Der Busch

Ich war in Eile. Wie immer.

Wie immer hastete ich die Straße entlang, der Haltestelle entgegen, vorbei an parkenden Autos, an Gassi gehenden Hunden, an Bäumen und Schildern, die Welt ausgeblendet, auf mein Ziel fokussiert. 

Ich war bereits zu spät, wie immer. 

Meine Schrittlänge wuchs, mein Atem wurde lauter. Ich bog um die Ecke – und hörte den Busch. 

Es war ein dicker Busch, ein buschiger Busch, ein Busch, so satt und mächtig, dass ich nicht anders konnte als hinzusehen. Zu staunen. Und zu lauschen.

Denn der Busch war laut. 

Hunderte Spatzen wohnten zwischen Zweigen und Blättern und redeten, tschilpten, piepsten wild durcheinander. Es war ein wahres Getöse. 

Der Busch war laut. 

Von den Spatzen jedoch fehlte jede Spur. Irgendwo im Inneren des runden Gewächses verborgen hüpften und piepsten sie. Ich sah Zweige wackeln, Blätter sich bewegen, und manchmal glaubte ich, ein graues Flügelchen, einen winzigen Tupfer Orange, wahrzunehmen. 

Doch der Busch war laut.

Der Busch war laut, und mit jedem Schritt, den ich näher kam, wurde er lauter. 

Das müssen Hunderte Spatzen sein, dachte ich, und meine Eile trug mich näher und näher. Mehr und mehr piepsender Lärm drang in meine Ohren, stach in meinen Schädel.

Was für ein Krach!, dachte ich und blieb stehen. 

Hielt inne. 

Ließ Eile Eile sein. 

War zu spät – und lauschte. 

Es war ein wildes Pieps-Durcheinander, ein akustisches Blitzlichtgewitter, ohne Höhen und Tiefen, ohne Pausen und Stillen, ohne Sinn und Struktur. 

Doch halt! Je länger ich lauschte, je länger ich neben dem Busch stand und das Piepsen in mir aufnahm, desto mehr Formen erkannte ich, Muster, Wiederholungen. Waren das Sätze? Fragen? Wünsche?

Redeten die Spatzen miteinander, tauschten sie sich aus, teilten sie Geschichten und Gedanken?

Oder redeten sie gar mit MIR?

Das wilde Durcheinander formte sich, tausend Piepser blieben tausend Piepser und wurden dennoch eins: EIN Pfad, EINE Richtung, EIN Muster. 

Eine Stimme:

“Lauf weiter.”, sagte die Stimme mit Nachdruck. 

“Du kommst zu spät.”

Ich nickte, ließ den Busch zurück, ließ die Spatzen zurück – und hastete davon.

Frühaufsteher

Es war noch früh am Morgen, da befand ich mich bereits auf dem Weg zur Arbeit. 

Die Sonne reckte noch zögerlich ein paar ihrer Strahlen über den Horizont. Ich genoss sie, dennoch, lief zielgerichtet meinen üblichen Weg. Früher Vogel fängt den Wurm, dachte ich amüsiert. 

Wie jeden Morgen.

Ich mochte die Ruhe vor dem Tagesanbruch, das stille, gespannte Warten auf die Dinge, die da kommen würden – und mittendrin das dumpfe Stakkato meiner eiligen Schritte. 

Um diese Uhrzeit konnte alles passieren. 

An der Haltestelle begegnete ich dem Ei. 

Es lag ganz einfach da, auf der Sitzbank, und starrte mich an. Wie verletzlich es aussah, wie perfekt in seiner Rundung, wie wunderschön in seiner matten Weiße. Ich blieb stehen, neben ihm, betrachtete es. Starrte zurück.

Ein Ei. 

Einfach so. 

Es war nicht groß, stammte vielleicht von einem Huhn oder einem hühnerartigen Vogel. Ihm fehlte es an Maserung, an besonderen Farbtönen, an jeglicher Art auffälliger Merkmale.

Und doch, für mich, für mein zartes Gemüt, war es wunderschön. Hier lag Perfektion. Hier lag – Leben!

Der Bus kam. Bremsen quietschten, die Tür öffnete sich zischend. Der Fahrer sah uns an: das Ei; mich; grinste dann: 

„Wer von euch beiden war zuerst da?“, fragte er. 

„Ich.“, sagte ich rasch, bevor das Ei sich vordrängeln konnte.

