Begegnungen 37: Ratte

Als ich gerade zur Haltestelle eilte, entdeckte ich plötzlich einen dunkelgrauen Schatten, der direkt vor meinen Füßen über den Weg huschte. Instinktiv schaute ich hinterher und konnte gerade noch so einen nackte, dünnen Schwanz erkennen, der gerade im Gebüsch verschwinden wollte.
„Eine Ratte!“, rief ich erschrocken aus und ergänzte vorsichtshalber noch ein „Iiiieh!“.
Der Schwanz hielt inne, bewegte sich nicht, ließ dann das Gebüsch rascheln und den zu ihm gehörigen Rest erscheinen.
„Eine Ratte!“, rief ich noch einmal, nun jedoch weniger erschrocken, aber bevor ich ein weiteres „Iiiieh!“ ergänzen konnte, sah die Ratte zu mir auf auf und räusperte sich. Ich war verdutzt. Noch nie hatte ich eine Ratte sich räuspern hören.
„Ähem.“, sagte die Ratte, als wollte sie sich meine Aufmerksamkeit sichern. Doch die hatte sie bereits, zusammen mit meiner Überraschung und meinem Ekel.
„Ja, ich bin eine Ratte.“, erklärte das graue Wesen. „Genau genommen sogar ein Ratt.“
„?“, fragte ich, denn zu mehr war ich nicht fähig.
„Ein Ratt ist eine männliche Ratte.“, erklärte die Ratte, die ein Ratt zu sein behauptete. „Und männliche Ratten erkennt man nicht nur an ihrem längeren Schwanz, sondern auch daran, dass unser Fell mit geringerer Intensität glänzt als das der weiblichen Ratte.“ Der Ratt seufzte „Es ist ein Klischee, dass männliche Wesen weniger Zeit für Pflege aufwänden, doch es ist wahr.“
„Wie heißen denn weibliche Ratten?“, fragte ich neugierig und war erstaunt, die Sprache wiedergefunden zu haben.
„Eine weibliche Ratte ist eine Ratte.“, verdeutlichte der Ratt, und ich hatte das Gefühl, dass das erste „Ratte“ geringfügig anders geklungen hatte als das zweite. „Und zweifelsohne sind sie die hübscheren Exemplare unserer Gattung.“
„Ich finde Ratten eklig.“, platzte es aus mir heraus, und erschrocken hielt ich mir den Mund zu.
„Ich weiß.“, seufzte der Ratt. „Das geht vielen so.“ Er schaute auf seinen nackten, dünnen Schwanz und seufzte noch einmal. „Meine Theorie ist, dass der Schwanz die Hauptschuld trägt. Wäre er von eichhörnchiger Art und Weise, so stießen wir Ratten vielleicht auf mehr Zuspruch.“
Ich dachte darüber nach.
„Und dabei habt ihr gar keinen Grund, uns abzulehnen.“, fuhr der Ratt fort. „Ihr habt uns so viel zu verdanken.“
Der Ratt richtete sich auf und reckte sein Näschen stolz in die Höhe. Zum ersten Mal sah ich etwas, das gleichzeitig widerlich, Ehrfurcht gebietend und niedlich war. „Wir, die Ratten, sind die Begünder des Fortschritts. Denn wir, die Ratten, schufen die wohl wichtigste Erfindung aller Zeiten!“
Ich zögerte. „Das Rad?“
Der Ratt nickte. „Das Rad!“, rief er. „Genau darum heißt es doch so! Rad! Ratt! Das ist doch kein Zufall!“
„Echt?“
Der Ratt stellte sich wieder auf alle vier Pfoten und lächelte verlegen. Nun sah er nur noch niedlich aus.
„Entschuldige meinen kleinen Ausbruch.“, sagt er und huschte ins Gebüsch.

Begegnungen 36: Igel

Es regnete, und ich hatte meinen Schirm vergessen. Ich spürte, wie mein Kopf Tropfen für Topfen mehr Nässe aufsaugte, wie wenig Widerstand meine keineswegs wetterfesten Klamotten boten und wie mein Schuhwerk das Durchlaufen der allmählich entstehenden Pfützen mit feucht-kaltem Durchweichen belohnten. Dennoch hatte ich gute Laune, lauschte vergnügt dem Plätschern der Tropfen und wäre am liebsten noch stundenlang durch die Gegend gelaufen, ohne ans Ziel zu gelangen.

Dann sah ich den Igel. Er hatte sich zu einer kleinen, dicken Stachelkugel zusammengerollt und schaute misstrauisch nach oben. Seine Nase zuckte unaufhörlich, als wolle sie jeden Regentropfen einzeln untersuchen. Ich hatte noch nicht viele Erfahrungen mit Igeln gemacht, doch er wirkte unglücklich.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich deswegen.
„Mmmpf.“, brummte der Igel und blickte mich mürrisch an.
„Äh… Kann ich dir helfen?“
„Mhmmhphf.“, grummelte der Igel.
„Wie bitte?“
„Bitte geh mir aus der Sonne, hab ich gesagt.“, seufzte der Igel.

