Sein Name

Und dann kam der Tag, an dem mir bewusst wurde, dass ich seinen Namen nicht kannte. Wir teilten uns ein Büro, mittlerweile seit bestimmt sieben, vielleicht sogar acht Monaten, und ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie er in den Raum gekommen war, mir die Hand gereicht und sich vorgestellt hatte. Werner, hatte er gesagt, glaube ich. Oder Jeremy. Oder Olaf. Oder etwas ganz anderes. Vielleicht Rüdiger. Hassan. Michelle. Keine Ahnung.

Wir teilten das Büro, doch nicht unsere Freizeiten. Verließ er die Arbeit, war es, als sei er über den Rand meiner Welt gesprungen, nur um am nächsten Morgen in altbekannter Namenlosigkeit vor seinem Rechner zu sitzen. Ich grüßte, mochte ihn, verstand mich gut, tauschte gar Scherze und zuweilen Privates aus. Seine Freundin hieß Johanna, war Dozentin für Bildende Kunst und vor vier Wochen bei ihm eingezogen. Er sammelte Matchboxautos aus den 80ern und ekelte sich vor Topflappen. Seine Mutter nannte er immer „Mami“, wofür er sich schämte, obwohl ich es niedlich fand. Und wenn sie ihn besuchte, kaufte er stets eine Sonnenblume, weil es ihn an seine Kindheit erinnerte, die er in einem Örtchen unweit von Wiesbaden verbracht hatte, irgendwo, wo im Garten immer zahlreiche Sonnenblumen gestanden und in seiner stillen Verzückung gebadet hatten.

Oh, ich wusste vieles von ihm, kannte den Namen seiner letzten beiden Arbeitgeber, wußte, welche Schuhgröße sein bester Freund hatte, hätte ohne nachzudenken zehn Alben aufzählen können, die in seinem Regal standen. Ich kannte seinen Lieblingsfußballverein und wusste, dass er sich ärgerte, einst einen Bayern-Schal geschenkt bekommen zu haben, kannte seine Hausnummer und sein Autokennzeichen, sein Sternzeichen und das seines Bruders.

Nur seinen Namen kannte ich nicht.

Ich hatte nie darauf geachtet, doch als mir klar geworden war, dass ich seinen Namen vergessen, ja, mir niemals gemerkt hatte, fiel es mir schwerer, mit ihm zu sprechen, ihn zu rufen, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab oder in der Firmenküche Kuchen bereitstand. Ich fühlte mich unbehaglich, wenn ich mit anderen Kollegen über ihn redete, wenn ich meiner Frau von ihm erzählte, ja sogar, wenn er in den Feierabend schritt und nichts weiter als ein „Bis morgen!“ von mir erwartet wurde.

Sein Schreibtisch war stets aufgeräumt und sauber, und kein Brief, kein unnützer Zettel, kein Ausweis und keine Mitgliedskarte wagten es, darauf herumzuliegen, und mir seinen Namen zu verraten. Seine Mailadresse war eine Zahlenkombination, Kollegen nannten ihn Kobold, weil sein rotes Haar vor allem in Sommermonaten gut zur Geltung kam.

Ich fand es gemein und hütete mich vor derartigen Spitznamen. Und dennoch kam ich immer häufiger in Situationen, wo ich seinen Namen gebraucht hätte. Der scherzhaft vorgetragene Begriff des „Mithäftlings“ kam bei meinem Chef nicht so gut an, und jedes andere Synonym barg schon eine zu große Tendenz, aufzufallen und meine Unkenntnis bloßzustellen.

In meinen Gedanken wurde er zu „der Namenlose“, und scherzhaft bildete ich mir ein, es sei tatsächlich so: ‚Er hat gar keinen Namen!‘, dachte ich, bis ich mir Gründe dafür auszudenken begann. Krude Ideen wirbelten durch meinen Kopf, von Waisenhaus bis Ausserirdischer, und irgendwann hielt ich an der Vermutung fest, dass er zwar einen Namen besaß, doch niemand es wagte, ihn auszusprechen. Tatsächlich, seitdem ich darauf achtete, hatte ich niemals jemanden seinen echten Namen sagen hören. Du-weißt-schon-wer, nannte ich ihn nun, nach dem finsteren Gegenspieler Harry Potters.

