Bahnsteig

Er wartete.
Musik tanzte durch seine Ohren, und seine Geduld war groß. Vielleicht hätte sie größer sein können, vielleicht war sie mittlerweile ein wenig geschrumpft, doch noch immer spürte er ihre Ruhe, die warm und sanft jede innere Aufregung verhüllte.
Sein Buch hatte er bereits ausgelesen. Es war ohnehin nicht sehr gut, doch nun war er fertig, und sein Kopf, seine Augen, brauchten eine neue Beschäftigung.
Sein Blick fiel auf die Digitalanzeige. Noch sechs Minuten.
Er atmete langsam ein und aus.

Vor zehn Minuten hatte die Anzeige behauptet, die U-Bahn würde in sieben Minuten eintreffen. Pro Minute zehn Minuten. In sechzig Minuten wäre sie hier. Zuzüglich 23 Minuten Fahrt und fünf Minuten Fußweg. Dann wäre es 16.19 Uhr, und er wäre immer noch in einem akzeptablen Maße pünktlich.
Er rechnete.
Wenn er nervös war, rechnete er. Die nüchterne Klarheit der Zahlen half ihm, ruhig zu bleiben. Besonnen zu bleiben. Sich keine Sorgen zu machen.
Er hatte noch immer Zeit, mochte es, früher anzukommen, pünktlich zu sein, meistens sogar mehr als pünktlich.
Warum bin ich nicht ein paar Minuten früher losgegangen?, ärgerte er sich. Er hatte die letzte U-Bahn noch abfahren gesehen, ihre roten Hecklichter, wie sie vom Tunnel verschluckt wurden. Hatte sich hingesetzt und auf die nächste Bahn gewartet.
Die längst da sein sollte. Die gleich kommen würde. In sechs Minuten. Oder sechzig.

Fünf.
Die Anzeige hatte gewechselt. Der Zehn-Minuten-Rhythmus war gebrochen. Er schöpfte neue Hoffnung. Die Bahn würde gleich kommen. Vielleicht schon in 12 oder 15 Minuten. Vielleicht sogar eher.
23 Minuten Fahrt, fünf Minuten Fußweg. Das Ziel lag nahe.
Die Musik in seinem Ohr war plötzlich viel zu laut. Er pegelte sie runter und fragte sich kurz, wieviele Lautsprecherdurchsagen er wohl verpasst hatte.
Egal.
Die Bahn war unterwegs, würde in fünf Minuten ankommen. Vielleicht auch in fünfzehn. Oder fünfzig.
Bald.

Er wartete.
Der Bahnsteig war leer, merkte er jetzt. Niemand war hier, um mit ihm zu warten. Um die fünf Minuten auszuharren, einzusteigen und irgendeinem festgelegten Ziel entgegengetragen zu werden. Niemand. Dabei waren es nur noch fünf Minuten.

Vier.
Vier!
Er konnte sein Glück kaum fassen. Zwischen den letzten beiden Änderungen der Anzeige hatte jeweils nur eine Minute gelegen.
Die Bahn war zu spät, das war klar, viel zu spät. Aber jetzt würde sie kommen, konnte jeden Moment eintreffen, hatte ihren alten Schwung, ihren alten Rhythmus, wiedergefunden und näherte sich.

Die Anzeige fiel aus.
Plötzlich war alles schwarz. Kein Ziel war zu erkennen, keine U-Bahn-Nummer, keine Minutenzahl. Noch nicht einmal die unnötige Warnung vor Glatteis an den Bahnsteigen erschien noch. Er hatte sie bereits zwölf Mal gelesen, und war ein bisschen froh darüber, dass ihm ein weiteres Mal erspart blieb.
Er stand auf. Sah auf seine Uhr. Sah auf den beleuchteten Schaukasten, hinter dessen Scheibe der papierne Fahrplan klebte.
Er nützte nichts, das wusste er. Doch es half zu wissen, dass die Bahn hätte längst hier sein müssen. Dass sie gleich kam. In vier Minuten. Oder mittlerweile vielleicht sogar drei.
Drei Minuten, 23 Minuten Fahrt, fünf Minuten Fußweg. Alles war in bester Ordnung.
Und notfalls gab es noch die nächste Bahn.
Die natürlich auch längst hier sein sollte.
Die ebenfalls Verspätung hatte.
Die noch kommen würde.
Die sicherlich ebenfalls noch kommen würde.

