Morgenwurm 58: Traurig

‚Das ist einer dieser Tage.‘ denke ich und verkrieche mich tiefer unter der Decke. Sie ist weich und warm und in diesem Augenblick mein Universum.
‚Ich bin traurig.‘, wird mir plötzlich bewusst, denn auf meiner Brust liegt ein schwerer Kloß aus… Ja, woraus denn bloß. Wenn es Sehnsucht ist, dann ist sie unbestimmt, namen- und gesichtslos. Wenn es Erinnerung ist, so fehlt das Bild in meinem Kopf, das mich zu Tränen rührt oder tiefstes Seufzen erwirkt.
‚Vielleicht ist es das Lied.‘, überlege ich, denn in meinem Ohr klingt fragil das Fragment eines Songs herum, tänzelnd träge durch eine Schleife, wieder und wieder.

„And she walks like you
And she smiles almost like you
A child of the wild just like you“

Wie das Lied mich fand, weiß ich nicht. Es ist Tage her, seitdem ich es zuletzt vernahm, und auch wenn der Text mich berührt, so wurde er doch nicht aus meinem Dasein geschnitten.
‚Vielleicht ist es doch Sehnsucht.‘, denke ich und stehe auf, leise zu meinem Ohrwurm singend.


Pain Of Salvation – „Sisters“

Morgenwurm 57: Regen

‚Regen.‘

Mein erster Gedanke galt dem Wetter. Nicht dem Wecker, der mit unbeholfener Samtheit mein träumendes Gemüt in die Wirklichkeit zu holen versuchte. Nicht dem kommenden Tag oder den soeben verlebten Imaginationen. Nein, dem Wetter.

Dem Draußen fehlte der Klang allmorgendlich zwitschernder Vögel. Statt dessen vernahm ich ein Geräusch, das weder Rauschen noch Plätschern war und vermuten ließ, dass derzeit eine nicht geringe Zahl an Tropfen den Weg von fernen Oben ins willkommen heißende Gras fand.

Die Luft war grau, und die digitalen Zahlen auf der Uhr waren bereits zu sehr angewachsen, als dass ich es noch auf die frühe Stunde, auf das Grauen des Morgens, hätte schieben können. Farben wagten sich bei diesem Wetter nicht aus ihren Verstecken.

‚Regen.‘, dachte ich und fühlte mich wie ein verschlafener Sherlock.

Als ich schließlich losfuhr, als ich die Badezimmer- und Frühstücksprozedur hinter mir gelassen hatte und in ausreichend schützender Verpackung auf dem Fahrrad saß, hatte der Regen aufgehört.

‚Von wegen.‘, dachte ich und freute mich über den winzigen Reim.

[Und bei alledem begleitete mich ein Lied, das ein wenig zum Draußen zu passen schien:]

Nine Inch Nails „All The Love In The World“

Morgenwurm 56: Vereint

Und dann ist es Abend, später Abend, und meine Augen verweigern sich der Welt. Lider suchen das Unten, und jeder Gedanke kriecht bleiern durch den Schädel.

Dennoch ruft die Tat. Plötzlich, wissend, dass der Tag seinem Ende entgegenflieht, entspinge ich mir selbst, entraube mich dem kommendem Schlaf. So viel ist zu tun, so wenig ward geschafft. Plötzlich bewegen sich meine Hände, Finger wirken Linien, Tasten klappern, weil Buchstaben geschrieben sein möchten. Das Morgen lauert bereits hinter dem Dunkel, und – ach – so viele Vorbereitungen wären noch vonnöten, so viel Heute noch zu befüllen.

In emsiger Geschäftigkeit eile ich umher, verliere mich in Gleichzeitigkeit, erinnere mich, während ich vergesse, und handle, agiere, treibe voran. Alles sollte geschehen, jetzt, hier, bevor mir der Tag entronnen sein wird.

