Dass das Wort „Kuss“ tatsächich dazu anregt, die Lippen ein wenig zu spitzen und so etwas wie einen Kussmund zu formen, war für mich eine neue, aber nicht sonderlich überraschende Entdeckung. Dass aber die eigentlich recht neutrale Verabschiedung „Tschüss“ diesen Kussmund noch stärker ausprägt, beeindruckte mich dann aber schon. Zwar weigert sich mein Herkunftswörterbuch, eine Aussage darüber zu machen, doch halte ich es nicht für unmöglich, dass „Tschüß“ aus eben jener Lippenverformung heraus entstand…
Monat: Juni 2008
Viele Worte
Ich verliere gerne viele Worte.
Wenn ich von einem Ereignis berichte, das mir widerfuhr, wenn ich Dinge erwähne, von denen ich hörte, wenn sich die Thematik in jene Bereiche begibt, die sich mit denen meines Interesses decken, schwafle ich. Nicht nur mündlich, auch schriftlich. Ich bin überhaupt nicht imstande, mich kurz zu fassen, und auch wenn ich es hin und wieder versuche, muss ich doch feststellen, dass es mir nicht gelingt. Selbst die einfachste Information wird in meinen Gedanken mit Verschnörkelungen versehen, die ich nicht selten für wichtig erachte.
Wenn ich zu erzählen beginne, entdecke ich oft, dass eine Vorgeschichte existiert, die nicht minder interessant ist und die dazu beiträgt, den eigentlichen Inhalt besser zu erfassen. Doch leider verfügt die Vorgeschichte ebenso über eine Vergangenheit, und häufig müssen auch hilfreiche Erläuterungen zwischengeschoben werden. Rasch entwickelt sich ein eigenlich harmloser Fakt zu einer kleinen Geschichte, zu einem Wirrwarr von Informationen, das ich sorgsam zu einem Paket verschnüre. Ich erzähle gerne und mag es daher, den Fluss der Geschichte zu steuern, gezielt auf Neben- und Hauptpfaden zum Kern hinzulenken, zur Auflösung, die ich – natürlich – bis zum Schluss hinausgezögere. Selbst wenn es zum besseren Verständnis notwendig wäre, den Kern schon vorher preiszugeben, weigere ich mich, lasse ein paar Andeutungen fallen und strapaziere die Geduld von Zuhörern und Lesern.
Komm zum Punkt!, lese ich auf den Gesichtern, doch das erweist sich als unmöglich. Stets exisitieren unzählige Nebeninformationen, die ich für relevant halte, von denen ich glaube, dass sie keinesfalls weggelassen werden können, so viele Wörter, die mir noch auf der Zunge liegen, darauf wartend intoniert zu werden. Rascher zum Punkt zu kommen, bedeutet für mich nur, schneller zu reden.
L meinte mal zu mir, dass sie hoffe, mich niemals dolmetschen zu müssen. Denn nichts ist anstrengender für einen Übersetzenden, als erst nach dem Ende des Gesagten zu erfassen, was dessen Inhalt gewesen war – und dann erst mit dem Dolmetschen beginnen zu können.
Ich mag die deutsche Sprache, liebe es, mit Wörtern zu spielen, neue zu erfinden. Etwas zu erzählen bedeutet für mich, nicht nur eine Information zu verkünden, sondern zugleich die Möglichkeiten meines Wortschatzes auszuschöpfen und zu erweitern, kleine Kunstwerke zu bauen, an denen ich mich heimlich erfreue.
Außerdem liebe ich Schwulst. Seit Jahren bereits finde ich Gefallen daran, meine Sprache mit veralteten Ausdrücken und umständlichen Wendungen zu zieren, Sätze zu verlängern und immer neue Synonyme für bereits verwendete Wörter zu entdecken. Ich mag Anaphern und Epiphern, Alliterationen und Wiederholungen, Aufzählungen und Einschübe – selbst wenn das Textverständnis darunter leidet.
