Jene Wesen, jene Daseinsstile, die gemeinhin die Bezeichnung „alternativ“ tragen könnten, scheinen bei oberflächlicher Betrachtung in Stuttgart nicht zu existieren. Will man sich von dem in der Innenstadt allgegenwärtigen Schickimickiglitzerglamour abgrenzen, pflege ich zu scherzen, erwirbt man eine von Designerhänden fachgerecht zerfetzte Bluejeans. Oder bezahlt im Bioladen vier Euro für 100 Gramm staubtrockenen Gebäcks. Oder bevölkert die Steinplatten vor dem Apple-Gravisstore.
Allein die innenstädtischen Straßennamen, Königs-, Kronprinz-, und Kronenstraße lassen keinen Platz für jenes bourgeoise Gesindel, das ich von früheren Wohnorten kenne. Selbst die Schwarzgewandeten wirken so, als bestünde ihr Protest, ihre Abgrenzung von den gesellschaftlichen Üblichkeiten darin, die elterlichen Kreditkarteninhalte in überteuerten Gothicmarkenläden zugunsten von Geschmacksarmut zeugender Ungutheiten zu reduzieren.
Sollte man sich also dazu entschließen, bei der empfehlenswert guten asiatischen Schnellfütterei innerhalb der Königsbau-Passagen eine Mahlzeit zu erwerben und diese mangels gebäudeinterner Sitzmöglichkeiten draußen, im Freien, am Schlossplatz zu verinnerlichen, darf es nicht wundern, wenn die Vorbeilaufenden und auf den Stufen Sitzenden den Anschein erwecken, Laufstege beraubt und Unsummen für Stoffetzen ausgegeben zu haben.
Dabei ist zu bemerken, dass preisintensive Mode nicht zwingend etwas mit Ästhetik zu tun haben muss. Derzeit sind es beispielsweise die 80er Jahre, denen intensiv gefrönt wird, obwohl diese mit Sicherheit nicht die äußerlich anspechendste Epoche gewesen war. Auffällig ist auch, dass jene, die mit der allgegenwärtigen Trendität aus finanziellen oder anderen Gründen nicht mitzuhalten imstande sind, sich dennoch darum bemühen und somit das Kunststück vollbringen, ohnehin Unansehliches zusätzlich zu widerwartisieren.
Stuttgart wimmelt von Wesen, die in meinem eigentlich Deutsch bevorzugenden Denken den Titel „First-Look-Beauties“ zugeteilt bekamen, die es also verstehen, sich zu gewanden und zu bemalen, sich zu frisieren und zu präsentieren, aber auf den zweiten Blick einfach nur ordinär und öde wirken.
Das Wimmeln ist besonders intensiv am bereits erwähnten Schlossplatz, an dem man nicht versuchen sollte, mit einer Asiamahlzeit bepackt einen Cafétisch zu beanspruchen. Unabhängig davon, wieviele Eisbecher und Kakaogetränke man zu bestellen und bezahlen gewillt ist: Fremdessen wird nicht geduldet. Also begebe ich mich sich eislos auf den eigentlichen Schlossplatz, dorthin, wo vor dem Neuen Schloss eine von sauberen Wegen und sorgsam gepflegten Rasenflächen umkränzte Concordia-Statue thront und allerlei Stuttgarter Bevölkerungsteilnehmer zu ruhigen Minuten auf Wiesen und Bänken einlädt.
Ich nehme dankend an und lasse mich auf einer Bank nieder, die obwohl von Sonnenschein sanft gestreichelt keinen einzigen Besetzer aufweist. Als ich zu essen beginne, erkenne ich den Grund: Ein leichter Windhauch reicht aus, um mir feuchte Springbrunnengischt ins Gesicht zu wehen. Schmunzelnd vertilge ich die mitgebrachte Nahrung. Dafür brauche ich lang genug, um zugunsten einer Testreihe insgesamt drei Mal gefragt zu werden, ob ich rauchen würde; zwei Mal davon vom selben Kerl.
Der Feuchte entweichend begebe ich mich aufs Grün. Dafür, dass ich noch vor wenigen Zeilen die Schickimickigarde beprangerte, ist die Wiese erstaunlich dicht mit ebenjenen Gestalten besät. So etwas wie Privatsphäre existiert hier nicht, doch das hält keinen Muskelitaliener davon ab, den nackten Oberkörper Sonnenstrahlen und Frauenblicken auszusetzen. Eher im Gegenteil.
Von der Königsstraße ertönt unangenehmer Straßenmusikergesang, doch im Rahmen meiner Zufriedenheit entdecke ich in mir großzügige Ignoranz. Ein junger Türke durchwühlt Mülleimer für Mülleimer nach Pfandflaschen, während sein Vater unbeteiligt wartend daneben steht. Rechts neben mir unterhalten sich zwei Erstehilfekursteilnehmende über blutigste Unfälle und links erdreistet sich jemand, mir zu nah zu sein. Irgendwo entdecke ich schließlich sogar zwei Punker und bin mittelschwer beeindruckt.
Der Schlossplatz erweist sich auch in anderer Hinsicht als sympathischer Kerl. Denn beispielsweise bei der diesjährigen Ausgabe des Animationsfestivals war er Anlauf- und Treffpunkt und der Ort, wo eine Bühne nicht nur erstaunlich gute Musiker präsentierte, sondern auch eine monströse Leinwand über mehrere Abende hinweg pixareske Trickfilme darbot. Wer nicht auf einer der raren und unbequemen Bierzeltbänke sitzen wollte, pflanzte sich eben ins Grün, schaute Bolt oder Shrek 3 und erfreute sich des sommerlichen Flairs.
Denn das bietet der Schlossplatz: Einen Hauch Mediterranität, eine Andeutung beschwingter Freiluftkultur.
Angefüllt mit innerem Lächeln besorge ich mir ein Eis, kehre zu meiner Bank zurück und betrachte die zahlreichen Menschen, die sich inmitten der Einkaufsbereiche zu einer entspannten Minute niederließen. Als der Wind mir erneut Springbrunnennässe ins Gesicht weht, schließe ich vergnügt die Augen.