Taschentücher

Fremden Kindern gegenüber bin ich vorsichtig. Es sind ja nicht meine, und falls sie sich in meiner Gegenwart auch ungut verhalten sollten, werde ich – außer in Extremfällen – nicht derjenige sein, der mit Disziplinarmaßnahmen droht, um sie und ihr Verhalten in die richtigen Bahnen zu lenken.

Als ich unlängst mit der Straßenbahn fuhr, setzte ich mich in die vorletzte Reihe. Mir gegenüber hatten sich zwei Damen platziert, eine etwa Vierzigjährige und eine, die sich am Ende der Zwanziger befand und vermutlich zu den Studierenden zu zählen war. Hinter mir ließen sich zwei Jungen nieder, vielleicht elf, zwölf Jahre alt [Ich war noch nie ein Meister darin, das Alter von Personen zu schätzen.]. Sie blätterten in Zeitschriften, in Autozeitschriften, soweit ich das während eines flüchtig nach hinten schweifenden Blickes erkennen konnte. Ich las in einem angenehm-spannenden Buch, doch gelang es mir nur schwer, mich zu konzentrieren — die Kinder waren zu laut, und ihre mit „Alter“ und „Ey“ gespickte Sprache widerten mich an.
Die beiden Jungen versuchten mit jedem Wort, einander zu übertreffen. Fand der eine ein interessantes Zeitschriftenfahrzeug, das er mit begeisterten Attributen bestückte, so entdeckte der andere ein vermeintlich besseres, das dem Kindermund noch extremeres Vokabular zur Umschreibung und Faszinationsbekundung entlockte.

Der beleibtere der beiden hielt sich für besonders krass und zog alle zehn oder zwanzig Sekunden das Innere seines Riechorgans hoch. Das Ergebnis war ein rotziges, unangenehmes Geräusch, das nicht unbedingt dazu beitrug, mich meinem Lesevergnügen frönen zu lassen. Die Jungen diskutieren, protzten – und der Dicke zog immerfort Schleim die Nase hinauf, so intensiv, so begeistert, dass ich glaubte, ihm müsste bald der Schädel platzen vor angesammeltem Nasenunrat. Zumindest jedoch – darauf wartete ich voller Vorekel [„Vorfreude“ war es bestimmt nicht …] – würde er alsbald all das Hochgezogene in seiner Mundhöhle sammeln und es irgendwo spuckenderweise in die Straßenbahn schleudern. Doch er tat nichts dergleichen; er blätterte weiter in seiner Zeitschrift, redete Unsinn und schniefte, als gäbe es nichts Intelligenteres.

Ich senkte meinen Blick und las. Ich versuchte, mich an den Buchstaben, an den Wörtern, festzukrallen, doch es gelang nicht; der Sinn der Zeilen entwich immer wieder; ich konnte mich nicht konzentrieren. Behend griff ich in meine Rucksacktasche, wo ich eine Packung Zellstofftaschentücher vermutete, zog diese heraus und reichte sie – ohne auch nur ein Wort zu sagen – über meine Schulter nach hinten. Der dicke Junge sah mich an, schwieg kurz, dachte offensichtlich nach, wartete vielleicht auf einen Kommentar meinerseits, der jedoch nicht kam, betrachtete die Taschentücher in meiner Hand – und schüttelte dann den kopf. „Nein, danke.“, meinte er, „Ich habe selber welche.“

Ich sagte ihm nicht, dass ich ihm nicht glaubte, sagte ihm nicht, dass er sie doch benutzen könne, sagte ihm nicht, dass er und sein Getue mich störten, sondern zog meine Hand zurück und verstaute die Taschentuchpackung dort, wo ich sie hergeholt hatte. Die Studentin lächelte mir anerkennend zu, die andere Frau verzog keine Miene. Doch hinter mir kehrte Ruhe ein, keine absolute Ruhe, kein Schweigen, doch ein Gespräch, das sich normalisiert hatte – und frei war von widerlichem Nasenschleim.

Als ich gestern die Straßenbahn nutzte, stiegen plötzlich zwei Mädchen zu. Sie waren ungefähr dreizehn oder vierzehn [Wie erwähnt: Mit Altersschätzungen habe ich es nicht so.], und der blonderen von beiden rannen die Tränen literweise aus den Augen. Jemand hatte sie beleidigt, und ihre Freundin war keine große Hilfe, indem sie ihr riet, diese Beleidigung einfach wegzustecken. Denn offensichtlich war das „Wegstecken“ nicht mit Einfachheit lösbar.