Wie kann es da verwundern, dass es mir nicht gelingt, mich kurz zu fassen, dass ich mich am klanglichen Konstrukt des Satzes erfreue, während Leser oder Zuhörer nur auf die Information warten, die am Ende meiner Ausführungen folgen wird? Wie kann es da verwundern, dass, selbst wenn ich mich bemühe, nur wenige Worte zu verwenden, am Ende doch wieder ein Text entsteht, dessen sich Länge weit jenseits des eigentlich Gedachten befindet?
Heute las ich eine Frage, die ich mir selbst zu beantworten versuchte: Wie ordnest du deine Bücher? Die gelesene Antwort war – erstaunlicherweise – „Nach Farben.“. Die in meinem Kopf entstehende Antwort jedoch nahm schnell romanartige Formen an. Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf und begann, sie aufzuschreiben.
The Order of the Books
Ich besitze insgesamt drei Regale, in denen ich Bücher aufbewahre, und ursprünglich hatte jedes von ihnen eine eigene Bedeutung. Regal 1 stammt von Ikea, ein simples Gorm-Regal, auf das die Blicke fallen, sobald man mein Zimmer betritt. Hier befinden sich Bücher, die ich besonders mag, Bücher, die ich immer wieder lese. Sie sind nach Autoren geordnet, was jedoch nicht heißt, dass irgendein alphabetischer Algorithmus eine Rolle spielt, sondern nur, dass Werke desselben Autors nebeneinander Platz finden. Da ich von einigen durchaus viele Werke besitze, ist es natürlich auch eine gewisse Eitelkeit, die mich dazu bringt, die Bücher am, Zimmereingang zu präsentieren. Nebeneinander aufgereiht bilden sie einen durchaus beeindruckenden Anblick.
Ich hatte anfangs versucht, die einzelnen Etagen thematisch zu sortieren, doch weil immer weniger Platz zur Verfügung stand, vermischten sich die Kategorien. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass mich das sonderlich stört.
Da das Gorm-Regal beidseitig befüllbar ist, existieren auch auf der Rückseite Bücher, ebenfalls nach Autoren sortiert, doch ansonsten keiner weiteren Struktur unterworfen. Hier finden sich zumeist meine Neuanschaffungen, die ich, nachdem ich sie durchlas, erst einmal dorthin positionierte, wo es noch ein wenig freien Platz gab.
In der – vom Eingang aus gesehen – linken Zimmerecke steht Regal Nummer 2. Dieses befasst sich vornehmlich mit Fantasy und Science-Fiction, und ich finde es amüsant zu bemerken, dass es noch ein weiteres Ordnungskriterium gibt: Von oben nach unten nimmt die Beliebtheit der Bücher ab. Nicht kontinuierlich – zwischendurch befinden sich immer Ausreißer, die eher in Richtung des oberen oder unteren Endes der momentanen Gutfindskala einzuordnen sind -, doch allein, dass meine Lieblingsfantasyreihe an oberster Stelle steht und sich weit unten Werke befinden, dir mir einst geschenkt wurden, obgleich ich nie etwas mit ihnen anfangen konnte, ist Beweis genug. Dass ich unter der letzten Bücherreihe noch unzählige Comichefte lagere, beinhaltet jedoch keinerlei Wertung.
Das dritte Regal ist klein und hängt über meinem Bett. Hier stehen vorwiegend Comicbücher. Und weil einige der Comics sich auch jüngeren Lesern zuwenden, findet man in dem kleinen, durchaus unansehnlichen Regal auch Bücher für Kinder und Jugendliche. Nicht viele, aber ein paar. Warum Kafka und Hesse ebenfalls dort anzutreffen sind, vermag ich aber nicht zu sagen.
Drängelei
Ich lehnte mein Rad an die Hauswand, ließ das Schloß ein sanftes „Klick“ von sich geben und klingelte. Nicht, dass ich häufig Ärzte besuchen würde, doch eine Praxis, bei der die Haustür bereits verschlossen war und per Gegensprech geöffnet werden musste, war mir bisher begegnet. Niemand reagierte. Sicherlich, ich hatte zaghaft geklingelt, kurz nur, als wäre die versperrte Haustür ein Versehen gewesen, das zu entschuldigen ich gerne bereit war. Vielleicht war aber auch mein Klingeln nicht gehört worden. Wer wusste denn, mit welcher Hörbarkeit der Klingelton im Inneren der Praxis ertönte? Allzu penetrant durfte er schließlich nicht sein; die Patienten könnten das übelnehmen. Vielleicht hatte die Ärztin aber auch Urlaub, und niemand war anwesend. So etwas passierte, und mich hätte es nicht sonderlich überrascht.
