich Cityfant hieß, begegnete. Internetrecherchen ergaben, daß in mehreren Städten Cityfanten durch die Straßen wuseln – und allein diese Vorstellung finde ich knuffig.

Wer auch immer sich das Wort erdachte und so frei war, eine Kehrmaschine damit zu bestückend: Merci.

[Im Hintergrund: The Dresden Dolls]