„Ich.“, sagte ich noch einmal, bekräftigend, pickte nach ein paar Halmen auf dem Boden, scharrte kurz mit dem linken Fuß – und flatterte dann in den Bus.

Das 24. Türchen

Ich stand gerade vor dem Spiegel und betrachtete kritisch mein Äußeres, als mich der Weihnachtsmann besuchte
„Hohoho!“, sagte er mit tiefer, warmer Stimme, und es fühlte sich ein bisschen an, als käme ich nach Hause.
„Was wünscht du dir denn zu Weihnachten?“, fragte er mich, ohne lange zu zögern.
Ich zögerte auch nicht lange. Diverse Wunschzettel hatte ich bereits mit diesem einen Wunsch befüllt. Er lag mir auf der Zunge, glitzerte in meinen Augen, schwebte in jedem Wort, das ich sprach:
„Ich wäre gerne wunderwunderschön!“
Der Weihnachtsmann sah mich, musterte mich von oben bis unten. Seine gütiger Blick wurde kritisch, doch ich fühlte mich nicht unwohl, sondern vielmehr wie … gestreichelt. Es war, als krabbelten drei Meerschweinchen über mich hinweg.
Dann war es still. Der Weihnachtsmann hatte aufgehört, mich anzusehen und dachte nun nach. Unter der flauschigen, roten Bommelmütze bildete seine Stirn eine tiefe Denkerfurche.
Zeit verging, rannte davon, neue Zeit kam herbei, verging ebenfalls.
Dann nickte der Weihnachtsmann.
„Du warst in diesem Jahr besonders artig. Daher werde ich dir deinen Wunsch erfüllen.“
Sein weicher Lederhandschuh fuhr über mein Gesicht. „Schließ die Augen.“, sagte der Weihnachtsmann, und ich hörte das sanfte, gütige Lächeln, das in dieser Aufforderung steckte.
„Wenn du die Augen wieder öffnest, wirst du wunderwunderschön sein.“, versprach der Weihnachtsmann.
„Eins.“
Der Weihnachtsmann hatte zu zählen begonnen.
„Zwei.“
Ich fühlte ich warmes Kribbeln in meiner Brust.
„Drei.“
Ich öffnete meine Augen. Blickte in den Spiegel.
„Aber…“, sagte ich, schaute auf mein Spiegelbild, schaute auf den fröhlich lächelnden Weihnachtsmann, schaute wieder auf mein Spiegelbild.
„Ich sehe ja aus wie du!“
Der Weihnachtsmann nickte. „Wunderwunderschön“, sagte er zufrieden.
Er hatte recht.

Das 23. Türchen

Eines Tages begegnete ich einer Weihnachtskarte.
Vielleicht hatte jemand sie liegen gelassen, vergessen. Vielleicht hatte jemand sie einfach nicht gemocht und einfach an erstbester Stelle unauffällig entsorgt.
Die Karte jedenfall wirkte traurig. Sehr traurig sogar. Zwei kleine tränenfeuchte Flecken wellten bereits das Papier, und es lag mehr als nahe, besorgt zu fragen: „Geht es dir gut?“
„Nein.“, schniefte die Weihnachtskarte. „Mir geht es gar nicht gut.“
„Was ist denn los?“
„Ach.“, sagte die Karte. „Eigentlich nicht viel.“
Die Karte schniefte erneut. Das Papier wurde feuchter.
„Es ist nur … Ich fühle mich nutzlos. Ich liege hier, und niemand braucht mich. Ich fühle mich so unendlich leer.“
Die Weihnachtskarte blickte mich an.
„Ich wünschte, jemand würde diese Leere füllen.“
Die Karte schniefte ein drittes Mal.
„Ich wünschte, jemand würde mich beschreiben.“
Ich betrachtete die Weihnachtskarte. Sie war wirklich hübsch. Das Papier war fest, hochwertig und hatte Struktur. Auf der Vorderseite war eine dicke Schneeflocke mit riesigen Kulleraugen abgedruckt, die „Frohe Schnei-Nachten“ rief. Im Inneren befand sich nichts, nur eine riesige weiße Fläche, die sehnsüchtig darauf wartete, dass jemand sie mit Buchstaben und Wörtern füllte.
„Okay.“, sagte ich zu der Weihnachtskarte. „Ich werde dich beschreiben.“
„Wuhuu!“, freute sich die Karte und drehte mir ihre Innenseite zu.
„Du bist eine Weihnachtskarte im Format DIN A6, einfach gefaltet, aus schwerem Papier, vermutlich 210 Gramm pro Quadratmeter. Auf deiner Vorderseite befindet sich ein hochwertiger Vierfarbendruck, der niedliche Schneeflocke zeigt…“
Ich redete ungefähr 23 Minuten lang.
Ich hatte ein Talent für Beschreibungen.