Irgendwann halte ich inne. Die Uhr droht mit rotem Leuchten, und Vernunft ruft mich zwischen Decke und Laken.
Doch noch immer stehe ich nicht still. Ich gedenke meines zukünftigen Ichs, dem Wesen, das morgen nach allzu kurzer Rast neu erstehen wird, gedenke seiner lächelnd und mit einer Spur von Mitleid und beschließe, ihm ein Geschenk zu machen. Ich werde ihm Minuten schenken, überlege ich, vielleicht nur Sekunden, eine Kleinigkeit, doch möglicherweise genug, um die ersten Schritte in das Kommende ihrer Schwere zu berauben.

Und schmunzelnd lege ich mir morgige Kleidung bereit, sortiere sie gar nach der Reihenfolge des Anlegens, wechsle in die Küche, wo ich dem immer näher rückenden Frühstück den Weg bereite, so dass dem morgigen Ich nur wenige Gesten genügen werden, um sich versorgt zu wissen.
Viel zu spät, doch noch immer mit dem Hauch eines Lächelns bestückt, bette ich mich schließlich nieder, schließe die Augen, die das Geschenk des Schlafes rasch und dankbar annehmen.

Der neue Tag beginnt mit lärmender Zeit. Meine Laune schläft noch, meine Sinne meiden jedes Licht. Erst als Heißwasser mich zu wecken beginnt, erwacht auch mein Lächeln. Heimlich danke ich dem vergangenen Ich und schlüpfe in die bereitgelegte Kleidung. Weiterer Dank entströmt mir, als nur wenige Handgriffe später das Frühstück meinen Mund findet und ich mit neuem Lebensgeist beseelt das neue Heute empfange.

Der Tag wird lang, und mein Haupt wird viel zu spät in die vertrauten Kissen sinken. Doch Morgen und Abend wird ein Lächeln vereinen, vom heutigen Ich an das morgige, vom gestrigen Ich an das heutige weitergereicht.

Und zwischendrin entdecke ich das Lied, das seit dem Erwachen in meinen Ohren tönt:

Dead Soul Tribe – „In A Garden Made Of Stones“

Morgenwurm 55: Traum

Ich träumte. Der Wecker bemühte sich emsig, mich der Nacht zu entreißen, doch ich träumte, schuf innerhalb zweiminütiger Klingelpausen Halbromane und Skurrilwelten, die mit jedem Weckerläuten einen neuen Anfang fanden.

Also stand ich in irgendeinem Supermarkt an der Kasse, wartete zusammen mit meinem mexikanischen Kollegen M darauf, bezahlen zu können. Hinter M stand B, ebenfalls Kollege, aus Osteuropa stammend. Er hatte sich ein paar bereits braunende Minibananen und Eiskonfekt besorgt und legte seine Waren auf das Transportband. Das Eiskonfekt war nicht verpackt, bestand nur aus einzelnen Konfektstücken, nackt auf das Band geworfen.

Anscheinend hatten wir Mittagspause, doch was sich M und ich zur Nahrungsaufnahme ausgesucht hatten, war auch nicht besser. Angeblich war es Honigmelone, doch auf meinen Traum zurückblickend gestehe ich, dass die Schale viel zu dünn war für eine Melone. Und nicht nur das: Wir hatten von unseren Melonen bereits entscheidende Teile während des Einkaufens verspeist, so dass der freundlichen Kassiererin beim Abwiegen nichts weiter übrig blieb, als zu schätzen. Dass sie mein Melonengewicht verdoppelte, traf es ziemlich genau. Doch sobald ich bezahlen wollte, hatte sich M sich in zwei Personen verwandelt: In Michaela und Ute, auch als @frauenfuss und @UteWeber bekannt.

Michaela lud, offenherzig wie sie nun einmal ist, mich dazu ein, die Mittagspause in Utes Domizil zu verbringen. Nur leise sollte ich sein, denn die beiden Kinder schliefen.

Ich ließ B, Supermarkt und Lärm zurück und betrat die Wohnung. Nach einem kurzen, hellen Eingangsbereich, der mit bunten Elementen gespickt war, die eindeutig auf das Vorhandensein von Kindern hinwiesen, kamen wir in einen Vorgarten. Mein Traum konnte sich nicht entscheiden, ob er gläsern überdacht war oder sich unter freiem Himmel befand. Sicher war, dass auf einem saftiig grünen Wiesenstück eine Matte lag, die schon fast eine Matratze war. Diese wiederum wusste nicht, ob sie eierschalgelb oder himmelblau sein wollte, doch präsentierte sie sich sehr einladend. Ute und Michaela waren bereits vorausgegangen, als der Wecker mal wieder klingelte und den Traum zerriss.