Es rauschte im Tunnel.
Die Bahn kam!
Wie gebannt starrte er in das undurchdringliche Schwarz, in dem jeden Augenblick zwei grelle Lichtpunkte erscheinen würden. Die Haltestelle lag hinter einer Kurve, und er wusste, dass er erst wenige Momente vor der Ankunft der Bahn überhaupt fähig wäre, irgendwas zu sehen. Doch er schaute. Und wartete.
Das Rauschen wurde stärker. Die Lampen am Bahnsteig flackerten kurz, einmal, zweimal, fingen sich wieder.
Er vermisste die Lautsprecheransage, vermisste ihren Hinweis, vom Bahnsteig zurückzubleiben und die Aussteigenden zuerst passieren zu lassen. Doch vielleicht hatte er sie überhört, unter den sanft in seinen Ohren dahindudelnden Klängen begraben.

Da! Die Lichter!
Die Bahn kam, hielt, wie sie immer hielt, undramatisch, ohne quietschende Bremsen, ohne Lärm und Radau, öffnete ihre metallenen Pforten und ließ ihre Kurzzeitbewohner aus- und einsteigen.
Alles war gut.
Niemand stieg aus. Er wartete einen Augenblick, sah sich um, doch niemand stieg aus.
Die Bahn war leer.
Zögerlich musterte er den monströsen Schlauch, der die U-Bahn war.
„U1 – Friedrichsplatz“.
Richtige Bahn, richtiger Endbahnhof.
Alles war gut.

Er stieg ein. Setzte sich.
Er mochte es, am Fenster zu sitzen, selbst wenn die meisten Leute das in einer unterirdisch fahrenden Bahn für unnötig hielten. Doch dort draußen gab es nicht nur Finsternis. Dort wanden sich Kabel und Schläuche, flimmerten Notfallbeleuchtungen und warteten stählerne Hebel auf Benutzung. Dort draußen in den Tunneln verbarg sich eine fremde Welt.
Die Türen schlossen sich. Piepsten zwei Mal, dann schlossen sie sich.
So wie sie es immer taten.

Dann sah er den Mann.
Er kam von ganz vorne, hatte die U-Bahn verlassen und eilte nun schnellen Schrittes zur Treppe. Nach draußen.
Der Fahrer!, dachte er verdutzt. Das ist doch der U-Bahn-Fahrer!
Deutlich war seine Uniform zu erkennen, deutlich seine Aktentasche, aus der sogar ein paar Papiere herausragten, als hätte er sie hastig gepackt.
Hey!, rief er und klopfte gegen die Scheibe.
Das ist doch die U1 zum Friedrichsplatz, oder?, rief er, doch der Bahnfahrer war bereits verschwunden.

Er blickte auf seine Uhr.
23 Minuten Fahrt, 5 Minuten Fußweg.
Würde die Bahn jetzt losfahren, wäre alles perfekt. Er wäre nicht zu früh, nicht zu spät, sondern käme genau zum richtigen Zeitpunkt an.
Der Motor lief noch. Er mochte das leichte Vibrieren der Sitze, der Wände, der Fenster.
Die Türen waren zu, der Motor lief, alles war gut.
Nur der Fahrer fehlte.
Wahrscheinlich kommt gleich der nächste, dachte er.
Dann ging das Licht aus.

Von draußen dämmerte Bahnsteigbeleuchtung matt durch die Scheiben, erhellte ein wenig das Innere der Bahn. Doch nicht genug. Überall waren Schatten. Überall war Dunkel. Und der Tunnel wartete begierig darauf, das metallene Gefährt zu verschlingen.
Er zuckte mit den Schultern. Er brauchte kein Licht. Sein Buch hatte er fertig gelesen, war ohnehin nicht sehr gut.
Er drehte die Musik wieder lauter.
Wartete.
23 Minuten Fahrt. Fünf Minuten Fußweg.
Er brauchte nur noch ein wenig Geduld. Bis der Fahrer zurückkam. Bis die Bahn losfuhr.
Und Geduld hatte er. Viel Geduld.

Er schaute noch einmal auf die Uhr.
Alles war gut. Er würde pünktlich sein.

Die Bahn fuhr los.

Gelbe Elefanten

Eines Tages hatten die beiden gelben Elefanten keine Lust mehr, gelb zu sein. Das passierte gelben Elefanten relativ selten, aber nun war es geschehen, und die Elefanten konnten es auch nicht mehr ändern.