Das 22. Türchen

Eines Tages begegnete ich einem Pups.
Er roch nicht sehr gut.
„Tut mir leid.“, sagte der Pups leise. „Ich rieche nicht sehr gut.“
Ich wollte antworten, doch war zu beschäftigt damit, die Luft anzuhalten.
„Ich kann nichts dafür.“, sagte der Pups.
Ich zuckte mit den Schultern. Viel mehr blieb mir nicht übrig.
„Wenn es nach mir ginge“, fuhr der Pups fort, „würde ich nicht stinken. Sondern ich würde wunderschön duften.“
Ich nickte langsam.
„Genau!“, bestätigte sich der Pups. „Ich würde gerne weihnachtlich duften.“
Prustend atmete ich aus. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten.
„Du duftest bereits weihnachtlich!“, erklärte ich.
„Waas?“, fragte der Pups, und ein dicker Stinkschwaden kroch in meine Nase.
„Naja.“, sagte ich. „In der Weihnachtszeit essen die Leute besonders viel und besonders schwer. Logischerweise müssen sie dadurch auch mehr pupsen.“
Ich widerstand dem Drang, mir die Nase zuzuhalten.
„Es gibt also nichts Weihnachtlicheres als Pupse!“
„Wuhuu!“, freute sich der Pups und umarmte mich innig.
Ich hielt erneut die Luft an.

Das 21. Türchen

Eines Tages begegnete jch einem Einhörnchen. Ich hatte tief und fest geschlafen und von Streuselkuchen geträumt, als plötzlich jemand in meinen Haaren herumwuschelte.
„Mmh.“, grüßte ich der Uhrzeit entsprechend eloquent.
Das Wuscheln ging weiter.
„Lassmichinruhe.“, nuschelte ich in mein Kopfkissen. „Schlafn.“
Das Wuscheln gewann an Intensität. Ich zwang mich, mein rechtes Auge ein wenig zu öffnen. Vor mir, direkt vor meinem Gesicht, saß ein flauschigrotes Fell.
„Gehweg.“, nuschelte ich müde. „Schlafn.“
„Entschuldigen Sie.“, sagte das Fell, „aber ich arbeite hier.“
„Mpf.“, antwortete ich. Um diese Uhrzeit ist mein Vokabular üblicherweise sehr beschränkt.
„Wissen Sie.“, fuhr das rote Flauschfell fort, „Ich bin ein fleißiges Eichhörnchen. Vielleicht das fleißigste weit und breit. Und daher tue ich das, was Eichhörnchen vor dem Winter immer tun: Ich verstecke Nüsse.“
Das Eichhörnchen begann wieder, durch meine Haare zu wuscheln.
„Haare.“, protestierte ich.
„Ihre Haare sind als Nussversteck sehr geeignet.“, bestätigte das Eichhörnchen.
Es wuschelte noch einmal kurz, dann gab es mir eine dicke, fette Kopfnuss.
„Au!“, rief ich, doch das rote Flauschfell war bereits verschwunden.

Das 20. Türchen

Eines Tages begegnete ich einem Plätzchenteller.
„Mmh, lecker.“, dachte ich, und bevor auch nur der Hauch eines weiteren Gedankens in meinem Kopf an Form gewonnen hatte, hatte ich eines der leckeren Plätzchen in meinen Mund gestopft und verschlungen.
„Mmh, lecker.“, dachte ich erneut, freute mich über den leckeren Plätzchengeschmack im Mund und betrachtete die übrigen Plätzchen auf ihrem Teller.
„Eins ist genug.“, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu den Plätzchen.
Dann begann mein Bauch zu grummeln.
„Nanu?“, wunderte ich mich.
Mein Bauch grummelte ich erneut. Ich beugte mich hinunter, hörte ganz genau hin. Fast klang es, als bildeten sich dort Wörter, fast klang es, als weinte dort jemand, als sei dort jemand einsam und allein.
„Sollte ich noch mehr Plätzchen essen?“, fragte ich laut in den Raum hinein. Das Grummeln meines Bauchs verstummte.
„Das Plätzchen in mir fühlt sich bestimmt einsam.“, dachte ich und aß ein weiteres. Und noch eins. Und noch eins. Und weil sie so gut schmeckten, ein weiteres.
Dann war der Teller leer. Ich lauschte meinem Magen, doch er schwieg. Anscheinend war niemand mehr einsam.
Ich wollte schon gehen, da fiel mein Blick auf den leeren Teller. Plötzlich, ohne seine Plätzchen, wirkte er sehr traurig. Und einsam.
„Na gut.“, sagte ich und verschlang auch ihn.