Ich seufzte innerlich und stand auf. In meinem Kopf wartete bereits ein Ohrwurm, mich zu begrüßen

Sentenced – Aika Multaa Muistot

Morgenwurm 54: Hyper

Der Tag begann zu spät. Eine Stunde lang war es mir gelungen, die freundlichen Hinweistöne des Weckers zu ignorieren und mit mir ins Traumreich zu nehmen. Doch dann rief mich der Morgen, riss mich aus der weichen Umklammerung der Nacht. Gemächlich stand ich auf. ‚Zu spät!‘, zischte es mir durch die Gedanken, doch zuckte nur mit den Schultern. Es spielte keine Rolle.

In meinen Gedanken nistete noch immer das Wochenende, gebar ein Schmunzeln in meinem Gesicht. Und von irgendwo fand mich auch ein Ohrwurm, begann mit mir den Tag und ließ ihn später mit mir ausklingen.


Muse – „Hyper Music“

Morgenwurm 52: Anfang

Der berühmte erste Schritt.

Nicht umsonst werden Montage verachtet. Eine neue Woche beginnt, und es fällt schwer, die nötige Zuversicht aufzubringen, um ihr begegnen zu wollen. Das Wochenende lächelt noch heiter in gestrigen Gedanken.

Nicht umsonst werden Morgende verachtet. Das unsanfte Entreißen aus traumwarmen Welten hinein in Wirklichkeit und Pflicht.

Und doch.

Ich mag es, wenn die Woche anbricht, wenn Erlebtes noch im Herzen schlummert und weiteres darauf wartet, gefunden zu werden. Ich mag es aufzuwachen, mag es einen neuen Tag zu erahnen, seine Möglichkeiten mich locken zu lassen.

Und doch.

Die wärmende Weichheit der Decken klammert sich an mich fest, und nur die Verlockung auf weitere Hitze, feucht auf mich herabregnend, überredet mich, den ersten Schritt zu tun. Der kein Schritt ist. Eher ein Sturz ohne Aufprall.

Als ich dem dampfenden Badezimmer entweiche, findet mich die Kälte. ‚Gib dir keine Mühe.‘, denke ich. ‚In wenigen Minuten bin ich ohnehin bei dir, draußen, wo Minusgrade an meinem schützenden Körperwulst knabbern und mein Rad mich durch den Winter trägt. Gibt dir keine Mühe.‘

Kaum habe ich die ersten Kleidungsstücke übergeworfen, schweigt die Kälte, wartet auf ihren großen Moment. Geduldig lässt sie mich gewähren, mein Frühstück vertilgen und dem Lied in meinen Ohren lauschen.


Solstafír – „Fjara“

Morgendlicher Ohrwurm 51: I remain

Das Erwachen erwies sich als schwierig. Der Wecker gab sein Bestes, dudelte alle paar Minuten eine unspektakuläre Melodie, die mich immerhin meine Hand bewegen und ihn vorübergehender Stille zuführen ließ. Die Wärme des Bettes umarmte mich liebevoll, als wollte sie mich niemals gehen lassen wollen.

„Draußen ist es kalt.“, schien sie zu sagen. „Eiskalt.“

Ich öffnete die Augen. Der Wecker hatte bereits ein paar Minuten lang geschwiegen und würde sicherlich alsbald einen neuen Versuch wagen. Ich kam ihm zuvor, entriss mich der wohl weichen Bett-Tentakeln und sprang dem Tag entgegen. Das Bett hatte recht: Draußen war es kalt. Eiskalt.

Der gestrige Schnee verweilt noch immer auf Wegen und Wiesen, und das Thermometer präsentierte mir mit unübersehbarem Stolz ein dickes Minus vor der Acht. Ich öffnete die Terrassentür. Draußen war es kalt.

