Tanzen

Am Sonntag, 02.06. 2024, lese ich wieder im Celtic Cottage in Berlin-Steglitz. Schließlich gehöre ich zu EEASY READER, der besten Lesebühne im Berliner Südwesten.
Diese kleine Geschichte war eigentlich dafür gedacht, dort gelesen zu werden. Aber dann meinte sie: Nö, lieber nicht. Lies mal was anderes!
Also müsst ihr sie jetzt selber lesen. Und am Sonntag anderen zauberhaften Geschichten lauschen.

Eines Tages begegnete ich einem Fuchs.

„Hallo Fuchs.“, sagte ich vorsichtig, denn man wusste ja nie. 

Der Fuchs nickte mir zu, musterte mich. 

Ich versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen. 

Und gleichzeitig, stark, unbezwingbar, ein Fels aus Kraft und Liebe.

„Ich habe eine Ess-Störung.“, sagte der Fuchs leise. Traurig, vielleicht.

„Okay…“, sagte ich, verwundert über die Offenheit.  „Das …  das macht doch nichts.“

Als hätte ich nichts gesagt, redete der Fuchs weiter. 

„Wollen wir tanzen?“, fragte er. 

Tanzen? War das ein Trick? Machte sich der Fuchs gar über mich lustig?

Denn jeder hier wusste: Ich wollte immer tanzen. Immer!

Ich nickte. Versuchte, nicht allzu euphorisch zu wirken. 

Doch ich spürte meine Augen funkeln, fühlte die Unruhe in meinen Gliedmaßen wachsen. Ich wollte tanzen.

„Okay.“, sagte ich, doch der Fuchs war verschwunden. 

„Fuchs?“, wollte ich fragen, doch er war bereits zurück. Mit einem merkwürdigen Gerät im Mund. 

Und mehreren Blättern. 

Buntpapier.

„Fuchs?“, wollte ich wieder fragen, doch meine Stimme versagte. 

Der Fuchs setzte das Gerät ab, legte ein gelbes Blatt Papier ein und drückte einmal fest auf das Metall. Ein Geräusch später hatte das Papier ein Loch. Ein herzförmiges Loch. 

„Stanzen?“, fragte ich nun, und der Fuchs nickte.

„Ich habe eine S-Störung.“, sagte er und lächelte.

Humpeln

Diese zauberhafte Geschichte ist fast neu. Tatsächlich durften zauberhafte Ohren sie bereits erlauschen, als ich zusammen mit der Lesebühne EEASY READER wie jeden 1. Sonntag im Monat am 05.05. im Celtic Cottage in Berlin-Steglitz auftrat. Am 02.06. findet die nächste Begegnung statt – inklusive neuer Geschichten.

Ich humpelte. 

Ich hatte das Humpeln eben erst bemerkt, und es schien noch nicht lange Teil meines Lebens zu sein. Denn nun humpelte ich. Aber das war egal.

Erst vor kurzem hatten meine Gliedmaßen angefangen mit mir zu reden. Wenn meine linke Hand fror, schien sie zu Wörter zu formulieren, schien “Ich friere!” zu sagen und erst wieder Ruhe zu geben, wenn ich sie in die Tasche steckte oder einen Handschuh anzog. Manchmal schwieg die Hand selbst dann noch nicht, redete weiter, und ich war froh, dass ein bisschen Stoff die Stimme dämpfte.

Im direkten Vergleich dazu war das Humpeln kaum noch erwähnenswert. Ich mochte es nicht, wenn meine Gliedmaßen redeten. Humpeln hingegen war so mittel-okay.

Ich humpelte die Straße entlang, gemütlich, brauchte mich nicht zu hetzen, meine ungleich laufenden Füße nicht anzutreiben, konnte einen wackligen Schritt vor den anderen setzen.

Mein rechter Fuß behauptete, er friere, doch ich ignorierte ihn.

Ich ließ meine Blicke wandern, erfreute mich an zufrieden gurrenden Tauben und den Frühlingsgrüßen an den Zweigen der Büsche. Knospen sah ich, die Blüten werden wollten, oder Blätter. Zartes Grün zwischen dem grauen Braun karger Zweige. 

Und einen Schuh.

