King of the Road

Ich mag es, wunderfeine Geschichten zu erzählen, kleine, schöne Dinge zu beobachten und selbst in den skurrilsten Wesen etwas zu entdecken, das mich schmunzeln und die Welt lobpreisen lässt. Doch nun ist es an der Zeit, dass ich mich einmal aufrege. Über Fußgänger. Und über Fahrradfahrer. Und überhaupt.

Ich fahre gern Rad, und früher besaß ich meistens Mountainbikes, deren Sattel-Lenker-Verhältnis mich stets in windschnittiger, sportlicher Haltung sitzen ließen und somit allein aus der eigenen Haltung heraus dazu anregte, rastlos durch die Gegend zu düsen, Verkehrsregeln nur soweit wichtig zu nehmen, wie sie andere betrafen, Bürgersteige hoch und runter zu springen und immer wieder neue Rekorde für gleiche Strecken aufzustellen.

Vor etwa zwei Jahren kaufte ich mich dann ein Herrenrad, alt, gebraucht, aber rüstig und verkehrstüchtig. Ich mochte es auf Anhieb. Der Sattel war bequem, und die aufrechte Haltung ließ mich eher an Spazierfahrt als an rasantes Zielerreichen denken. Ich weiß bis heute nicht, aus welchem Jahrzehnt das Rad stammt, doch allein die antiquierte 3-Gang-Schaltung ließ mein Herz höher schlagen. Und überhaupt: Kein Plastik, kein billiger Schund, war verwendet worden. Das Leder das Sattels schmiegte sich angenehm an mein Gesäß, und fortan fuhr ich Rad, als wäre ich ein König.

Das bedeutet jedoch nicht, dass ich langsam fuhr. Sicherlich, ich fuhr gemächlicher, wenn ich es wollte, spürte nicht länger den Drang, nach vorne zu preschen, schneller, schneller und noch schneller davon zu eilen. Doch wenn wollte, konnte ich. Und die Schönwettermeute, die sommers die Radwege bevölkerte, war stets rasch überholt.

Ich habe gelernt, vorausschauend zu fahren, mich zwischen Menschen und Autos hindurchzuschlängeln, das Verhalten von Verkehrsteilnehmern genau abzuwägen und erst dann meine Wegentscheidung zu treffen, in Sekundenbruchteilen optimale Strecken mit Minimalhinderniszahl zu ersinnen, Ampelphasen zu studieren und auszunutzen, Erzeuger unvorhersehbarer Ereignisse, zum Beispiel Kinder und Hunde, weiträumig zu meiden – und bei alledem so zu fahren, dass die darauf wartenden Polizisten nicht imstande wären, mir Unrechtes vorzuwerfen.

Wenn ich an einer Ampel stehe, muss ich jedoch feststellen, dass die Voraussicht, die ich zu besitzen glaube, den wenigsten zueigen ist. Nähere ich mich einer bei Rot wartenden Menschen- und Radfahrermasse, so beschaue ich mir die Mitanwesenden genau, versuche abzuschätzen, wie schnell wer starten und wer wem im Weg sein wird, um alsbald die beste Route erdacht zu haben und meinen Weg ungebremst und beschwerdefrei fortzusetzen.

Doch da erscheint eine ältere Dame. Und es muss keine Frau sein, und alt sowieso nicht. Irgendwer erscheint und stellt sich direkt vor mein Vorderrad. Hallo?, denke ich empört, dass dies ein Radweg ist, spielt keine große Rolle. Aber dass Sie direkt vor meinem Fahrrad zu warten beschlossen haben, schon! Ein Rad ist im Allgemeinen mit höherer Geschwindigkeit bestückt als ein zu Fuß Gehender, und sobald ich anfahre, muss ich mich darum bemühen, Ihnen auszuweichen, weil ich – natürlich – bereits wenige Sekunden nach dem Start zu Ihnen aufgeschlossen haben werde und Sie somit als unwillkommenes Hindernis empfinde. Und nicht nur das: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich das grüne Lichtsignal vor Ihnen bemerke, denn ich bin jung und besitze gute Reflexe. Schwuppdiwupp habe ich meine Masse in die Pedalen geworfen – und lande in ihrem Allerwertesten. Und da das sicherlich nicht auf ihrer heutigen Tagesplanung verzeichnet ist, stellt sich doch die Frage, warum Sie dachten, dass ausgerechnet vor mir die günstigste Postion wäre, um auf ein Ampellichtumschalten zu warten? Glauben Sie tatsächlich, durch diese winzige Drängelei Sekunden gutmachen zu können? Wohl kaum, denn mein Vorderreifen in ihrem Allerwertesten wird sie mit Empörung bestücken und jeden Zeitgewinn genüsslich aufzehren.

Doch ich bleibe ruhig, sage nichts, warte bis mein Vorderwesen das grüne Leuchten bemerkt und sich in Bewegung gesetzt hat – und beginne dann mit meinem Lieblingsspiel, der Suche nach dem optimalen Weg.

Allerdings wäre es nicht rechtens, ausschließlich Fußgänger mit Schimpfgedanken zu versehen, nur sie mit innerer Nörgelei zu bedecken. Denn Radfahrer neigen dazu, sich ähnlich zu verhalten – jedoch häufiger.

Während ich also durch die schönste aller sachsen-anhaltinischen Landeshauptstädte radle, geschieht es nicht selten, dass ich eine oder zwei Personen überhole. Prompt taucht auch schon die nächste Ampel auf. Rot ist ihre Farbe und Bremsen meine Tätigkeit. Ich stehe und warte, als ich plötzlich spüre, wie sich von hinten zwei Gefährte nähern. Oh, Sie kenne ich!, denke ich erfreut, während die beiden Drahtesel samt ihrer Besitzer an mir vorbei rollen. Ey!, denke ich dann, als die beiden Drahtesel somit ihrer nicht minder esligen Besitzer sich elegant vor mich schlängeln und dort zum Stehen kommen. Hallo?, rufe ich nicht, ich habe Sie soeben überholt, und das ziemlich mühelos, wie Sie zugeben müssen. Von dieser Information ausgehend und voraussetzend, dass ich aufgrund meiner immernoch einigermaßen vorhandenen Jugendlichkeit nicht dazu neigen werde, schneckige Starts hinzulegen, erscheint es ziemlich befremdlich, dass Sie ihre Gefährte ausgerechnet vor mich setzen. Es wäre zwar sowohl für mich als auch für Sie erfreulich, wenn Sie üblicherweise sehr rasch anfahren würden und damit ihren Freundeskreis zu beeindrucken pflegen, doch glaube ich davon ausgehen zu können, dass dem nicht so ist, dass Sie mir also, sobald ich das grüne Lämpchen bemerke und die Pedale zu nutzen gedenke, starr und immobil im Wege sein werden. Und hätten Sie beobachtet, mit welch beeindruckender Lässigkeit ich vorhin an Ihnen vorbeizischte, so wären Sie sicherlich zu derselben Schlussfolgerung gekommen wie ich lässiger Zischer, nämlich, dass dem Vorhaben, sich ausgerechnet in eine vor mir befindliche Warteposition zu begeben, nur sehr wenig Sinn innewohnt.

Ich schweige, gnädig, warte, bis das Grünlicht erscheint, harre geduldig aus, bis die vier Esel vor mir von dannen düsen und setze ihnen nach, ruhig, locker, doch zugleich rasch und sportlich, fast majestätisch. Ich lächle, als ich an ihnen vorbeizische, lässig, wie gewohnt, und fühle mich, als wäre ich ein König.

[Im Hintergrund: Esoteric – „The Maniacal Vale“]