Neugierig trat ich einen Schritt zurück, versuchte, irgendeinen Hinweis auf Urlaub zu entdecken. Doch ich fand nichts. Ich klingelte ein zweites Mal, diesmal länger, kräftiger, und trat erneut zurück. Vielleicht hing ja im Fenster ein kleines Schild. Oder irgendwo klebte ein Aufkleber „Urlaub vom ümpften Juni bis zum blorksten Juli.“ Nichts.
Die Tür brummte. Mein Klingeln war erfolgreich gewesen; mir wurde Einlass gewährt.
Doch bevor ich den Türgriff berühren konnte, hatte sich seine kleine, alte Frau an mir vorbeigestohlen, die Tür geöffnet und die wenigen Stufen zur Hochparterre hinaufbegeben. Das gibt’S doch nich!, dachte ich verblüfft. Dreist und kommentarlos hatte sich die Omi vorgedrängelt – und wollte natürlich auch zur Allgemeinärztin.
Das Wartezimmer war voll, nur ein einziger Sitzplatz frei. Ein Kind beschaute sich fasziniert einen Artikel über den „Sex and the City“-Kinofilm, und ich fragte mich, ob es nicht bessere Lektüre für ihr Alter gab. Ein junge Frau blätterte in einer Mode- und Promizeitschrift, und ich entdeckte auf Anhieb neun Gründe, warum ich sie unsympathisch fand. Die anderen Wartenden waren unauffällig, von buntem und weniger buntem Blattwerk gefangengenommen.
An der Anmeldung staute es sich. Die alte Frau wollte wohl unaufdringlich wirken und ließ großen Abstand zu ihrem Vordermann. Genug, um mich schon fast wieder aus der Praxis hinauszubefördern. Genug, um meinen potentiellen Hintermann zum ebenfalls Vordrängler werden zu lassen: Er hatte nicht wahrgenommen, dass wir anstanden und sich spontan in die Riesenlücke vor Omi eingereiht. Omi schwieg, empörte sich nicht.
Interessiert beobachtete ich sie. Entweder sie tolerierte als geübte Vordränglerin fremdes Vordrängeln – oder sie sie fraß ihre Entrüstung in sich hinein.
„Entschuldigung.“, sagte ich in freundlichstem, höflichstem Tonfall zu meinem potentiellen Hintermann. „Wir stehen auch an.“ Mein potentieller Hintermann wurde zu einem richtigen, und Omi fand nun, da jemand die Thematik auf die Tisch gebracht hatte, ihre Stimme: „Genau. Hinten anstellen!“
Darauf hätte ich antworten sollen. Doch ich schwieg.
w.z.b.w.
Irgendwann in meiner frühen Jugend hatte ich das Zweifeln gelernt und schmückte mit erstaunlicher Häufigkeit die Sätze anderer mit dem Anhang „… was zu bezweifeln wäre“. Ich erinnere mich zwar nicht daran, dass mir gegenüber jemand zum Ausdruck brachte, wie sehr dieser Klugscheißerspruch nervte, doch nach einer Weile hatte ich selbst davon genug – zumindest davon, ihn in aller Vollständigkeit auszusprechen. Ich beschloss also, die Sache abzukürzen: „w.z.b.w.“. Natürlich half das nicht, beeilte ich mich doch, nach jeder Erwähnung von „w.z.b.w.“ ein erklärendes „was zu bezweifeln wäre“ hinten dran zu hängen, um fragend blickende Gesichter zu vermeiden.