Das 19. Türchen

Es war eisig auf meinem Balkon, und der Wetterbericht hatte diverse Zentimeter Schnee angekündigt. „Ich muss was tun!“, sagte ich mir, schnappte mir einen dicken, fettigen Meisenring und montierte ihn fachgerecht am Geländer.
„Damit ihr nicht verhungern müsst.“, sagte ich zu den potentiellen Vögeln, die sich vermutlich alsbald an den Kernen im Meisenring laben würden.
„Danke.“, hörte ich eine Piepsstimme sagen und musste sämtliche Augen zusammenkneifen, um das kleine Wesen zu entdecken, das da vor mir auf dem Balkongeländer saß: ein Insekt!
„Wieso ‚Danke.‘?“, fragte ich verwirrt.
„Danke für den Meisenring.“, sagte das Insekt.
„Gern geschehen.“, antwortete ich reflexartig, bevor mein Denken einsetzte. „Aber der ist für die Vögel bestimmt!“
Das kleine Insekt schüttelte den Kopf, eine Bewegung, die ich mehr erahnte als sah: „Dieser Meisenring ist für uns.“
„Für uns?“, wollte ich fragen, doch bevor ich die Frage ausgesprochen hatte, krabbelten plötzlich auf dem Geländer zahlreiche weitere Insekten herum.
„Der Meisenring ist für Meisen!“, wiederholte ich.
Diesmal nickte das Insekt. „Für alle Arten von Meisen!“, bestätigte es.
Ich schaute mir einem Gesprächspartner und seine Freunde genauer an.
„Ihr seid Ameisen!“, stellte ich verblüfft fest.
„Und das ist ein Meisenring!“, rief ich in plötzlicher Erkenntnis.
Die Ameise nickte erneut. „Für alle Arten von Meisen.“
Verdutzt sah ich den zahlreichen Krabblern zu, wie sie den Meisenring erklommen und bevölkerten.
„Hier soll es hungrige Vögel geben.“, sagte ich leise und verabschiedete mich. „Passt auf euch auf!“

Das 18. Türchen

Eines Tages begegnete ich einem Eiszapfen. Glasklar und glitzerdünn hing er an einem Straßenschild und hmpfte.
„Wie bitte?“, fragte ich.
„Hmpf.“, machte der Eiszapfen. Dann noch einmal „Hmpf.“
„Ist alles okay?“, fragte ich ihn, doch abgesehen von ein paar weiteren Hmpfs war nicht viel aus ihm herauszubekommen.
Ich stand noch eine Weile herum und starrte ihn an, bis die Kälte begann, unter meinen Mantel zu krabbeln. „Machs gut.“, sagte ich und ging nach Hause.

Am nächsten Tag begegnete ich dem Eiszapfen erneut. Er hatte gehörig an Länge gewonnen, war riesengroß und prachtvoll, fast zwei Meerschweinchen lang. Ich blieb stehen, um ihn zu bewundern.
„Hallo.“, grüßte ich.
„Hmpf.“, sagt der Eiszapfen, doch diesmal schien ich ihn besser zu verstehen.
„Geht es dir gut?“, fragte ich.
„Hmpf!“, antwortete er, und für einen Augenblick wackelte das ganze Straßenschild.
„Kann ich dir helfen?“, fragte ich.
Der Eiszapfen hmpfte, das Straßenschild wackelte erneut, und ich hatte den Eindruck, als wäre der Eiszapfen ein Stück gewachsen.
„Du willst nach unten?“, fragte ich vorsichtig.
„Hmpf!“, rief der Eiszapfen voller Begeisterung und ließ das Schild stärker wackeln als zuvor.
„Kein Problem.“, sagte ich, und bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich hier eigentlich tat, hatte ich mit ganzer Kraft gegen das Straßenschild getreten.
Es wackelte mächtig!
Und dann begann der Eiszapfen zu fliegen, hatte sich losgelöst von seinem Schild, seiner Wurzel, flog direkt, in geradester Linie dem Boden entgegen, fing noch ein paar Wintersonnenstrahlen, glitzerte mich vergnügt an – und zerschellte dann klirrend auf dem Beton.
Ich hatte noch nie so einen fröhlichen Klang gehört. Es war, als befreite sich ein Lachen und hüpfte hinaus in die Welt.
„Hmpf.“, sagte ich zum Abschied und ging.