Unter der Dusche fand mich die wohlige Wärme erneut. „Bleib noch ein bisschen.“, schien sie zu plätschern. „Draußen ist es kalt.“ ‚Eiskalt‘ ergänzte ich in Gedanken, entschlüpfte den flüssigen Tentakeln, streifte kurz das Handtuch und warf mich in die Kleidungsstücke, die bereits auf mich warteten. ‚Danke, gestriges Ich.‘, dachte ich, und in Sekundenschnelle war ich der Kälte entflohen, die allmählich das Schlafzimmer befüllte.

Frühstück und ein heißer Tee fanden meinen Magen und trieben den letzten Rest Kälte aus mir heraus. Mit dem Föhn entriss ich meinen Haaren die Nässe, und dann war ich bereit. Bereit für die Kälte.

Die längst abgelaufene Monatskarte startete einen letzten Versuch. „Draußen ist es kalt.“, meinte sie und wollte erneuert werden. Ich schüttelte mit dem Kopf.

Wenige Minuten später saß ich auf dem Fahrrad, preschte über festgefahrenen Schnee und gestreute Fußwege, in funktionaler Kleidung verborgen. Eiskalter Wind peitschte mir ins Gesicht. ‚Draußen ist es kalt'“, dachte und grinste.

Und währenddessen klang mir ein Lied in den Ohren, das mir gefiel: Paradise Lost mit „I remain„. Ich wunderte mich wenig, hatte ich doch dem dazugehörigen Album erst am Vortag mehrfach gelauscht.

 

Morgendlicher Ohrwurm 50: Engage

Beinahe hätte ich es geschafft, mich selbst zu verhohnepiepeln [Allein für dieses Wort war es schön, diesen Satz geschrieben zu haben.] Der Wecker hatte seine Klingelei bereits überstanden und mich aus nicht erneut abrufbaren Träumen gescheucht. Und doch lag ich noch immer hier, in das Gefühl gestopft, gerade aufzustehen, obgleich mein regloser Körper unter verlockend nachtwarmer Decke keiner Bewegung frönte und meine Augenlider langsam gen einlullender Schwärze sanken. Gerade mal fünf Sekunden konnten vergangen sein, da schreckte ich auf, starrte auf die fehlenden Minuten, die die leuchten Zeitanzeige verschlungen haben musste, und sprang aus dem Bett, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Das grelle Badezimmerlicht fand mich, und mit ihm ein Lied aus der Vergangenheit.

Chase The Dragon – „Engage“

Morgendlicher Ohrwurm 49: Aufstehen

Manchmal vergesse ich, dass ich Aufstehen mag. Ich mag es, nicht lange zu zögern und bereits bei den ersten Weckerlärmversuchen aus dem Bett zu fliehen und den gen Bad zu stürzen. Ich bin nicht wach, doch die Dusche ändert das. Langsam öffnen sich meine Sinne, und wenn ich Glück habe und mich die Müdigkeit nicht allzu sehr lähmt, gedeihen bereits die ersten Ideen in meinem Kopf.

Wohlig gewärmt und gründlich gereinigt schlüpfe ich in die Kleidungsstücke, die mein vergangenes Ich freundlicherweise bereitlegte. Ich danke ihm und genieße das Gefühl frisch gewaschener Stoffe auf meiner Haut. Ich beeile mich, nicht viel, nur genug, um der kühlen Luft, die durch die offene Terassentür in das Schlafzimmer und an meinen Körper dringt, keine Gelegenheit zu geben, mich frieren zu lassen.

Dann frühstücke ich. Ich lasse mir Zeit, liebe es, den Tag mit entspannter Ruhe einzuläuten, nicht alle kommenden Aufgaben umgehend nach dem Aufstehen auf mich einstürzen zu lassen. Und auch wenn das Frühstück nicht immer hochwertig ist und allzu oft nur Müsli in meinem Mund zermalmt wird, so reicht es doch, um mich angenehm zu füllen und das Gefühl zu bestätigen, dass dies ein guter Tag werden könnte.

Und dann finde ich den Ohrwurm in meinem Kopf, entdecke, dass es nicht einer, sondern zwei sind – und dass mir beide gefallen. Leise singe ich mit, springe von einem zum anderen Lied, von Katatonia Omerta“ zu Ethereal BlueGoliadkin“ und laufe vergnügt durch die erwachende Stadt.