Normalerweise verblasst Drang zu solch einer Macke allmählich, meistens nur wenige Wochen, nachdem sie aufgehört hat, lustig zu sein, und so hätte es auch in diesem Fall sein können – wäre mir da die Mathematik in die Quere gekommen. Mathematische Beweise standen plötzlich auf der Tagesordnung, ich lernte eine lateinische Formel, „Quod erat demonstrandum“, kennen und erfuhr im selben Atemzug ihre Abkürzung, „q.e.d.“
Das hätte auch anstelle von „SPQR“ auf den Feldzeichen der Römer in den Asterix-Comics stehen können, dachte ich damals und der Gedanke gefiel mir. Dem Mathelehrer jedoch schien Latein nicht sonderlich zu behagen. Obgleich die Formel länger war und weniger leicht von der Zunge floss als „q.e.d.“, führte er ein, dass „w.z.b.w.“ – „was zu beweisen war“ – unter die Beweise zu schreiben sei.
„w.z.b.w“ – „Was zu bezweifeln wäre“, lachte ich, musste aber feststellen, dass ich der einzige war, der das komisch fand. Und offensichtlich war ich auch der einzige, dem auffiel, dass ich zufälligerweise dieselbe Abkürzung schon vorher „erfunden“ hatte, dass also entweder Genialität oder erstaunlicher Zufall ihre Finger im Spiel gehabt haben mussten.
Ich verweigerte mich fortan dem „w.z.b.w.“. Ich belästigte Freunde nicht länger mit dieser Art von Klugscheißerei und weigerte mich so gut es ging, etwas anderes als „q.e.d.“ unter meine Beweise zu schreiben. Denn jedesmal, wenn ich „w.z.b.w.“ hörte oder las, übersetzte ich automatisch: „was zu beweifeln wäre “ – und seufzte genervt.
Teddy
Die Vier
Du warst die vier. Das konnte ja nichts werden.
Nicht bei mir, der die Dreiundzwanzig mochte, besessen war von der Dreiundzwanzig, die meinen Geburtstag bildete, besessen von ihren Auswüchsen, ihren Formen, ihrer Primzahligkeit, besessen von ihrer Quersumme, die sich in meinem Geburtsmonat wiederfand. Die Vier warst du, wenn man das halbe Etwas nicht mitzählte, das sich irgendwo zwischendrin lagerte und ohnehin nie Bedeutung erlangt hatte. Für sie nicht. Für mich nicht. Du warst die Vier in meinem Universum der Zahlen, das sich nur zu gern zum Ungeraden neigte, primzahlaffin Aussenseiter liebkoste, nicht das Gerade, Ebene, Augen Beruhigende streichelte, sondern das Verwackelte, etwas Versetzte, das, was ein wenig neben dem Üblichen stand.
Mit der Eins begann das Zählen, doch ist sie schwerlich dem Geraden oder Ungeraden zuzuordnen. Die Zwei blieb mir fremd. Doch schon die Drei war märchenhaft, und blicke ich heute zurück, entdecke ich ein sich nach Erinnerungen sehnendes Lächeln in meinen Gesicht.
Du warst die Vier, und wären wir in deiner Welt gewesen, hätte diese Zahl Perfektion berührt. In deiner Welt, in der die Zwei Bedeutung hatte und in der die Zweiundzwanzig verhaltene Lobpreisungen erfuhr.
Vier ist Zwei hoch Zwei, hätte ich dir vielleicht gesagt, hätte ich nicht gewusst, dass dich derartige Zahlenspiele befremdeten. Trotz der geliebten Zwei, trotz ihrer Freunde.
Die Vier hätte Perfektion berührt, wäre es deine, nicht meine Welt gewesen, die angefangen hatte zu zählen, nicht meine Welt mit ihren Fünfen, ihrer Elf, ihrer Siebenundvierzig, sondern deine mit der Zwei, die kaum Erwähnung fand. Perfektion.
Doch war ich nicht deine Vier, nicht die Vier in deiner Welt. Wahrscheinlich auch keine Zwei. Eigentlich wusste ich nie genau, welche Zahl mir zustand und ich wagte nie zu fragen. Denn wenn Vergangenheit zwischen deinen Worten hervorblickte, brachte sie stets Tränen mit, endlos in ihrer Zahl. Ich war nicht deine Vier, und mit Sicherheit hätte es auch keine Rolle gespielt, nicht für dich, nicht für mich, so, wie es für mich damals keine Rolle spielte, ob du meine Vier warst. Denn in jenen Augenblicken sah ich dich nur als Eins, als Nummer Eins, als Einzige, als die, die alles war.