Ich las – mal wieder – und gab mir Mühe, den beiden, obgleich sie mir direkt gegenüber saßen und obgleich ich jeder einzelnen Träne hinterherschauen konnte, geringste Aufmerksamkeit zu widmen und sie in diesem intimen Augenblick absolut allein zu lassen [auch wenn sie von unzähligen Mitfahrenden umgeben waren]. Mein Buch fing meine Blicke, doch vor ihrem Gesprochenen schützte es mich nicht.

„Hast du mal n Taschentuch?“, fragte die Tränenbedeckte irgendwann, und ihre Freundin gab einen Nein-Laut von sich. Wie von selbst glitt meine Hand in meine Rucksacktasche, und obgleich ich mir keineswegs sicher war, ob sich dort eine Packung befinden würde, fanden meine Finger plastikverpackte Papiertaschentücher, zogen sie heraus und reichten sie herüber. Kurz sah ich von meinem Buch auf und erhaschte das kleine Lächeln, das sich auf ihre Lippen stahl.

„Taschentücher“, dachte ich beeindruckt, „sind nützlich.“

Die krumme Banane

Warum ist es eigentlich nötig, dass die Bauarbeiter, die sich mit der Renovierung eines Universtätsgebäudes auf dem Campus beschäftigen und – ebenso wie alle anderen umstehenden Gebäude – über mehrere verhältnismäßig gut gepflegte Toiletten verfügt, ein eigenes Dixi-Klo benutzen müssen [das zudem jeden Passanten mit unliebsamen Düften besudelt]?

Und warum waren die Schmierfinken, welche die Straßenbahnhaltestelle namens „Universität“ mit dem Initialen ihres Lieblingsfussbaldvereins FC Magdeburg verzieren wollten, so dämlich, in blauen, vierzig Zentimeter großen Lettern zunächst „FCC“ zu krakeln, bevor sie sich ihres Fehlers bewusst wurden und das letzte C in ein stümperhaftes M umwandelten?

Und warum gehören zu den Opfern von Magdeburger Großbaumaßnahmen stets die öffentlichen, mit langsam rotierender Werbung bestückten Uhren, die zunächst auf ein dauerhaftes 12 Uhr gestellt und schließlich ersatzlos entfernt werden, so dass Armbanduhrvermeider wie ich gezwungen sind, erst das Mobiltelefon aus den Tiefen ihres Gepäcks zu kramen, wenn sie gewillt sind, Genaueres über die Zeit zu erfahren?

Und warum hat bestand die Veränderung bei der Straßenbahngleisaustauschaktion in der Nähe des Magdeburger Alten Markts nicht nur in der Erneuerung der jahrezentealten Gleise und in der Deportation erwähnter Uhr, sondern auch in der Terminierung des zweiten Haltestellenhäuschen – und somit einer zusätzlicher Sitzmöglichkeit für Renter, Behinderte, Schwangere und Gernesitzer?

Arbeitsalltag

Das universitäre Rechenzentrum erwies sich längst als unendlicher Quell unnützer Menschbeobachtungen, nutzloser Erfahrungen im Umgang mit Menschen, denen man voraussichtlich – und zum Teil hoffentlich – niemals wieder begegnen wird. Doch ich bin hier, um zu arbeiten, um das zu schaffen, was ich auch zu Hause schaffen könnte – wenn ich es könnte. Denn darin liegt das Problem: Mein eigener Rechner ist schneller, die Internetanbindung nicht wesentlich langsamer, die Störfaktoren geringer an Zahl – und dennoch misslingt mir heimatliches Arbeiten immer wieder.

Da sind Zeichnungen, die ich anzufertigen gedenke, Dinge, die das weltweite Netz mir preiszugeben wünscht, nach denen ich „nur mal kurz“ suchen muss, Musikstücke und Videos, deren Konsum ausgerechnet auf jene Zeitfetzen fällt, die ich eigentlich sinnvoll zu befüllen dachte. Dort befinden sich Bücher, groß an Zahl und thematischer Vielfalt, Langeweilevernichter verschiedenster Art, unaufgeräumte Fußböden, ungewaschenes Geschirr, unreparierte Fahrräder, Menschen, mit denen sich ablenkenderweise unterhalten werden kann – und mein eigener Kopf, der Kopf, der sich immer wieder neue Varianten ausdenkt, um mich von dem zu entfernen, weswegen ich mich eigentlich an meinem Schreibtisch platzierte. Es bedarf nur eines Augenblicks des Nichtdenkens, des Sich-Nicht-Konzentrierens, und das All der Möglichkeiten stürzt auf mich ein. Langeweile ist mir fremd; immer gibt es zu tun, zu handeln – und dennoch weiß ich am Abend nicht mehr, womit ich den Tag befüllte.