Doch Du-weiß-schon-wer wurde meinen Gedanken alsbald zu kompliziert, und ich dachte, wenn ich an ihn dachte, nur noch an Voldemort. Und immer kicherte ich innerlich, weil ich mich dabei angenehm albern fand. Aber Voldemort war zu lang, und so hieß er für mich alsbald nur noch Voldi.

Eine Zeitlang ging das gut, dann erwachten Kindheitserinnerungen an einen unhübschen Fernseh-Puppendrachen, und aus Voldi wurde Poldi. Wenig zufrieden war ich mit diesem nun ermittelten Namen, war mein Kollege doch alles andere als ein Poldi. Aber als dann die Fußballweltmeisterschaft begann, war plötzlich der Name Poldi in aller Munde, bekam einen anderen Beiklang. Und es dauerte nicht lang, dass Poldi in meinen Gedanken Lukas hieß, seinem Fußball spielenden Spitznamensvetter folgend.

Lukas war ein Name, mit ich leben konnte. „Guten Morgen.“, grüßte ich ihn und ergänzte innerlich ein gelächeltes „Lukas“. Lukas blieb Lukas, egal, wie er wirklich hieß, und ich freute mich, endlich einen Namen gefunden zu haben, der zu ihm passte. Freunden erzählte ich von Lukas, der dazu neigte, zwei unterschiedlich farbige Socken anzuziehen, um eine Art Miniaturrebellion auszuführen. Meinem Sohn erzählte ich von Lukas, dessen Matchboxsammlung ihn allerdings wenig interessierte. Selbst meinem Lieblingsbäcker erzählte ich von Lukas, weil er jeden Morgen ein Käsebrötchen aß.

Vor den Kollegen hatte Lukas immer noch keinen Namen. Und doch besaß er ihn, in meinem Kopf, und jedes Gespräch, das ihn zum Inhalt hatte, fiel mir plötzlich leichter.

Es dauerte nicht lange, das bekam Lukas einen Spitznamen. Luke. Nicht sehr kreativ, ich weiß, doch es schien mir, als sei dies der richtige Spitzname für ihn, als passte er noch ein bisschen besser zu ihm.

Luke wusste von alledem nichts, und selbst als ich ihn eines Tages mit „junger Padawan“ anredete, verzog er keine Miene. Und so sollte es auch bleiben, denn nun hatte ich eine Möglichkeit gefunden, ihn mit Namen anzusprechen. Nicht mit seinem Namen, natürlich, aber mit irgendeinem. Aus Padawan wurde Pad, aus Pad iPad, daraus für kurze Zeit Ei, bis er genervt mit den Augen rollte, wenn ich ihn so nannte. Das Rollen machte ihn zu Rolli, zu Rolf, zu Zuckowski, zu Zucker, zu Sweety. Seine Augenrollfrequenz nahm zu, und ein männlicherer Name musste her. Ich nannte ihn Sylvester, nach Sylvester Stallone, aber gleichzeitig auch nach der Trickfilmkatze, die den frechen Vogel Tweety jagt, dessen Name wiederum fast wie Sweety klingt.

Aus Sylvester wurde Syl, wurde Sid, wurde – keine Ahnung, warum – Peter, wurde Pete. Pete blieb eine Weile, bis ich es Leid wurde, ihn mit einem englischem Namen anzureden. Etwas Hiesigeres musste her, etwas, das in Kürze und Merkbarkeit mit Pete konkurrieren konnte, das zu ihm, zu Pete, passte, dass altbekannt und dennoch erfrischend modern war. Ich zerbrach mir den Kopf, doch die Ideen ließen mich im Stich.

Das Buch „Beliebte Babynamen“ half auch nicht weiter. Die meisten Namen waren Mist, passten nicht, waren zu lang, zu fremdartig, zu bedeutungsschwanger, zu hässlich. Ich war bereits beim Buchstaben T angelangt, als Pete mich ansprach.

„Sag mal.“, und hier, an dieser Stelle, wo mein Name eingesetzt werden könnte, vernahm ich eine fühlbare Pause. Pete wirkte unsicher. „Haben wir einander eigentlich jemals vorgestellt?“
Ich starrte ihn an, unfähig auch nur ein Wort zusagen. Dann schüttelte ich den Kopf, langsam, zögerlich, mir meiner Lüge bewusst.
Pete reichte mir die Hand und grinste. „Ich bin Peter. Wie heißt du?“
„Äh … Lukas.“, antwortete ich und schlug ein.

Ich heiße nicht Lukas.