Ich blickte nach oben. Dicke, finstergraue Wolkenberge bedeckten den Himmel und schütteten zentnerweise Wasser auf die Welt. Von der Sonne gab es keinerlei Spur, und wenn ich mich richtig entsann, hatte ich sie auch mehr als zweieinhalb Tage nicht mehr gesehen,

„Ich soll dir aus der Sonne gehen?“, fragte ich daher den kleinen, dicken Igel.
“Mmh.“, nickte dieser, sah mich wartend an und schwieg.

Noch einmal blickte ich nach oben. Wasserfallgleich stürzten mir Tropfen ins Gesicht, und ich konnte selbst mit viel Fantasie keinerlei Lichtschimmer an der grauen Wolkenwand über uns erkennen. Ich sah den Igel an, zuckte mit den Schultern und ging drei Schritte nach rechts. Mehr nicht.

„Gut so?“. fragte ich zweifelnd, doch der Igel nickte. Ein Lächeln formte sich in seinem Gesicht, und sein Stachelkleid entspannte sich.
Und dann bemerkte auch ich es: Der Regen ließ nach, ließ immer weniger Tropfen vom Himmel fallen, bis schließlich auch das letzte Platsch verklungen war. Und über uns wuchs die Sonne hinter dem Grau empor, scheuchte es hinfort und schenkte der Welt wärmende Strahlen.

Der Igel grinste nun und schloss genießerisch die Augen. Dass ich mich verabschiedete, schien er gar nicht mehr zu hören.

Begegnungen 35: Ameise

Als ich die Haustür hinter mir ließ, begegnete ich keiner Ameise. Sie saß nicht auf dem kleinen Stein rechts des Weges, dessen Form mich immer an einen Stegosaurus erinnerte, und schaute mich auch nicht neugierig an. Trotzdem fragte ich sie:
„Hallo, kleine Ameise. Was machst du denn hier?“
Die kleine Ameise antwortete nicht:
„Ich sitze.“
„Das sehe ich.“, sagte ich. „Doch du siehst so wartend aus.“
Die kleine Ameise, die überhaupt nicht auf dem Stein saß, zögerte kurz und setzte dann ihre Nichtexistenz fort.
„Ich warte.“, sagte sie dann nicht, denn abwesende Ameisen reden nur selten.
„Und worauf?“, wollte ich wissen.
„Auf den Sonnenaufgang.“, meinte die kleine Ameise nicht.
Ich schaute die kleine Ameise an, wie sie auf dem Stein fehlte, schaute dann zum Himmel hinauf und dann wieder zurück zur Ameise, die noch immer nicht anwesend war.
„Aber die Sonne ist schon vor Stunden aufgegangen.“, sagte ich.
„Ich weiß.“ Die kleine, nichtexistente Ameise nickte bedächtig. „Deswegen bin ich ja auch nicht hier.“
„Ach so.“, sagte ich und ging weiter.

Begegnungen 34: Blaumeise

Als ich heute Morgen zur Bahn lief, hüpfte mir eine Blaumeise über den Weg. Sie blickte mich an, musterte mich von oben bis unten, hüpfte noch ein bisschen weiter und flatterte dann davon.
Zweieinhalb Minuten später sah ich sie erneut. Auf einem Holunderbuschzweig sitzend, nahezu vollständig von Blättern verborgen starrte sie mich an und schwieg. Als ich provokativ in ihre Richtung sah, flatterte sie davon.
Auf einem Parken-verboten-Schild enteckte ich sie zum dritten Mal. Diesmal betrachtete sie nur meine Füße, und wenn Vögel eine Nase besäßen, hätte die Blaumeise sie wohl gerümpft. Statt dessen versuchte sie, ihren Schnabel zu rümpfen, was auf befremdliche Weise noch abwertender aussah als normales Naserümpfen.
„Deine Schnürsenkel sind offen.“, sagte die Blaumeise in vorwurfsvollem Tonfall und flog davon.
Ich blickte an mir heraub und auf meine Füße.
„Ich habe gar keine Schnürsenkel!“, rief ich der Blaumeise hinterher, doch sie war längst hinter Wolken verschwunden.
Ich blickte erneut auf meine Füße, und dann erst begriff ich: Ich hatte keine Schuhe an! Nur mit Socken bekleidet war ich losgegangen, ohne zu bemerken, dass ich ein wichtiges Deatil meines Äußeren zu Hause vergessen hatte.
„Mist.“, murmelte ich und rannte, so schnell mal in Socken rennen kann, zurück nach Hause.
Meine Schuhe standen anziehbereit im Korridor und starrten mich vorwurfsvoll an.
„Die Meise hatte recht.“, stellte ich fest. „Die Schnürsenkel sind offen.“