Also schwinge ich mich auf mein Rad, setze mich in die Straßenbahn, fahre dorthin, wo Wissen produziert und ausgeliefert wird. Und weil sich Schwierigkeiten ergaben, die mich immer wieder zurückzuwerfen vermögen, Schwierigkeiten, denen zu trotzen ich nicht täglich die Kraft finde, werde ich mir selbst erst bewusst, als ich orientierungslos auf dem Campus stehe und nicht weiß, wohin mit meinem Drang, endlich der eigenen Faulheit, der ewigen Ablenkung zu entfliehen, wohin mit meinem Wunsch voranzukommen, endlich weiterzumachen, was viel zu lange unberührt in Dateien und schlechten Kopien auf mich wartete.

Die Universitätsbibliothek, voll gestopft mit Rechnern, wäre der optimale Ort des Lernens und Schöpfens, wäre der Platz, an den ich mich zurückziehen, an dem ich meine Ohren mit eigenem Lärm gegen den fremden versiegeln und endlich produktiv sein könnte – doch es funktioniert nicht. Das bibliothekseigene Betriebsystem weigert sich, über ein annehmbare Schreibprogramm oder Installierbarkeit eines solchen zu verfügen; zudem missfällt mir die auf jenes Betriebssystem zugeschnittene Tastatur mir den mir fremden Sonderfunktionen und vorprogrammierten Fehldrücken. Ich fühle mich unwohl, an jenen Rechnern zu sitzen, irgendwie grau, als wäre die Farbe der Monitore, die unansehnliche Bedienoberfläche auf mein Empfinden übergeschwappt.

Also auf!, sage ich mir, begebe mich ins URZ, ins Universitätsrechenzentrum, genauer: in eines der vier verfügbaren RTLs, Rechentechnische Labore. Ich ignoriere, dass mir die unglückliche Namenswahl des zweiten Labors, RTL II, missfällt [Überhaupt scheinen Namen nicht gerade die Stärke dieser Universität zu sein: Das Mensa-Café nennt sich „Latte“ – was nicht nur Vorpubertären ein Kichern oder eine Hand-an-Stirn-Bewegung entlocken dürfte.], begebe mich in einen der beiden öffentlichen Räume und begutachte die Warteschlange. Denn eine Warteschlange gibt es nahezu immer. Sind es weniger als vier Leute, die warten, bin ich bereit, mich einzureihen und all die fleißig Tippenden zu betrachten, wegen deren Aktivitäten mir ein sinnvolles Arbeiten vorerst verwehrt bleibt.

Säße ich an einem Rechner und wäre mit Unsinn beschäftigt, überlege ich, bekäme ich ein schlechtes Gewissen und würde versuchen, mein nutzloses Tun alsbald zu beenden und meinem Platz den Stehenden, die sich vermutlich mit Dringenderem beschäftigen werden, zur Verfügung zu stellen. Nicht so jene, die hier sitzen. Youtube grüßt und schenkt Kopfhörerbesitzern amüsierte Minuten voller Zeitvertreib. StudiVZ avanciert zur meistgenutzten Seite, inklusive stundenlanger Fremdprofilbesucherei und Partyfotobegutachtung. Ich stehe, betrachte Barbara Schöneberger und Guido Westerwelle, die kurze Statements zu etwas geben, das zu vernehmen ich nicht imstande bin, mich jedoch allein aufgrund dieser beiden Interviewten nicht länger interessiert. Automobilangebote werden ebenso durchblättert wie diverse myspace-Profile, die glücklicherweise zu weiteren verlinken. Überhaupt: Die Endlosigkeit des weltweiten Netzes lässt leicht vergessen, dass ich im Eingangsbereich stehe und warte, leitet Link für Link in weitere, unbekannte Welten, die womöglich hässlich und unspannend sind, doch alsbald in neue, das Interesse mehr fesselnde Seiten münden können. Ich warte und störe mich nicht an dem Treiben durch die Buntwelt Internet, wünsche mir nur die Möglichkeit, mein Buch aus dem Rucksack kramen und weiterlesen zu können. Doch ich darf nicht lesen, muss meine Blicke schweifen lassen über jene, die arbeiten oder nicht-arbeiten, über jene, die die Rechner belegen – und jeden Augenblick aufstehen und ihren Arbeitsplatz entleeren könnten. Ich muss wachsam sein, denn die nach mir Anstehenden warten auch, wachen auch, verzeihen keine Verzögerung, sind bereit, sich Freiwerdendes selbst unter den Nagel zu reißen oder zumindest meine Unaufmerksamkeit mit entsprechendem Hohn zu kommentieren.