Einen Hausschuh, um genau zu sein.

Keinen Flipflop oder Badelatsch. 

Keine Sandale, keinen Schlappen. 

Kein Croc, kein Birkenstock.

Nein, einen richtigen Hausschuh, einen klassischen Hausschuh, einen, in den man mühevoll hineinkriechen musste, der auch die Ferse ummantelte, den gesamten Fuß umkränzte und nie wieder losließ. 

Ein Hausschuh aus festem Filz mit harter, unnachgiebiger Sohle und einem Karomuster, das in keiner Gegenwart jemals modern oder nur ansehnlich gewesen war. 

Ein Hausschuh, für die Ewigkeit gemacht.

Nun lag er hier, im Gebüsch, das nur Ast und Zweig war, das noch Gebüsch werden wollte, von sehnsüchtig erwartetem Blattwerk unzureichend verborgen. Er lag hier und sah alt aus, verlassen, aus der Zeit gefallen. Nein, nicht alt, altmodisch. Auf die unangenehme Weise. 

Wie ein abgewickeltes Kassettenband im Rinnsteig. 

Wie ein rostiges Jungpionierabzeichen auf dem Dachboden. 

Wie ein hässliches Stück gestern.

Ich stand hier und schaute den Hausschuh an. Wunderte mich: 

“Wer würde denn so ein mode-fernes, großelterliches Karomuster mögen?”, fragte ich ins Nichts.

“Wer würde sich denn heutzutage so einen antiquierten Hausschuh anziehen?”

“Ich nicht!”, sagte mein nackter, rechter Fuß stolz.

“Ich schon!”, kicherte mein linker Fuß, doch ich konnte ihn unter dem festen Filz kaum hören.

Schulterzuckend humpelte ich weiter.

Straßenrand

Dieser Text hat ebenfalls bereits die freundlichen Augen gespannt lauschender Zuhörer berührt, war Teil eines Auftritts der Lesebühne EEASY READER in Berlin-Steglitz. Jeden ersten Sonntag im Monat lesen wir dort, das nächste Mal also am 05.05.24 um 16 Uhr. Du bist herzlich willkommen.
Nun aber soll diese Geschichte erst einmal deine Augen streicheln. Viel Vergnügen.

Der alte Mann stand an der Straße und wartete. Er trug einen karierten Schal, einen dicken, ausgebeulten Wintermantel und eine schwarze Cordhose, die ihn zu verschlingen schien. 

Er wartete. 

Manchmal glitt sein Blick auf die Straße, in die Ferne, aus der sich ein Auto schälte und unbeeindruckt an ihm vorbeifuhr. Der alte Mann wartete. 

Hin und wieder schob er seinen Mantelärmel ein Stück nach oben, entblößte eine schwere Armbanduhr und schenkte auch ihr einen Blick. Es war 12.15 Uhr, und der alte Mann wartete. 

Ich hielt es nicht länger aus, ging zu ihm hin. 

“Entschuldigung, warum stehen Sie hier?”, fragte ich. Einfach so.

Der alte Mann musterte mich neugierig. Lächelte. 

“Das hier ist eine Bushaltestelle.”, antwortete er, und sein Tonfall klang, als würde das alles erklären. 

Doch es erklärte nichts. 

Es erklärte nicht, warum er hier stand, an einer unbelebten Straße am Stadtrand, in einem unbelebten Viertel einer unbeliebten Stadt. Hier, wo bestimmt kein Bus vorbeifuhr, geschweige denn: anhielt. Hier, wo auf keinen Fall eine Bushaltestelle war.

Es erklärte nichts, doch ich hatte verstanden, fühlte mich willkommen. Stellte mich zu ihm an die Bushaltestelle.

Der alte Mann lächelte mich an, schob den Ärmel nach oben, schaute erneut auf die Uhr. 

“Es ist Zeit.”, sagte er, kramte in seiner ausgebeulten Manteltasche und holte ein Spielzeugauto hervor. Einen Spielzeugbus, um genau zu sein. 

Der alte Mann hielt ihn fest in seinen Händen.

“Das hier ist eine Bus-Haltestelle.”, sagte er.

Ich nickte verständnisvoll und begann zu warten