Und presse ich dir auch jetzt eine Nummer auf den Leib, eine schlichte, schnöde, mir missfallende Nummer, eine gerade langweilige, dröge Vier, so weiß ich doch, dass du stets die Eine warst.
Zugleich warst du die Vier. Die Hälfte von Zwei hoch Drei, könnte ich mich trösten, doch „die Hälfte“ klingt zu wenig. Wenn ich an Schicksal glauben würde, an ein Schicksal, das von Zahlen bestimmt wird, würde ich der schrecklichen Vier alle Schuld in die schwarzen Schicksalsschuhe schieben. Das konnte ja nichts werden, würde ich sagen, als hätte ich es bereits vorher geahnt. Doch bis zum Schluss ahnte ich nichts. Die Vier war meine Eins. Vier plus Eins gleich Fünf. Das hätte was werden können.
Ein verwegener Gedanke ringt mir ein Lächeln ab: Wenn ein zahlenfreudiges Schicksal die Vier dazu verurteilte, an meiner Unvierigkeit zu scheitern, wenn es das Schicksal war, das die Nüchternheit, die Kantenlosigkeit, die Ebenhaftigeit dieser geraden Zahl an mir abgleiten ließ, sollte ich dann nicht frohlockend eine Eins addieren, zuversichtlich auf den Zahlenstrahlnachfolger warten, die kommende, geliebte Fünf im Geiste begrüßen und sie, die Quersumme der Dreiundzwanzig, mit warmer Hoffnung Willkommen heißen? Sollte ich nicht lächeln, weil die Vier sich in die Vergangenheit zurückzieht und die Pforten öffnet für eine ungerade Zahl, für eine Primzahl, für die jene, die mir so oft von Hausnummern und Kennzeichen entgegenwinkt, für jene Quersumme, die ich in albernem Sinnfinden prall mit Bedeutung vollstopfte?
Du bist die Fünf, könnte ich dann sagen, dann wenn sie gefunden und mir nahe ist. Du bist die Fünf. Das könnte was werden.
Wurscht II
Siehe auch „Wurscht“
Wurscht
Siehe auch „Wurscht II“
Über den Tonträgererwerb
Gestern war die Gravitation der Ansicht, einige meiner Tonträger dem Teppichboden näher bringen zu müssen, und ich nutzte die Gelegenheit, das zu tun, was ich ohnehin sei Wochen tun wollte: Aufräumen.
CDs aufzuräumen klingt an sich schon antiquiert, und dass ich nebenbei noch ein paar Kassetten fand, machte die Sache nicht moderner. Zugleich aber barg das Sortieren und Wegstellen einige Überraschungen, die nicht selten in ein gemurmeltes „Ich wusste gar nicht, dass ich mir das gekauft habe…“ mündeten. Häufig genug geschah es, dass ich mir die Frage stellen musste, wann ich denn diese CD erworben hatte. Oder warum.
Ein Grund für meine Vergesslichkeit ist natürlich die Digitalisierung: Kaum habe ich die CDs erworben, werden sie auf den Rechner kopiert und fortan vorwiegend von dort belauscht. Booklet und Cover, zwei Dinge, auf die ich beim Kauf durchaus Wert lege, erweisen sich aus dieser Perspektive als bedeutungslos. Sicherlich, ich erinnere mich daran, das Album zu besitzen, doch geriet offensichtlich in Vergessenheit, dass ich es in guter alter Silberscheibenweise erwarb und nicht auf internettigeren Wegen.
Ein weiterer möglicher Grund für die Überraschung ist offensichtlich: Das Album war zu schlecht. Dabei muss „zu schlecht“ nicht zwangsläufig bedeuten, dass es mies war und dass ich das investierte Geld besser für anderes hätte ausgeben sollen. Ebenso kann sein, dass ich das Album mal gut fand, zum Zeitpunkt des Kaufs beispielsweise, dass ich meiner Begeisterung erlag, doch diese nicht lange anhielt. Weil ich anderes fand, vielleicht. Weil es zu einem ungünstigen Zeitpunkt kam, nicht in meine Stimmung passte. Oder weil es einfach scheiße war.
