Zugfahrt

Die Landschaft rauscht an den Fenstern vorbei und klingt nach der Musik in meinen Kopfhörern. Um mich füllen Menschen den Wagon mit Wörtern, doch mein Blick klebt in der grünen Ferne, die stumm grüßend vorüberzieht. Blauer Sonnenhimmel hüllt Bäume und Felder in Pracht, und ein Lächeln entwindet sich mir. ,Ich mag es noch immer.‘, denke ich, während ich inmitten eines Kolosses pfeilgleich durch die Landschaft pflüge und zahllose Hiers in meinen Augenwinkeln aufblitzen.

Eine Frau in 80er-Jahre-Glittershirt sucht auf dem schmalen Gang zwischen den Sitzen ihr Gleichgewicht und geht in Richtung Bordbistro. Als wenige Augenblicke später ein Mädchen aus dem Bistro hinaus an mir vorbeigeht, nistet sich ein alberner Gedanke in mir ein: Was wäre, wenn sich die Frau dort hinten in das Kind verwandelte?
Ein Spiel entsteht, und plötzlich verwandeln sich Schnauzbartmänner in Übergewichtsdamen, stolzierende Rentnerinnen in telefonierende Bierflaschenträger, Polizisten mit Pistolen in schwer bepackte Rucksacktouristen.

,Ich mag es noch immer.‘, denke ich, während mich Bildschirm und Kopfmusik von der Masse trennen, in der ich versank.

Dein Parfüm weht vorbei, klebt an einer Fremden, und mir ist, als säße ein Gestern neben mir, reichte mir ein wohliges Sehnen als Geschenk für die Fahrt durch das Jetzt. ,Danke.‘, schmunzle ich und lasse mich von sanftem Erinnern wärmen.

Auf den Sitzen um mich herum hängen Geschichten, und mich drängt es, sie niederzuschreiben, sie zu erzählen, sie unbedeutenden Details zu entlocken und in Worte zu gießen. Plötzlich hat alles Bedeutung, jede Geste, jedes Kleidungsstück, und regungslos lasse ich mich von den Möglichkeiten überwältigen.

,Ich fahre heim.‘, stelle ich irgendwann fest, und auch, dass ich das Wort Heimat noch immer nicht definierte, dass es in seiner Bedeutung schwankt.
,Vielleicht bin ich es selbst.‘, überlege ich und lasse den Zug meine Heimat durch warmes Abendlicht tragen.

Fehmarn

„Hier riecht es nach Algen.“ Der stete Wind trägt die Worte einer älteren Frau zu mir, lenkt meine Blicke nach oben. Dort steht sie, zeigt auf die See hinaus, wo Wellen sich aneinanderschmiegen und die wenigen Sonnenstrahlen zu erhaschen versuchen, die sich zwischen den Wolken durchzwängten. Am Himmel türmen sich graue Berge, doch keiner von ihnen wagt es, Regen zu tragen. Nur Form und Spiel über dem endlosen Tanz der Wellen.

Ich sitze im Sand, hier, wo er allmählich zu Kies, zu Steinen, wird, inmitten der Mulde, die mein Anwesenheit erschuf, einem Abdruck meines Gesäßes, hier am Strand, wo sich irgendwo Bernsteine und vielleicht sogar Perlenmuscheln verbergen, hier, wo innezuhalten ich mir vor einer unschätzbaren Anzahl an Minuten einer Laune folgend gestattet hatte.

Als wolle es mein Wohlbefinden verraten, knistert geleerte Keksfolie in meiner Hosentasche, als ich mich ein wenig aufrichte. Ich schmunzle beim Gedanken, der Welt ein Negativ meines Gesäßes zu hinterlassen, schmunzle über die ungünstige Wahl meines Ruheplatzes unter rauschenden Bäumen, die jeden Sonnenkitzelversuch scheitern lassen, schmunzle beim Gedanken an das Wasser, dessen Kälte bisher nur meine Füße fand – und meine Feigheit, mich tiefer in die am Kiessand leckende Ostsee wagen zu wollen.

Neben mir liegt ein Buch, gerade zwei Tage alt und schon verbraucht, von meinen Augen vollkommen durchforstet, und belädt sich mit neugierigen Sandkörnern, die ich noch Wochen später in meinem Regal entdecken werde. Die mich erinnern lassen werden.

Mein Rücken lehnt an Stein und dankt dem Meer, das ihn jahrhundertelang geduldig von störenden Kanten befreite. Auch mein Fahrrad, zwei Euro pro Tag, beige und jenseits von Schönheit, lehnt an diesem Stein, wartet geduldig auf seinen weiteren Einsatz, auf die restlichen zehn oder fünfzehn Kilometer, die der Tag noch mit sich bringen wird. „Mops“ habe ich es genannt, weil es schwer und klobig ist und mich dennoch klaglos über schmale Feldpfade und windbetoste Landwege trug.

Doch im Augenblick brauche ich es nicht. Im Augenblick sitze ich hier und lausche dem Nachhall, den das Buch in mir hinterließ, lausche dem Rauschen der Wellen, lausche dem Wehen des Windes, lausche dem Knistern in meiner Hosentasche, lausche der Lautlosigkeit meines genießenden Schmunzelns.
Lausche der älteren Frau oben auf dem steinernen Plateau, oben im aufblitzenden Sonnenschein, oben, wo sie ohne konkretes Ziel auf die See hinausdeutet. Das grellrote Leuchten ihrer Allwetterjacke paart sich, lässt nun auch die ihres Mannes erscheinen, der die Worte stumm beantwortet.

„Natürlich riecht es nach Algen.“, sagt er nicht und weist nicht auf den Strand, an dem die Algen sich zu langgestreckten, grünbraunen Bändern sammelten. „Vielleicht ist es aber auch Tang.“, sagt er nicht und kichert auch nicht insgeheim beim Gedanken an Tang-Enten.

Ich kichere an seiner statt.

„Im Westen der Insel gab es das nicht.“, sagt die weibliche Allwetterjacke noch, dann schließe ich meine Augen und lasse den steten Wind meine Gedanken davonwehen.