Talisman

Auch diese zauberhafte Geschichte wurde bereits vor begeisterten Publikum vorgetragen. Wenn ihr also live erleben wollt, wie ich Geschichten wie diese vorlese, dann seid ihr herzlich eingeladen: die Lesebühne EEASY READER liest jeden 1. Sonntag im Monat im Celtic Cottage in Berlin-Steglitz. Kommt vorbei und lasst euch knuddeln.

Ich hatte schon immer einen guten Riecher für Talismane. Kleine Dinge, deren Bedeutung sich nur mir offenbarte. Sonderbare Habseligkeiten, die meine Jackentaschen, Hosentaschen, Rucksacktaschen, bevölkerten, und mir Glück brachten, zuweilen Wärme, immer jedoch: ein Lächeln auf die Lippen zauberten. 

Kastanien zum Beispiel, Handschmeichler in wohligstem Braun: 

Sobald der Herbst mich grüßte, sobald die allererste Kastanie in stachligem Schalengewand meinen Pfad kreuzte, hob ich sie auf, befreite sie von ihrem Kleid und schenkte ihr den Ehrenplatz meiner rechten Jackentasche. Dort, wo meine Ruhe suchende Hand Ruhe fand. Einen zarten Schimmer Pracht. Ein kleines Glück.

Doch es blieb nicht bei Kastanien. Meine Talismane wurden größer, bunter und absurder; kleiner, fremder, gelber. Vier Monate lang trug ich einen verbeulten Briefkastenschlitzdeckel mit mir herum, ließ ihn mir sein Glück schenken.

Und ich hatte Glück; denn schon bald fand ich den nächsten Talisman: einen zerknitterten 10-Euro-Schein; den übernächsten: eine keimende Kartoffel (vorwiegend festkochend); und den danach: eine baumwollene Tragetasche ohne Henkel. 

So viel Glück kann man doch gar nicht haben, dachte ich manchmal, hob den nächsten Talisman auf und trug ihn mit mir herum. Tage, Wochen, manchmal Sekunden nur. Doch immer voller Stolz, angefüllt mit neuer Kraft. 

Mein aktueller Talisman war etwas größer als gewohnt, etwas schwerer, und anfangs hatte ich ihn kaum heben, geschweige denn: tragen, können. Doch ich übte mich, hob, trug, erst millimeterweise, dann mehr und mehr, und schließlich noch mehr, viel, viel mehr. 

Seit anderthalb Monaten war der Talisman nicht mehr aus meinem Leben wegzudenken. Er war überall dabei: Beim Einkaufen, beim Eislaufen, beim wilden Herumlungern unweit der Stadtteilbibliothek, bei der Altglasentsorgung, auf Arbeit, daheim, überall.

Er war groß. Klobig. Viel zu schwer. Und doch war er dabei. 

Freunde hatten sich beschwert, Kollegen mir augenrollende Blicke zugeworfen. Und doch war er dabei. 

Selbst jetzt war er dabei, mein Talisman: Im Zug, im ICE, auf dem Weg nach Königs Wusterhausen. Ich hatte ihm einen eigenen Sitzplatz gebucht, 46B, neben mir, an meiner rechten Seite. 

“Der Zug endet in Frankfurt vorzeitig.“, hallte die Ansage durch den Wagon. “Wir bitten alle Fahrgäste, in Frankfurt auszusteigen.” 

Die Fahrgäste waren verwirrt. Ich war verwirrt. Mein Talisman blieb ruhig. 

Der Lautsprecher gab keine Gründe bekannt. Wiederholte seine Ansage, kurz bevor wir in den Bahnhof einfuhren. Kurz bevor alle Fahrgäste ihre Plätze aufgegeben und den Zug verlassen hatten.

Und mich zurückließen. Auf meinem Platz. Direkt neben meinem riesigen Talisman.

Unwissend, was ich nun tun würde. Wohin ich nun gehen könnte. Wie ich nun nach Hause kam. 

“Steigen Sie bitte aus.”, sagte der Bahnbegleiter freundlich. “Und vergessen Sie nicht ihr …” 

“Ihren Talisman.”, ergänzte ich leise. 

Der Bahnbegleiter schaute mich an. Schaute meinen Talisman an. 

“Vergessen Sie nicht ihr … Motorrad.”, sagte er sanft und zeigte auf meinen Talisman.

“Ihren Talis…”, wollte ich korrigieren. Stutzte. Sah das Motorrad neben mir. Brachte es nach draußen. 

Stieg auf und fuhr davon. 

Routine

Diese kleine Geschichte las ich bereits vor. Live, vor Publikum.
Denn jeden 1. Sonntag im Monat trete ich zusammen mit den anderen Mitgliedern der Lesebühne EEASY READER im Celtic Cottage in Berlin-Steglitz auf und lese meinen Kram vor. Ihr dürft gerne beim nächsten (und übernächsten und überüber…) Mal dabei sein und lauschen, applaudieren und leckere Getränke konsumieren.

Wecker. Duschen. Anziehen. Frühstück. Zähneputzen.

Zahnpastaflecken. 

Nochmal Umziehen. Schuhe, Jacke, Tasche, los. 

Der Weg war immer der gleiche. 

Die Uhrzeit war immer die gleiche. 

Die Dame mit dem flauschigen, pinkelnden Hund an der Straßenecke war immer die gleiche.

Routine. 

Ich konnte die Strecke zur U-Bahn mit verbundenen Augen laufen, im Traum entlangtanzen, kannte jeden Baum und jede fehlende Bodenplatte. 

Routine. 

Ich hatte sieben Minuten bis zur Abfahrt der Bahn, der Fußweg würde viereinhalb Minuten dauern. Fünf, wenn die Ampel rot war. 

Die Bahn fuhr siebzehn Minuten. Neun Minuten später würde ich bereits die Bürotür öffnen.

Ich lag gut in der Zeit.

Routine. 

Meine Schritte lenkten sich selbst, wichen Wurzeln aus, balancierten auf Rasenkanten, um wertvolle Sekunden zu gewinnen. 

Meine Gedanken eilten voraus, planten die Route, antizipierten Hindernisse, schweiften ab.

Da begegnete ich dem Wal. 

Es war ein Blauwal, da war ich mir sicher. Und er war riesig, fast monströs und beeindruckend schön. Ich hatte noch nie einen Wal gesehen, und nun, da er sich vor mir befand, konnte ich kaum begreifen, was ich sah: Einen Wal, einen echten Wal, mit blaugrauem, zerfurchten Leib, einem wissendem, mir zugewandtem Auge und einem enormen Maul, das mir plötzlich viel zu nah vorkam. 

Der Wal war riesig.

„Du hast dich verlaufen.“, sagte der Wal – und mit überraschender Eleganz drehte er sich um und schwamm durch das kalte, klare Meereswasser davon.

„Was meinst du mit ‚verlaufen‘?“, wollte ich fragen.

Doch aus meinem Mund kamen nur Luftblasen.