Viele Alben besitze ich, weil ich die Vorgängeralben besitze und diese mir durchaus gut gefielen. Ich kaufte also das neue Werk, doch stellte irgendwann fest, dass sich etwas geändert hatte. Entweder ich und mein Musikgeschmack oder das musikalische Schaffen der Band. Wahrscheinlich aber beides. Wenn die Änderungen in verschiedene Richtungen gingen, passiert es, dass ich die CD betrachte und mich wundere, warum ich sie erwarb, obwohl sie mir doch offensichtlich recht rasch missfiel. Sich von einer einstigen Lieblingsband zu lösen jedoch ist ungemein schwer und braucht oft Zeit in Form von mehreren unguten bzw nicht gefallenden Alben.
Was wäre, frage ich mich somit, wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, wenn ich mich dem Kauf dieses oder jenes Albums, das ich aus heutiger Perspektive mit Abneigung betrachte, verweigert hätte, wenn ich gewusst hätte, dass das, was ich gerade erwerben möchte, mir alsbald unangenehm sein würde? Was wäre, wenn ich all das Geld und all die Zeit, die ich in diese Alben investierte, gespart hätte? Was wäre, wenn ich auf alle Werke, die mich heute in meiner Sammlung stören, verzichtet hätte?
Eine dumme Frage, stelle ich sogleich fest. Nicht nur, weil es technisch unmöglich zu realisieren ist, mein früheres Ich zu „warnen“, sondern auch, weil sich Geschmack eben ändert. Ich kann heute nicht mehr jede meiner früheren Begeisterungskäufe nachvollziehen, doch heißt das nicht, dass die damalige Freude unnütz gewesen wäre. Nein, auch wenn die Freude womöglich nicht lange anhielt, war sie doch vorhanden, und wer weiß, vielleicht kommt sie eines Tages zurück. Schließlich mag es zwar sein, dass ich aus heutiger Sicht früher zuweilen Ungutes kaufte und hörte, doch was werde ich morgen denken, was morgen mögen? Vielleicht finde ich dann alles, was ich heute höre, blöd, vielleicht auch das, was ich gestern mochte. Mein Geschmack ändert sich eben, kontinuierlich und schwer lenkbar, und es grenzt an Albernheit, den Kauf irgendwelcher Werke zu bereuen, bloß weil ich heute ihnen gegenüber anders empfinde.
Hinzu kommt, dass es gar nicht so einfach ist, ein Album zu beurteilen. Wenn es prinzipiell mit dem übereinstimmt, was ich an Musik mag, wenn es womöglich auch noch von einer Band stammt, die ich früher schon mochte, deren Vorgängerwerke ich vielleicht sogar besitze, dann ist es schwer für mich, eine CD schlecht zu finden. Und wenn ich gerade in einem Stimmungs- und Finanzhoch verweile, wenn alle Zeichen positiv sind, warum sollte ich nicht mal eben die paar Euro investieren und mir einen netten Tonträger zulegen, der mir sicherlich gefallen wird? Und selbst wenn das erste Reinhören nur mittelmäßige Ergebnisse brachte: Viele Alben, die ich heute liebe, sind derart gestrickt, dass ich mich erst in sie hineinfinden musste, um wirklich eins mit ihnen zu werden. Warum sollte ich nicht einem potentiellen Gutfindalbum die Zeit gewähren, die es braucht, um sich hineinzufinden und ein endgültiges Urteil zu fällen?
Sicherlich, wenn das Urteil zu Ungunsten des Werkes ausfällt, habe ich Pech gehabt. Doch wer weiß? Vielleicht lag es ja nur an meiner Stimmung, an meiner Laune, an momentanen Geschmackswankungen? Wer weiß, vielleicht gefällt mir das Album ja in ein paar Wochen?
Bis dahin ist es zu spät. Das Album steht in meinem Regal; ich habe es letztlich kaum gehört, vergesse allmählich, dass ich es kaufte – und finde es irgendwann wieder. Bereue ich diesen Kauf?, frage ich mich dann und schüttle nach ein paar Augenblicken mit dem Kopf. Nein, ich bereue nicht. Und war es auch noch so großer Schrott.