Das Meer

Ich habe beschlossen, mich in diesem Jahr wieder ein wenig mehr dem Schreiben zu widmen. Daher mochte ich die Idee von Projekt*.txt, die jeden Monat ein Inspirierwort hervorzaubern, aus dem ich wiederum einen Text kreiere.
Das erste Wort heißt „Anfang“ und erzeugte folgendes Werk:

Das Meer
28.01.2018

Hier beginnt das Meer.

Mein Onkel stand neben mir, blickte in die Ferne und schwenkte seinen riesigen Arm wie einen Kran in Richtung Sonnenuntergang.
„Hier beginnt das Meer.“, dröhnte er, und ich glaubte, einen dicken Kloß aus Stolz in seiner Stimme zu hören. Als wäre es nicht DAS Meer, sondern SEIN Meer.
„Hier beginnt das Meer.“

Doch das Meer begann nicht. In matten, warmen Lachen lag es da, warf weiches Licht in unsere Augen, spiegelte müde das sinkende Himmelsrot. Es rührte sich nicht, hielt inne und wartete auf die Zeit. Schwach sah es aus, zerbrechlich fast. Jeder Schritt konnte den zarten Spiegel verletzen. Ein bisschen Sand, ein kleiner Stein, und es wäre verschwunden.

„Ebbe.“, sagte mein Onkel. Sein Bart bebte zufrieden, filterte jedes Wort, jeden Atemzug, filterte sein ganzes Gesicht, glättete die Falten, die Furchen, an denen man erkannte, dass hinter dem Berg aus Haaren ein Berg aus zahlreiche Damalsen hauste.

“Damals.”, so begannen seine Geschichten, und wenn seine Augen schelmisch zu glitzern begannen, so war es eine Meeresgeschichte, ein Damals auf dem Fischerboot, ein Damals in der Hafenbucht, ein Damals inmitten des Sturmes.

Mein Onkel lebte das Meer, liebte alles, was das Meer hergab, alles, was es ihn kostete. Er liebte Ebbe und Flut, Segel- und Motorenboote, Angeln und Naturschutzgebiete. Er liebte sogar Meerkatzen, obwohl er Katzen sonst nicht mochte. “Katzen haben auf einem Boot nichts zu suchen!”, schimpfte er, wannimmer er einer Katze begegnete. “Bringt Unglück!”, tönte er und hob den haarigen Kranarm zu scheuchender Geste.

Affen mochte er auch nicht, doch den Grund dafür kannte ich nicht. Wahrscheinlich lag er in einem Damals verborgen, in irgendeiner seiner Geschichten, die wahr oder falsch waren, die er bereits vergessen hatte oder sich für einen besonderen Anlass aufhob.
Der Bart meines Onkels war ein unerschöpflicher Quell.

Ich liebte meinen Onkel, und wie er so neben mir stand, auf das schmale, zerbrechliche Meer hinausschauend, sehnsuchtswarm und mit feuchtem Funkeln im Blick, liebte ich ihn noch mehr, wollte mich am liebsten an ihn drücken, das Haar an seinen Bauch pressen, mich mit seinen Armen bedecken, darauf warten, dass der Kopf sich senkte, die Blicke mich fanden und der Bart sich zu einem weichen Lächeln verbog.

Ich liebte meinen Onkel, abgöttisch, doch hasste ihn, wenn seine Stirnesfalten sich plötzlich verdunkelten, sich die Augen verengten, wenn seine Stimme dröhnte, als müsse sie gegen einen inneren Sturm ankämpfen, wenn Zorn seinen Bart erbeben, fast zittern, ließ. Wenn sein Gesicht eine wütende Wolke war.
Wie dann seine Worte tosten, wie sie über mich hinweg-, durch mich hindurchfegten, mir jeden Halt raubten! Wie sein weicher Körperberg sich plötzlich zu ballen schien, ein steinharter Fels aus Wucht und Wut! Aus dem herzenswarmen Dinosaurier wurde dann ein rastloses Ungetüm, ein Godzilla mit Rauschebart.

Aus dem Nichts brach es hervor, aus heiterem Himmel, und genauso schnell flaute es wieder ab, rundeten sich die Linien seines Gesichtes, schmolzen die Kanten seiner Wörter.
Der Bart gewann an Flausch, mein starres Herz wagte wieder zu pochen.

Und so standen wir hier, wo das Meer begann, beziehungsweise: wo es nicht begann, wo es in trägen Lachen vor uns lag und das Licht der untergehenden Sonne in sich baden ließ. In den Augen meines Onkels glitzerte Liebe und etwas, das aussah wie Sehnsucht, und sein Bart verbarg ein sanftes Lächeln.

Ich sah das Lächeln nicht, doch je länger wir hier standen, in Richtung Horizont starrten, desto sicherer war ich mir: Mein Onkel lächelte. Selbst der nimmermüde Wind vermochte nicht, Onkels Bart ausreichend stark zu zerzausen, um sein Lächeln zu entblößen. Doch ich spürte es, fühlte seine Wärme neben mir, fühlte das Lächeln, das ihn, meinen Onkel, umgab, das durch seine warmen riesigen Finger in meine strahlte, merkte, dass auch ich infiziert war, dass auch ich zu lächeln begonnen hatte.

Und noch etwas spürte ich: Mein Onkel hatte recht.

Vor uns lagen matte Pfützen, still und träge. Ihr Flüstern war leise, und man musste sich anstrengen, um ihre Geschichten auch nur zu erahnen. Ihre Wörter waren voller Morgen, voller Irgendwann, voller Hoffnung.

Irgendwann würde das Meer zurückkehren, irgendwann würden hier Wellen brausen, würde wilde Gischt weiße Werke kreieren und wieder zerstören, würden Wellen Sand und Steine, Treibholz und Muscheln, von sich werfen, an sich ziehen – und die öden, stummen Pfützen verschlingen, in sich aufgehen lassen. Das Meer würde kommen, und es würde brausen und zischen, gleiten und fließen, den Strand mit salziger Zunge küssen.

Vielleicht würde es tosen und toben, vielleicht wäre es Sturm und Wolke, vielleicht wäre es Wellengang und Donnerschlag. Vielleicht.

“Hier beginnt das Meer.”, sagte ich, und mein Onkel nickte.
Sein Bart war eine lächelnde Wolke.

Ein Gedanke zu „Das Meer“

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