Als ich fündig werde, seufze ich lautlos. Ohne mich meines Rucksacks oder meines Jacketts zu entledigen, melde ich mich an. Der Nutzername meines Vorgängers ist noch sichtbar, und ich versuche, daraus Rückschlüsse auf seinen Nachnamen zu ziehen, ein albernes Spiel, von dem ich hoffe, dass es niemals von meinem Nachfolger praktiziert werden wird. Mein Seufzen galt dem mir zugewiesenen Rechner, denn er ist einer von der langsameren Sorte, einer von denen, die mir bereits während des Anmeldeprozess genug Zeit lässt, mich unnötiger Kleidung und Taschen zu entledigen und benötigte Material zurechtzulegen. Die Startprozedur dauert an, und als ich den Browser in Betrieb nehme, seufze ich ein weiteres Mal, denn auch das dauert, müssen doch irgendwo aus dem universitären Serverwirrwarr meine persönlichen Browserprofildaten geladen werden, obgleich ich mich stetig darum bemühe, diesen Daten nicht allzu viel Inhalt zurückzulassen.

Ich arbeite mit Windows XP, was mich nicht stört, doch sorge als erste echte Tätigkeit dafür, dass die Schnellstartleiste innerhalb der Taskleiste angezeigt wird – ich werde nie begreifen, wie man auf das sehr hilfreiche „Desktop anzeigen“-Symbol verzichten kann. Die zweite Tätigkeit besteht darin, innerhalb des automatisch gestarteten ICQ-Programms eine Möglichkeit zu suchen, dieses aus dem Autostart zu vertreiben. Meiner Ansicht nach muss ein Chatprogramm – etwas, das vor ein paar Jahren auf den Rechenzentrumscomputern noch verboten gewesen war – die ohnehin langwierige Anmeldeprozedur nicht unnötig verzögern. Die dritte Tätigkeit umfasst den Versuch, meinen USB-Stick an den Tower zu klemmen – ein Versuch, der mit dauerhaftem Scheitern bestückt ist. Zuweilen habe ich Glück, und das System ist bereit, den Stick oder den integrierten Wechseldatenträger für wenige Sekunden zu erkennen; dann handle ich schnell, kopiere, was zu kopieren ist, und freue mich, wenn es sogar gelingt, Musikdateien zu übertragen. Doch meistens missglückt dieser Versuch, so dass ich mich ablenke, bevor ich nach einer Lösung zu suchen beginne.
Emails. Blogs. Kommentare. Nachrichten. Unnützes Zeug.

Dann entsinne ich mich, dass ich mir ein paar erforderliche Arbeitsdateien per Mail selbst zugesendet hatte. Begeistert lade ich herunter, was ich brauche und öffne das installierte Office-Programm. Und jedes Mal stellt sich die gleiche Frage: Benutzt hier niemand außer mir ein Schreibprogramm? Schließlich muss ich bei jedem Rechenzentrumsrechner, den ich nutze, die Vorinstallation erst vollenden, um meine Arbeit fortsetzen zu können – von einer Neuinstallation eines Musikabspielprogramms ganz zu schweigen. Vermutlich setze ich einfach die falschen Prioritäten.

Als ich, endlich, zu arbeiten beginne, tippt mich das Mädel zu meiner Rechten an. Ob ich ihr helfen könne. Sie wolle eine Mail an unzählige Adressen versenden, doch gmx liefere immer wieder eine Fehlermeldung. Ich weiß nicht, was an meinem Äußeren sie dazu bewog, mich um Rat zu bitten, doch ich finde den Fehler auf den ersten Blick. In der ersten Mailadresse fehlt ein Zeichen, und gmx ist nicht bereit, dies als ordentliche Mailadresse zu akzeptieren. Mein Rat, bei mehreren Empfängern das BCC–Feld zu benutzen, da sonst jeder Empfänger alle Adressen sehen könne, stößt auf taube Ohren. Doch immerhin ernte ich ein „Danke.“

Dann arbeite ich. Tatsächlich. Ich überrasche mich selber und arbeite. „Herumfleißigen“ nenne ich dergleichen normalerweise – das Fleißigsein ohne tatsächliches Ergebnis – aber immerhin.

Der neben mir Sitzende tippt mich an. Er hat gerade sein Vordiplomszeugnis eingescannt und wagt nicht, selber zu beurteilen, ob dieses tatsächlich gerade ist. Mein Urteilungsvermögen bei solchen Dingen ist trüb, doch weiß ich Rat. Im Bildbearbeitungsprogramm ziehe ich einen Rechteckrahmen um eine eingescannte Linie. Ich vergleiche Scan und Computergeneriertes – und stelle Parallelität fest. „Gerade.“, sage ich, schmunzle und arbeite weiter.