Multimillionär!

„Multimillionär!“, rief ich und lachte, als hätte ich schon wieder meinen Goldfisch gefrühstückt. Hatte ich aber nicht. Diesbezüglich war ich mir ziemlich sicher.

Worin ich mir außerdem sicher war: mein Berufswunsch.

Ich hatte gerade meinen siebenunddreißigsten Geburtstag hinter mir gelassen und steuerte nun mit rasanter Geschwindigkeit nicht nur auf die Vierzig zu, sondern auch durch Hamburg, das ironischerweise genau die Stadt war, in der ich meine Kindheit verbrachte und in der mir die Frage erstmals begegnet war:
„Na, was willst du werden, wenn du groß bist?“

Ich hatte keine Antwort gewusst, doch nachgedacht. Lange. Sehr lange, um genau zu sein. Meine Freunde wollten Politiker werden. Arzt. Astronaut. Schauspieler. Einer sogar Bestattungsunternehmer. Ich hingegen … wusste es nicht.

Das ärgerte mich. Nicht sehr, denn in meiner Familie waren alle klein gewachsen. Bis ich also tatsächlich groß wurde, würde noch eine geraume Weile vergehen. Wenn es überhaupt dazu kam.
Dennoch ließ mich die Frage nicht los.

Im Herbst des Jahres 1994 war ich sechseinhalb Wochen davon überzeugt gewesen, endlich meinen Traumberuf gefunden zu haben, endlich zu wissen, was ich denn eines Tages, lieber früher als später, werden wollte: Elefantenbesichtiger.
Ich hatte mir sogar eine Dauerkarte für den Tierpark gekauft, sozusagen als Investition in die Zukunft, und bis ich feststellte, dass niemand einen Elefantenbesichtiger einstellen wollte, ja, dass es wohl noch nicht einmal einen Beruf gab, der so hieß, verging eine Weile.

Selbst danach hing ich noch ein bisschen an meinem täglichen Besichtigen, bis mir der Elefantenbulle Kashmir einen genervten Blick zuwarf und ich mir überlegte, ob es nicht an der Zeit war, mir einen richtigen Beruf zu suchen. Der Posten des Maulwurfbesichtigers war schon vergeben, vermutete ich. Maulwürfe können keine genervten Blicke werfen.

Also grübelte ich. Darin hatte ich Übung, doch wenn mir jemand den Posten eines Grüblers angeboten hätte, hätte ich abgelehnt. Bloß weil man etwas gut konnte, hieß das noch lange nicht, dass man es zu seinem Beruf machen musste. Oder wollte. Oder sollte. Außerdem konnte ich nicht gut grübeln. Auf einer Skala von eins bis Karotte war ich maximal ein bleistiftiger Grübler. Semibleistiftiger, um genau zu sein.

„Was willst du werden?“, fragte ich mich immer wieder und ergänzte im Geiste „wenn du groß bist“.
Ich wusste es nicht. „Elefantenbesichtiger!“, fiel mir dann ein, und bis ich mich daran erinnerte, dass dieser Berufszweig keiner war, hatte ich oft schon eine Dauerkarte für den Tierpark gekauft. Zuweilen sogar mehrmals innerhalb eines Tages.

Ich wusste es nicht. Wusste es nicht. Wusste es nicht.

An meinem siebenunddreißigsten Geburtstag bat ich einen Freund, mich zu messen. Ein Meter neunundfünfzig. Das war nicht sehr groß, beschloss ich, und dass mir noch ein wenig Zeit bis zur Entscheidung blieb.

„Was willst du werden, wenn du groß bist?“, fragte ich mich und schüttelte mit dem Kopf.
Bis ich das Wörterbuch fand. Aufschlug. Das erste Wort verlas, das ich sah: Multimillionär.

„Multimillionär!“, rief ich begeistert, sprang auf und ab und fuhr zum Tierpark, um mir eine Dauerkarte zu kaufen. Man konnte nie wissen.

„Multimillionär!“, rief ich und lachte, als hätte ich schon wieder meinen Goldfisch gefrühstückt. Doch Herr von Flusensieb III. schwamm heiter in seinem Aquarium, während ich durch Hamburg brauste, als wüsste ich, wohin ich fuhr.
Multimillionär – das war endlich mal ein richtiger Berufswunsch. Multimillionär – das klang nach etwas. Mit einem Beruf wie diesem konnte man sich sehen lassen. Multimillionär – das wollte ich werden!

Begeistert parkte ich mein Moped in der Agathenstraße, rannte zum nächstbesten Supermarkt, riss die Frankfurter Allgemeine aus dem Kühlregal und bezahlte sie. Und nicht nur das! Ich gab sogar Trinkgeld.

„Ich kann es mir leisten!“, jauchzte ich der verblüfften Kassiererin zu, die sämtliche sieben Trinkgeldcents unbetrachtet in der Kasse verschwinden ließ. Ich sprang auf die Straße, wich zwei krokettenfarbenen Volvos aus und schlug die Zeitung auf.

In den Stellenangeboten jedoch stand nichts, was mein Augenmerk erregte. Politiker wurden gebraucht. Ärzte. Astronauten. Schauspieler. Sogar ein Bestattungsunternehmer. Aber kein Multimillionär. Dabei stand ich doch zur Verfügung! Ich war hier! Bereit! Großzügig! Und ich besaß eine Dauerkarte für den Tierpark!

Enttäuscht von Welt und Leben ließ ich die Zeitung fallen und ging zu meinem Moped zurück. Was wollte ich werden, wenn ich groß war? Ein Niemand! Ein lächerliches Stück Nichts!

Grübelnd kurvte ich durch die Stadt. Was wollte ich werden? Ich wusste es nicht. Mein siebenunddreißigster Geburtstag lag hinter mir, und ich steuerte unaufhaltsam auf die Vierzig zu. Und auf den Tierpark.

Ich bremste scharf. Stieg ab. Kaufte eine Dauerkarte.

Elefantenbulle Kashmir entdeckte mich sofort, kaum dass ich das Gehege erreicht hatte. Er wirkte erfreut. Ich schmunzelte müde, hob kraftlos grüßend den Arm, setzte mich auf die Bank, die mir einst zur zweiten Heimat geworden war, und gab mich meinen Gedanken hin.

Was wohl Herr von Flusensieb III. von alledem hielt?, fragte ich mich nach einer Weile und spürte plötzlich, dass ich seit der letzten Mahlzeit nichts gegessen hatte. „Ein Currywurststeak – das soll es sein!“, rief ich aus und mit neuem Enthusiasmus bestückt stand ich auf. Kashmir zwinkerte mir zu. ‚Nanu?‘, dachte ich. Und ‚Nanu?‘ dachte ich ein zweites Mal, als ich am Zaun des Elefantengeheges einen Zettel entdeckte. Der war neu.

„Elefantenbesichtiger gesucht! Supere Bezahlung!“ hieß es dort in liebevoll arrangierten Lettern.
„Elefantenbesichtiger!“, rief ich begeistert und fühlte mich plötzlich ganz groß.