Das 17. Türchen

Eines Tages begegnete ich einem Lebkuchen.
„Hallo.“, sagte ich, denn Lebkuchen sind mir grundsätzlich sympathisch.
„Hallo.“, grüßte der Lebkuchen mit einer angenehm weichen Stimme.
Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Lebkuchenkommunikation und befand mich bereits jetzt in einer Dialogsackgasse.
„Du bist ein Lebkuchen.“, stellte ich unbeholfen fest.
Der Lebkuchen nickte sanft. Ich hatte noch nie einen Lebkuchen nicken gesehen, und wenn ich nicht schon vorher um Worte verlegen gewesen wäre, hätte mir der Anblick die Sprache geraubt. Das Lebkuchennicken sah zugleich anmutig und niedlich aus, irgendwie süß und … lecker?
„Ich bin ein Lebkuchen.“, bestätigte der Lebkuchen. „Genauer: Ein Elisenlebkuchen.“
Ein Elisenlebkuchen! Das hätte ich früher sehen müssen. Die runde Form war unverkennbar.
„Mach dir nichts draus.“, sagte der Lebkuchen, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Das geht allen so.“
Der Lebkuchen seufzte. „Niemand achtet auf mein Äußeres.“
„Aber…“, wollte ich entgegnen, doch der Lebkuchen fuhr fort:
„Menschen sind nunmal so. Sie achten nur auf das Innere. Das Äußere ist ihnen egal!“
Der Lebkuchen blickte mir in die Augen.
„Sieh mich an. Schau auf meine wunderschöne Rundung, schau, wie gleichmäßig sich die Vollmilchschokolade auf meinem Körper verteilt, schau, wie gewitzt der Oblatenboden unter mir hervorragt, schau, wie formvollendet und handlich ich bin, schau!“
Ich schaute.
„Du schaust nicht richtig, nicht mit den Augen. Du schaust mit deinem Bauch, mit deiner Nase. Du schaust mit deiner Zunge, mit deinem Kopf. Du spürst die sättigende Verlockung, die in mir wohnt. Du riechst, wie sich mein süßlich feines Aroma aus meiner Mitte entspringend in die Lüfte erhebt. Du ahnst bereits jetzt, wie wundervoll sich mein Teig auf deiner Zunge anfühlen, wie lecker meine Zutaten schmecken werden. Dein Kopf ist angefüllt mit Gedanken, die allesamt auf mein Inneres gerichtet sind, auf meine unwiderstehliche Süße, auf meinen herrlichen Geschmack, auf das spielerische Bröseln beim Teilen meines Teigs, auf die wohlige Sattheit, die ich mit mir trage.“
Der Lebkuchen seufzte erneut.
„Doch auf mein Äußeres achtest du nicht.“
Der Lebkuchen hatte recht! Es hätte nicht seiner Beschreibung bedurft, denn längst sogen meine Nasenlöcher gierig seinen Duft ein. Längst hatten sich Speichelpfützen der Erwartung auf meiner Zunge gebildet. Längst knurrte mein Magen vor Sehnsucht. Längst hatte ich mir vorgestellt, wie befriedigend es wäre, endlich in diesen deliziösen Lebkuchen beißen zu können.
Nein!, mahnte ich mich. Ich musste Abstand wahren, musste auch das Äußere des Lebkuchens betrachten!
Ich räusperte mich, nahm mich zusammen, betrachete das warme Schokobraun, glitt mit den Blicken an den Kurven entlang, erhaschte vergnügt Spuren der hervorschauenden Oblate, lobpries die Schönheit des Lebkuchens in Gedanken.
Ein Gedicht wollte ich sprechen! Ein Lied wollte ich singen! Nur um die Pracht des Lebkuchens zu ehren. Worte sprudelten in mich hinein, wollten voller Stolz, voller Zuneigung, voller Liebe verkündet werden. Ich wollte dem Lebkuchen antworten, doch ich konnte es nicht.
Mein Mund war voll mit Lebkuchenteig.