Die Schaufensterpuppe

Im Erdgeschoss der hier ansässigen Karstadt-Filiale, in direkter Nähe zu den zahlreichen nach oben und unten zeigenden Rolltreppen, befindet sich ein Tisch, auf dem vor geraumer Zeit eine Schaufensterpuppe positioniert wurde. Sie sitzt dort, trägt häufig wechselnde Klamotten und einen unmodischen graubraunen Kurzhaarschnitt aus Plastik.

Ihre Haltung ist verkrampft. Kerzengerade thront sie auf ihrem Tisch, zwischen Damensocken und Handtaschen, in unmittelbarer Nähe zu den wichtigsten Gängen des Erdgeschosses. Und jedesmal, wenn ich das Karstadt-Kaufhaus betrete, sehe ich sie. Wer baut solche Puppen, denke ich dann häufig und suche vergeblich das Lächeln in der starren Miene aus Kunststoff. Ihr Mund ist nur ein schmaler Strich, und in ihren Augen finden sich nur Langeweile und Trauer. Ich nehme mir ein Herz, laufe durch die Gänge, entdecke ein Paar flauschige Wohlfühlsocken mit lustigen Tiergesichtern und lege es liebevoll in ihren Schoß. Natürlich lächelt sie nicht – wie sollte sie auch, als unbewegliche Schaufensterpuppe? Und doch stelle ich mir vor, dass sie sich freut, dass sie – irgendwie – nach innen schmunzelt.

Beim unserer nächsten Begegnung lege ich ihr eine Handtasche in den Schoß. Keineswegs verdient diese die Bezeichnung „hübsch“; sie ist eher schrill und grell und wirft, so absurd es klingt, ein wenig Leben in das künstliche Antlitz. Beim übernächsten Mal ist es ein riesiger rosaroter Regenschirm, den ich ihr in die Finger drücke. Natürlich wird sie hier drin, im Inneren des Kaufhauses niemals nass werden, dennoch glaube ich, dass sie die Geste zu schätzen weiß. Und nicht nur sie. Gerne stelle ich mir vor, wie potentielle Karstadt-Kunden an ihr vorbeigehen, den Schirm oder die Socken bemerken und darüber schmunzeln. Nicht länger ist die Puppe eine fade, unbemerkte Erscheinung am Rande des Gangs, sondern eine klitzekleine Attraktion, ein winziger Grund zu lächeln. Ich glaube, das gefällt ihr.

Was werden die Mitarbeiter denken?, frage ich mich manchmal, wenn ich ihr neues, veräußerliches Utensiliar auf die Oberschenkel lege. Mache ich mich strafbar…?

Heute trägt sie einen Hut. Eine gute Idee, denke ich, denn obgleich die Kopfbedeckung aufgrund fehlenden Bezugs zu aktuellen Modevorstellungen unkaufbar ist, bedeckt er doch ihre unschöne, festsitzende Plastikfrisur und raubt ihr einen weiteren Teil der fortwährenden Starre.

Ein paar Meter weiter werden Sonderangebote veräußert. Ein Mann mit Mikrofon wirft mit Preisen und Sortimenten um sich, und ich bete leise, dass er mich nicht sieht, mich nicht anspricht, als ich direkt vor seiner Nase einen riesigen Plüschteddy vom Wühltisch klaube und zu meiner Schaufensterpuppe trage. Liebevoll setze ich ihn auf die reglose Figur, lasse ihn sich sanft mit kuschligem Fell an ihre nackten Arme lehnen. Ein letzter Blick, und ich verlasse das Gebäude.

[Im Hintergrund: Helrunar – „Frostnacht“]