„Ich möchte nicht länger gelb sein.“, sagte Claus, der gelbere der beiden Elefanten.
„Ich auch nicht.“, sagte Mupf und war ein bisschen froh, nicht so gelb wie Claus zu sein.

„Wir könnten uns betrinken.“, sagte Claus nachdenklich. „Dann wären wir blau.“ Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, blau wollte er auch nicht sein.
„Wir könnten uns ärgern!“, sagte Mupf und hüpfte vergnügt in die Höhe, wie er es immer tat, wenn er eine Idee hatte. „Dann wären wir rot!“
Claus schüttelte seinen schweren, gelben Elefantenkopf. „Wir sind zu fröhlich, um uns zu ärgern.“ Mupf nickte.
Die beiden setzten sich hin und seufzten. Ganz kurz nur, denn eigentlich waren sie viel zu fröhlich um zu seufzen.

„Ich habe eine Idee!“, sagte Claus plötzlich und trompetete fröhlich ein kleines gelbes Lied. „Wir rufen einen Maler an! Er soll uns streichen!“
Jetzt war Mupf an der Reihe, seinen schweren, nicht ganz so gelben Elefantenkopf zu schütteln. „Das geht nicht.“
Claus horchte auf. „Warum denn nicht?“
„Weil er uns nicht finden wird!“, erklärte Mupf. Sein Rüssel schaukelte ganz erregt.
„Wir befinden uns hier mitten im Dschungel. Zwischen Bäumen und Pflanzen und Büschen und Blättern und noch mehr Bäumen! Niemals wird er uns hier finden!“

Claus nickte. Mupf hatte recht. Sie befanden sich wirklich mitten im Dschungel. Zwischen Bäumen und Pflanzen und Büschen und Blättern und noch mehr Bäumen. Dort lebten gelbe Elefanten nunmal.
Der Maler würde sie niemals finden.

Die beiden setzten sich erneut hin und seufzten. Ganz kurz nur, denn noch immer waren sie viel zu fröhlich um zu seufzen.

„Es wäre gut, wenn wir leuchten würden.“, sagte Claus nach einer Weile leise.
Mupf horchte auf. Das klang so, als hätte Claus einen schlauen Gedanken gehabt. Claus dachte viel; sein schwerer, gelber Elefantenkopf war immer voller Ideen und Gedanken.
„Es wäre gut, wenn wir leuchten würden.“, sagte Claus ein zweites Mal, diesmal ein bisschen lauter.
„Wieso?“, fragte Mupf nun, neugierig geworden.
„Es wäre gut, wenn wir leuchten würden!“, rief Claus nun und trompetete so laut, dass die Bäume und Büsche vor Vergnügen raschelten.
„Dann könnte uns der Maler finden. Dann würden wir leuchten. Zwischen all dem Grün der Bäume und Pflanzen und Büsche und Blätter und noch mehr Bäume würden wir leuchten, und der Maler würde uns leuchten sehen.“ Claus grinste. „Und er würde uns finden!“
„Tolle Idee!“, rief Mupf verblüfft und blickte seinen gelben Freund begeistert an. „Vor allem, weil wir schon gelb sind!“
„Was?“, fragte Claus, wie aus tiefsten Gedanken gerissen.
„Weil wir schon gelb sind! Weil wir längst zwischen Bäumen und Pflanzen und Büschen und Blättern und noch mehr Bäumen hindurchleuchten!“, rief Mupf begeistert. „Jeder kann uns finden!“

Claus dachte kurz nach und nickte dann. „Jeder kann uns finden.“, sagte er, kratzte sich mit seinem Rüssel am Kopf und nickte. „Jeder kann uns finden.“
Er senkte den schweren, gelben Elefantenkopf ein wenig und blickte Mupf tief in seine Elefantenaugen.
Atmete ein. Atmete aus.
„Vielleicht wäre es gut, gelb zu bleiben.“, sagte er dann, lächelte von einem Stoßzahn zum anderen und begann dann, laut zu lachen.
„Tolle Idee!“, rief Mupf verblüfft und lachte ebenfalls.

Das Lachen gelber Elefanten ist besonders fröhlich, und so war es kein Wunder, dass der gesamte Dschungel, die vielen Bäume und Pflanzen und Büsche und Blätter und noch mehr Bäume, noch eine ganze Weile vor Gelächter wackelte und wankte.