Polaroid

Auch das dritte Bild war verwackelt.
„Vielleicht ist die Kamera kaputt.“, meinte ich und wusste, dass es nicht stimmte. Ich hatte einen ganzen Film damit verbracht, sie auszuprobieren, Schnappschüsse zu machen und mich davon zu überzeugen, dass die Kamera in bestem Zustand war. Trotzdem richtete ich sie auf Peter und betätigte den Auslöser.

Es dauerte einen winzigen, spannungsgeladenen Aufgenblick, dann begann die Kamera zu arbeiten. Wie hatte ich das vermisst, dieses Geräusch von Mechanik, dieser Beweis einer maschinell ausgeführten Tätigkeit, die ich bis heute nicht völlig begriffen hatte. Wie hatte ich es vermisst, dem weißen Polaroidfoto zuzuschauen, wie es langsam aus dem Inneren des Apparates ins Freie geboren wurde. Wie hatte ich es vermisst, ihm das Gezeugte zu entreißen und und wild wedelnd darauf zu warten, dass sich allmählich Formen und Farben auf dem belichteten Papier herausbildeten.

Ich lächelte, Peter schaute genervt. Nicht nur auf dem Foto, sondern auch in Wirklichkeit. Wie niedlich er aussah, wenn sich seine Stirn in Falten legte, wenn seine Mundwinkel nach unten sanken, wenn er die Backenzähne aufeinanderpresste.

„Scharf!“, rief ich und hielt Peter sein Abbild vor die Augen. Er nickte, betrachtete sich selbst, seine abweisende Miene, festgehalten mit einer Kamera, die vor 20 Jahren als modern gegolten hätte, ließ ein winziges Schmunzeln aufblitzen und versuchte dann, seinen Unmut wiederzufinden und sich in ihm zu vergraben. Es gelang ihm nicht ganz. Zu gut kannte ich ihn, um nicht zu bemerken, dass sein Portrait ihn aufgeheitert hatte. Und dass er sich Sorgen machte. Nicht wegen mir, sondern wegen des Fotos. Wegen der drei verwackelten Fotos. Wegen des Stuhls.

Die Fotos waren nicht verwackelt. Nicht völlig. Nur der Stuhl war unscharf darauf zu sehen, als hätte man eine stuhlförmige Milchglasscheibe vor ihm positioniert. Als wären Nebel aufgezogen, um sein wahres Antlitz zu verhüllen. Als wäre er eine Art Vampir, den zu fotografieren nicht möglich war. Doch es war ein Stuhl. Ein schlichter Holzstuhl. Ein Bertil, vor einer Stunde bei Ikea erworben und innerhalb weniger Minuten montiert. Ein Stuhl aus Kiefer, Schrauben und Leim. Ein Stuhl.

Ich fotografierte ihn ein viertes Mal. Der Apparat gebar, und ungeduldig wedelte ich das Polaroidfoto hin und her, auf und ab. Unscharf.

Die Konturen meiner Strickjacke, die ich auf dem Stuhl abgelegt hatte, waren klar und eindeutig. Das Kachelmuster des Küchenfußbodens war in Perfektion abgebildet. Selbst die Stehlampe hinter dem Stuhl war, obgleich außerhalb des Bildzentrums stehend, noch schärfer zu sehen als der hölzerne Stuhl, dessen Kanten schwammigen Wesen aus fernen Galaxien glichen, als bestünde die Welt eigentlich aus Aquarellfarbe und für den Stuhl wäre zu viel Wasser benutzt worden.

„Vielleicht kommt der Fokus mit der Farbe nicht klar.“, murmelte ich zweifelnd, rannte rasch ins Arbeitszimmer, kramte in einer der zahlreichen Schubladen, hielt triumphierend die Digitalkamera hoch und eilte in die Küche zurück. Peter war verschwunden, hatte vermutlich die Lust verloren. War auf dem Klo oder so. In schneller Folge schoss ich fünf, sechs Bilder vom Stuhl – und allesamt waren sie scharf.
Unglaublich.

