Begegnungen 42: Weinbergschnecke

Eine Weinbergschnecke war gerade dabei, den Weg zu überqueren. Ich blieb stehen und sah ihr zu, wie sie Millimeter für Millimeter zurücklegte.
„Ich kann in die Zukunft sehen.“, sagte sie auf einmal. Sprach sie mit mir? Ich war mir nicht sicher. Vorsichtshalber schwieg ich und bebachtete die Schnecke, wie sie ihren behausten Leib träge voranschob. Ein Gedanke kam mir in den Sinn:
„Wie schaffst du es nur, den Weg zu überqueren, ohne dass dich jemand tritt oder überfährt?“
Die Schnecke zögerte nicht lange mit ihrer Antwort.
„Ich weiß.“ seufzte sie und verabschiedete sich.
Ich stand noch eine Weile und blickte ihr nach, bis es mir einfiel zu sagen:
„Ui. Die Kommunikation mit dir ist wirklich anstrengend.“

Begegnungen 41: Kakerlake

Ich saß an der Haltestelle und wartete. Zum Warten gehört kein besonderes Talent, doch ich muss gestehen, dass ich es besonders gut konnte. An manchen Tagen setzte ich mich einfach irgendwohin und wartete darauf, dass mir einfiel, worauf ich wartete.
Heute jedoch wartete ich auf die Bahn, die mich zur Arbeit bringen würde. Mit mir warteten sieben andere Menschen – und eine Kakerlake.
„Huch, eine Kakerlake!“, rief ich überrascht, und sie sah mich neugierig an. Ihr Blick war skeptisch, und ich war ein wenig froh, nicht angewidert aufgekreischt zu haben.
„Ja, ich bin eine Kakerlake.“, sagte die Kakerlake und seufzte. „Und: Ja, ich weiß, dass Menschen uns Kakerlaken für widerwärtig halten.“
Die Kakerlake wühlte in dem winzigen Aktenkoffer, den sie mit sich trug.
„Aus diesem Grund habe ich mir diese Mütze besorgt.“, sagte sie und setzte eine plüschige Bärenmütze mit winzigen Öhrchen auf. „Damit ich niedlicher wirke.“
Skeptisch betrachtete ich die bemützte Kakerlake.
„Das klappt leider nicht.“, gestand ich dann. „Sie sehen immer noch eklig aus.“
„Mist.“, sagte die Kakerlake niedergeschlagen und wühlte erneut in ihrem Aktenkoffer.
„Und wie ist es hiermit?“, fragte sie und setzte sich eine lustige Schnurrbart-Langnasen-Brille auf.
„Immer noch widerlich.“, sagte ich leise.
Die Kakerlake nickte. „Dachte ich mir.“ Sie verstaute ihre Sachen im Koffer und blickte traurig zu Boden.
„Vielleicht.“, überlegte ich laut. „Vielleicht ist Ekligkeit so eine Art Superkraft von Kakerlaken.“
„Eine Superkraft?“
„Naja. Vielleicht hat jeder eine Art Superkraft. Und Ihre wäre eben Ekligkeit.“
„Und wozu soll das gut sein?“, fragte die Kakerlake misstrauisch.
„Das herauszufinden, ist möglicherweise der Sinn des Lebens.“, grinste ich.
Die Kakerlake schwieg. Dachte nach.
„Meine Superkraft ist übrigens das Warten.“, warf ich ein. „Ich kann total gut warten.“
„Und wozu soll das gut sein?“, fragte die Kakerlake erneut und sah ein bisschen weniger eklig aus als vorher.
„Das herauszufinden, ist möglicherweise der Sinn des Lebens.“, grinste ich.
Dann kam die Bahn.

