Eine bittere Linie

Ich habe begonnen, ihn zu bemitleiden. Vielleicht verdient er mein Mitleid nicht, vielleicht braucht er es auch gar nicht, vielleicht würde es ihn sogar verärgern, doch das ist mir egal.

Seinen Job möchte ich nicht haben. Nicht nur weil dieser kaum beliebter sein kann als der von Politessen und Straßenbahnkontrolleuren, sondern weil er eindeutig langweilig ist. Den halben Tag sitzt er an einem kleinen Tisch nahe des Bibliothekseingangs und betrachtet die Hereinkommenden. Jeder, der die Bibliothek betritt, ist verdächtig; soviel steht fest.
Nicht nur, weil Studenten nachlässig sind und die eine oder andere Verordnung mal ignorieren, sondern auch, weil Studenten clever sind, clever genug, um Methoden zu entwickeln, erwähnte Verordnungen zu umgehen.

Doch Nahrungsmittel haben in der Bibliothek nichts zu suchen! Ebensowenig Rucksäcke und andere Taschen! Die Bücher waren teuer und sollen nicht von Müsliriegeln und Bionade verunstaltet werden oder gar mutwillig entwendet werden!

Wer einen der schicken blauen Bibo-Plastikkörbchen durch die Tür trägt, ist verdächtig. Sicherlich: Das ist ein Buch und das andere ein Notebook. Doch was befindet sich darunter? Oder dort, in deinen ausgebeulten Hosentaschen? Ein Handy? Du weißt aber, dass Telefonieren in der Universitätsbibltiohek untersagt ist?

Der Mann hat längst den Großteil seiner Haare verloren, und ich hege die Vermutung, dass zusammen mit diesen auch die Fähigkeit zu lächeln verschwand. Sein Mund ist eine gerade Linie, und jedesmal, wenn ich ihn sehe, frage ich mich, was wohl der Grund für seine Verbitterung sein könnte.

Ist es nur der Umstand, dass er hier hockt, tagein, tagaus, die Hereingehenden betrachtet und in den seltensten Fällen aktiv zu werden braucht? Ist es nur der Umstand, dass täglich Hunderte Studenten an ihm vorbeilaufen, ihn oft keines Blick würdigen, während er sie betrachtet, sich ausmalt, welche Zukunft vor ihnen liegen könnte, welche Erfolge sie womöglich noch einheimsen werden – während er an der selbständig öffnenden Glastür darauf nur noch darauf warten kann, dass seine Rente sich nähert?

Ich glaube in seiner Verbitterung zu ertrinken, wenn ich an ihm vorübergehe, und hoffe inständig, mich zu irren. Doch wenn er im Bibo-Café einsam seine Pause verbringt oder die steif und hölzern die Toilette besucht, wenn er wortlos Stunde für Stunde absitzt, dann erwacht mein Mitleid.

Seine Ablöse kommt, und sie wechseln einige Worte. Viel war nicht los, und das Gespräch beschränkt sich auf das Nötigste. Seine Nachfolgerin wirkt lebendiger, dynamischer, so, als würde ihr der öde Job gefallen, als würde sie in der Nähe derart vieler junger Menschen aufblühen. Als ich in ihre Richtung blicke, lächelt sie sogar, und ich bin verdutzt. Wie macht sie das?

Am nächsten Tag sehe ich ihn wieder, an gleicher Stelle wie immer, der Mund wie immer an den Horizont angepasst, ein dünner Strich, der das Kräuseln längst verlernte. Doch ich will es versuche, will es wagen.

Als ich die Bibliothek betrete, schaue ich nicht weg. Bewusst locker trage ich meinen Korb herein, offenbare ein ehrliches Gesicht. Ich habe nichts zu verbergen, denke ich, und versuche, das meiner Mimik anmerken zu lassen. Und dann die Krönung: Ich lächle.
Gerade, als er mich prüfend mustert, mein Utensiliar in Augenschein nimmt, als sein Blick zu meinem Gesicht wandert, genau jetzt lächle ich. Ich schiebe alles Mitleid beiseite und lächle einfach.

Es ist nicht leicht. Zu unnatürlich wirkt, was meine Mundwinkel fabrizieren, doch ich gebe mir Mühe. Schau her, rufe ich in Gedanken, ich respektiere dich, finde gut, was du machst, dass du uns vor Unrat und Schmutz, vor Handyträllerei und verklebten Seiten, vor Taschengerempel und Buchdiebstahl bewahrst, finde gut, dass du imstande bist, Tag für Tag diesen, deinen, Job, zu erledigen. Ich lächle, weil ich zu wissen glaube, dass diese Arbeit für dich nicht alles ist, weil du zu Hause Frau und Kinder besitzt, weil du interessanten Hobbys nachgehst, dem Frohsinn frönst, sobald du diese Bibliothek hinter dir gelassen hast.

Später sah ich ihn in irgendeiner Sparkassenfiliale. Er war allein, und eine bittere Linie bildete seinen Mund.