„Peter, schau dir das an!“, rief ich, doch bekam keine Antwort. Ich ergriff die Polaroidkamera, richtete sie auf den Stuhl, drückte ab. Es surrte, brummte. Ich wartete, wedelte. Unscharf.

Allerdings hatte sich die Farbe des Stuhles geändert. Das helle Kiefernholz hatte auf dem Foto einen dunkleren Farbton angenommen, als wäre die Polaroidkamera nicht nur nicht imstande, seine Konturen ordnungsgemäß darzustellen, sondern hätte auch die Fähigkeit verloren, die Farben der Wirklichkeit entsprechend zu reproduzieren. Allerdings nicht alle Farben. Nur die des Stuhls.
Ein Schauer lief mir über den Rücken.

„Peter!“, rief ich, und hoffte, dass er die Panik in meiner Stimme nicht hörte. „Peter, sieh dir das an!“
Peter reagierte nicht. Gab keinen Laut von sich. War nicht zu sehen. Arschloch!, dachte ich, da fiel mein Blick auf die Mikrowelle. Auf die gläserne Scheibe der Mikrowelle, in der sich der Stuhl spiegelte. Oder eben nicht spiegelte.

Ich lief ins Bad. Kein Peter weit und breit zu sehen. Ich zuckte mit den Schultern, griff mir den Kosmetikspiegel und kehrte zum Stuhl zurück. Schaute ihn an. Erst so, dann durch den Spiegel.
Keuchte.
Selbst das Spiegelbild des Stuhles war verschwommen.
Das konnte doch nicht sein!

Ein Vampirstuhl!, durchzuckte es mich, und vor zwei Minuten hätte ich diesen Gedanken noch herrlich lächerlich gefunden. Doch jetzt nicht mehr.
Peter! Wo war Peter?
„Peter!“, rief ich, verzweifelt, den Tränen nah. Doch Peter schwieg. War wie vom Erdboden verschluckt. Oder von einem Stuhl.

Misstrauisch betrachtete ich das Möbelstück. Schüttelte den Kopf. Das war doch alles albern!
Vielleicht war der Stuhl ja ein der Sarg eines Vampires gewesen, hatte dessen negative Energien aufgesaugt und war nun selbst … Ich unterbrach meine Gedanken.
Peter. Ich musste Peter finden.
Stellte man Särge überhaupt aus Kiefer her? Verwendete man dazu nicht Eiche? Und waren die Bretter nicht eigentlich zu schmal, um später aus ihnen einen Stuhl…
„Schnauze!“, schrie ich mich an. „Schnauzeschnauzeschnauze!“

Ich drehte mich um, rannte durch die Wohnung, suchte nach Peter. Im Schlafzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, erneut im Bad, öffnete die Wohnungstür, rannte ins Erdgeschoss, auf die Straße, entdeckte niemanden, keinen Peter, keine Menschenseele, absolut niemanden. Vielleicht hatte ich ihn übersehen, dachte ich, stürmte zurück. Vielleicht in dem hohen Sessel im Arbeistzimmer. Vielleicht war er – aus welchem Grund auch immer – gerade im Kleiderschrank. Jedes Zimmer durchforstete ich, suchte Peter, öffnete Schränke und Schubladen, schaltete Lampen an und aus, riss das Fenster auf, rief seinen Namen, wieder und wieder, rannte in die Küche zurück, weil ich ein Geräusch zu hören glaubte – und hielt dann inne.

Keuchte. Außer Atem. Fassungslos. Verständnislos.
Was geschah hier? Wo war Peter? Was war das für ein bescheuerter Stuhl?

Mir drehte sich alles. Die Welt drohte in meinem Kopf zu kollabieren, und ich setzte mich.
Auf den Stuhl.