Nun liegt meine Lektüre des Buches „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche bereits mehrere Tage zurück, ich habe es mittlerweile weiterempfohlen und anderen zu lesen gegeben – immer in Kombination mit der Einschränkung, dass mir missfiel, dass es sich bei diesem Werk um zahlreiche Tabu-Themen handelt, die auf positiv-interessante Weise um eine leider recht spärliche Handlung drapiert wurden. Ich habe also Abstand zu dem Buch gewonnen, Abstand zu dem Ärger darüber, dass ich die 15 Euro für mich nicht als sinnvoll investiert gedachte, Abstand zu der Mediendiskussion über „Feuchtgebiete“.
Und aus diesem Abstand heraus fand ich neues Interesse. Ich entdeckte, dass „Feuchtgebiete“ in der Spiegel-Bestsellerliste auf dem zweiten Platz landete – und stellte fest, Frau Roche diesen Erfolg zu gönnen. Gezielt suchte ich nach Interviews neueren Datums, um Charlotte Roche noch einmal über ihr Buch, über Rasurzwang und Analfissur, über Proktologen und Prostituierte reden zu hören. Ich wurde fündig und fand zugleich auch meine Freude darüber wieder, Frau Roches Worten zu lauschen.
Denn tatsächlich sind die vielen Themen, die das Buch anschneidet, die vielen Worte, die Frau Roche in diversen Sendungen leider immer nur ansatzweise verlieren kann, wichtig und spannend und erwirken oft meine Zustimmung. Hinzu kommt, dass sie selbst mit einiger Vernunft über die Reaktionen auf das Buche reflektiert und darauf verweist, dass es eben nicht nur um Pseudopornographisches geht, sondern auch um ein Scheidungskind, das unter hohem Druck stehend Unmöglichstes auf sich nimmt, um die Scheidung rückgängig zu machen.
Leider ist diese Ebene sehr flach gehalten und – nicht zuletzt durch die vielen Medienauftritte – partiell vorausahnbar.
Dennoch habe ich begriffen, dass das Buch von Charlotte Roche eine Wichtigkeit besitzt, die ich vorher übersah: Es berührt bewusst zahlreiche Themen, über die nicht geredet wird, es überschreitet Grenzen, von denen wir nicht wissen, wer sie uns auferlegte, es kommuniziert an einer Stelle, wo allgemeines Schweigen verordnet zu sein scheint.
Ich habe keine Hämorrhoiden, doch wäre sicherlich der letzte, der über so etwas mit jemandem reden würde. Ich mag es, wenn Frauen sich Achseln und – zumindest ansatzweise – den Genitalbereich rasieren, doch kann nicht abstreiten, dass dieser Rasurzwang allgemein verordnet ist, ja dass mein Geschmack dahingehend beeinflusst wurde, dass ich mich im ersten Augenblick sicherlich angewidert wundern würde, hielte mir eine Frau ein Büschel Achselhaare vor das Antlitz. Und obgleich ich stets der Ansicht war, dass Haare nur Haare sind, also kein Teufelswerk, kann ich diesen Druck, sich eben dieser lästigen Dinger zu entledigen, durchaus verstehen. Genauso gilt, dass in meinen Augen Kot eben Kot ist, etwas, das jeder produziert, der über eine einigermaßen normale Verdauung verfügt. Und dennoch redet man nicht darüber, und ich selbst hasse es, wenn jemand in der Nähe ist, während ich die Toilette aufsuche.
In ähnlicher Weise könnte ich noch eine Weile schreiben: Das Buch gibt Ansätze, die dazu einladen, das, was normal zu sein scheint, zu überdenken und das, was jenseits des Normalen zu liegen scheint, zurück auf den Boden zu holen. Noch deutlicher als im Buch wird das aber in den Interviews, die Frau Roche gibt, in den Sendungen, an denen sie teilnimmt. Und ich begrüße das.
Das Buch selbst kann ich noch immer nicht mögen. Mal abgesehen davon, dass es wohl auch nicht dazu gedacht ist, gemocht zu werden [und von ihr selbst mit einem FSK21 belegt werden würde], war es nicht die Sprache, nicht die Thematik, die mich abschreckte. Ich habe als Zivi einen Flur von abgetropfter Scheiße bereinigt, ohne zu murren. Da werde ich mich mit Sicherheit nicht an Worten aufreiben.
Doch weil das Buch leider kaum mehr ist als eine Ansammlung spannender Denkansätze, kaum mehr, als ein winziges bißchen Romanhandlung mit einer Menge nicht uninteressanter Worte ringsherum, kann ich es nicht mögen. Denn vergebens suchte ich den Roman auf all den bedruckten Blättern.
Aber wenn ich es andersrum betrachte, wenn ich dieses Buch als Mittel zum Zweck sehe, als Weg, Charlotte Roche und ihre Ansichten in die Medien zu bringen, ihr Aufmerksamkeit zu schenken und andere somit zum Überdenken ihrer selbst anzuregen, wenn also das Buch nur ein Vorwand ist, um sich mit Tabus öffentlich auseinanderzusetzen, dann kann ich es gutheißen, ja sogar fast mögen.
Zwar bin ich noch immer der Ansicht, dass ich die 15 Euro anders hätte investieren sollen, doch hätte ich das Buch so oder so gelesen – und kann es noch immer empfehlen.
Sehr interessanter Kommentar zu diesem Buch, den ich noch nicht gelesen habe.
Tabubrüche sind ja oft ein Kunstmittel, ich denke nur Beuys usw.
Die Frage ist nur, was soll der Tabubruch bezwecken?
Reine Unterhaltung?
Oder etwas ernsthaftes anschneiden?
REPLY:
Ich glaube, in dem Fall ist der Tabubruch selbst das Mittel. Warum reden wir nicht über eigentlich Normales, und warum empfinden wir Unsinniges als normal? Beispielsweise. Da klingt durchaus eine ernsthafte Note mit…