Begegnungen 40: Gesundheit

„Ha-Tschi!“, nieste das Kaninchen und sprang in die Luft. Ich war gerade auf dem Weg zur Bahn, als ich das Hoppeltier entdeckte.
„Gesundheit.“, sagte ich und lächelte das Kaninchen an.
„Och.“, antwortete es leise und kratzte sich am Näschen.
„Wieso och?“
„Och.“, sagte es und schaute mit mit großen Kaninchenkulleraugen an. Dann schüttelte es mit dem Kopf und nieste erneut.
„Gesundheit.“, wünschte ich.
„Danke.“, meinte das Kaninchen traurig. „Doch es bringt nichts.“
„Wieso das denn?“
„Ich habe Heuschnupfen, bin also gegen Heu allergisch.“
„Ui.“, sagte ich, denn etwas Besseres fiel mir nicht ein. Kaninchen, die gegen Heu allergisch waren, haben es schwer. So viel war mir klar.
„Und nicht nur das: Ich bin gegen sämtliche Arten von Heu allergisch.“
Das Kaninchen nieste erneut, und diesmal hüpfte es fast vierzig Zentimeter hoch.
„Gesundheit.“, wünschte ich.
Das Kaninchen seufzte. „Ich bin sogar allergisch gegen das ‚heu‘ in ‚heute‘.“, erklärte es traurig. „Und weil irgendwie immer ‚heute‘ ist, niese ich die ganze Zeit.“
„Ui.“, sagte ich und dachte nach.
„Eigentlich ist heute gar nicht heute.“, meinte ich nach einer Weile, und das Kaninchen horchte auf. „Denn eigentlich leben wir im Morgen von gestern.“
„Im Morgen von gestern?“, wunderte sich das Kaninchen und nickte dann. „Stimmt.“, lächelte es und hoppelte davon.
„Oder im Gestern von morgen.“, rief ich hinterher, doch es war bereits verschwunden.

Begegnungen 39: Goldfisch

Die Enten schliefen noch, als ich am Parkteich vorbeiging. Dennoch hörte ich ein Geräusch, und als ich genauer hinsah, entdeckte ich einen Goldfisch, der herzzerreißend weint. Der See war fast voll, stellte ich fest, und wenn der kleine Goldfisch nicht bald aufhörte zu weinen, würde er bestimmt überschwappen.
„Warum weinst du denn?“, fragte ich den Goldfisch und hoffte, dass meine Worte bis zu ihm vordrangen. Immerhin befand er sich unter Wasser und weinte heftiger als ein Rebstock.
Der Goldfisch sah auf, blickte mich mit großen Goldfischaugen an und weinte noch ein bisschen mehr.
„Es tut so weh.“, blubberte er zwischen den Tränen hervor, und ich hätte das arme Kerlchen am liebsten gedrückt und mit Liebe überschüttet. Alles wird gut, wollte ich sagen, wollte ich ihm zu verstehen geben, doch klangen diese Worte nur schwach und nutzlos.
„Was tut dir denn weh?“, fragte ich das Fischchen und hoffte inständig, dass es nichts Schlimmes war.
„Meine Backenzähne!“, weinte der kleine Goldfisch, und der See schwappte bedrohlich ans Ufer. „Ich habe Backenzahnschmerzen!“
„Aber Goldfische haben gar keine Backenzähne!“, wunderte ich mich.
Der Goldfisch schwieg verdutzt.
„Ach, stimmt ja.“, sagte er dann, lächelte und schwamm davon.

Begegnungen 38: Im Park

Im Park begegnete ich einem Eichhörnchen. Als es mich bemerkte, lief es rasch zum nächsten Baum, vor dem es sich, zur Flucht bereit, positionierte.
„Keine Angst.“; beruhigte ich das Eichhörnchen. „Ich tu dir nichts.“
Das Eichhörnchen sah aus, als ob es mich verstand, und blieb, wo es war.
Ich kam näher und lächelte ermutigend.
„Ich tu dir nichts.“, wiederholte ich in sanftem Tonfall, denn tatsächlich wollte ich dem Eichhörnchen nichts tun.
„Du würdest es auch gar nicht schaffen, mir was zu tun.“, sagte das Eichhörnchen und grinste mich selbstbewusst an. „Ich bin nämlich das schnellste Eichhörnchen dieser Stadt.“
„Echt?“, fragte ich erstaunt.
„Jup.“, nickte das Eichhörnchen bestätigend.
Ich schwieg und überlegte, wie schnell Eichhörnchen eigentlich waren. Schneller als ein Windhund? Schneller als ein Strauß? Schneller als ein Gepard? Wohl kaum.
„Du fragst dich bestimmt, wie schnell ich bin.“, sagte das Eichhörnchen. „Ohne angeben zu wollen: ich bin schneller als ein Windhund, schneller als ein Strauß und sogar schneller als ein Gepard.“
„Echt?“
„Ich bin so schnell, dass ich dir deine Socken ausgezogen und diese vertilgt haben könnte, bevor du es bemerkst.“
„Echt?“, fragte ich noch einmal.
„Kannft du glauben.“, meinte das Eichhörnchen, ergänzte „Mach’f gut!“ und kletterte blitzschnell den Baum hinauf.
Ich fror plötzlich an den Füßen.