Begegungen 33: Amsel

„Du bist zu spät.“, zwitscherte die Amsel.
„Was?“, fragte ich, war ich es doch nicht gewöhnt, morgens um halb sieben von Singvögeln angesprochen zu werden.
„Du bist zu spät.“, wiederholte die Amsel. „Wenn du vier Minuten früher gekommen wärst, hättest du es noch erwischt.“
„Wen erwischt?“, fragte ich, denn ich verstand wieder einmal überhaupt nichts.
„Das Eichhörnchen. Das blaue Eichhörnchen mit dem lila Fell, das aus rosa Pünktchen besteht.“, erklärte die Amsel.
„Was ist denn das für ein komisches Eichhörnchen?“, wunderte ich mich. „Das hätte ich ja gerne gesehen.“
„Aber du bist zu spät.“, erklärte die Amsel.
„Sieht so aus.“
„Viel zu spät.“
„Ja, ich hab’s verstanden.“, seufzte ich.
„Jetzt musst du mit mir vorlieb nehmen.“, sagte die Amsel und ergänzte. „Ich sehe aber nicht so spannend aus wie ein blaues Eichhörnchen mit lila Fell, das aus rosa Pünktchen besteht.“
„Aber du redest.“, widersprach ich. „Das gibt es auch nicht so oft.“
Die Amsel schwieg, blickte in die Ferne, als dächte sie nach, und schwieg weiter.
„Außerdem bist du eine außergewöhnlich hübsche Amsel.“, ergänzte ich.
Die Amsel sah mich an, tschilpte kurz, hüpfte drei Schritte nach vorn und blickte wieder in die Ferne.
So schwiegen wir: eine tatsächlich äußerst hübsche Amsel, ein abwesendes blaues Eichhörnchenmit lila Fell, das aus rosa Pünktchen bestand, und ich, der unausgeschlafen über eine Wiese lief und mit Tieren redete.
Nach einer Weile schüttelte ich den Kopf, wie um einen merkwürdigen Traum abzuschütteln,
„Amseln können gar nicht reden.“, murmelte ich. „Wahrscheinlich habe ich mir das alles nur eingebildet.“
„Ja, das hast du.“, sagte die Amsel und flog davon.

Begegnungen 32: Käfer

Auf einem Grashalm saß ein klitzekleiner Käfer. Ich hätte ihn fast übersehen, doch er lachte so laut, dass ich beinahe vom Fahrrad gefallen wäre. Ich hatte noch nie einen lachenden Käfer gesehen und hielt an.
Der Käfer war klein, blau und schwarze Streifen zogen sich wie willkürlich über seinen winzigen Rücken. Der Käfer lachte, dass der Grashalm wankte, und als ich ihm eine Weile zugehört hatte, begann auch ich zu lachen.
Nach ein paar Minuten hielt er inne, offensichtlich erschöpft, doch immer noch über das ganze Käfergesicht grinsend.
„Warum lachst du denn?“, fragte ich neugierig.
„Weil ich ein Käfer bin.“, sagte der Käfer und gluckste vergnügt.
„Das sehe ich.“, sagte ich verwirrt.
„Nun ja. es ist so.“, begann der Käfer zu erklären. „Ich bin ein Käfer und mag es, ein Käfer zu sein.“
„Ein hübscher Käfer!“, korrigierte ich.
„Danke.“, kicherte der Käfer und fuhr fort. „Leider passiert es häufiger, dass ich unruhig träume, und wenn ich dann erwache, bin ich ein Mensch und heiße Gregor.“
„Wie bitte?“
„Ja.“; nickte der Käfer. „Es ist erst drei oder vier Mal geschehen, doch jedesmal war ich derselbe Gregor, der aufstehen, Zähne putzen und arbeiten gehen musste, der nicht fliegen, nicht herumkrabbeln, ja noch nicht einmal ordentlich lachen konnte. Und dann, am nächsten Morgen, war ich jedesmal wieder der Käfer,der ich bin.“
„Ein hübscher Käfer!“, sagte ich.
„Danke.“, kicherte der Käfer, offensichtlich etwas verlegen.
„Und darum lachst du? Weil du ein Käfer bist?“
„Weil ich ein Käfer bin!“, rief der Käfer vergnügt und begann wieder zu lachen. Sein blauer Rücken funkelte fröhlich.
„Ein hübscher Käfer.“, murmelte ich, stieg auf mein Fahrrad und fuhr zur Arbeit.

Begegnungen 31: Löffel

Ich brauste gerade den Berg hinab, als ich mitten auf der Straße eine Kröte sitzen saß.
„Pass auf!“, rief sie mir zu, obwohl ich noch fast 100 Meter entfernt war. Ich bremste vorsichtig und hielt an. Die Kröte hielt einen kleinen Plastiklöffel in der Hand und hüpfte langsam in Richtung der anderen Straßenseite.
„Du musst aufpassen.“, erklärte sie mir. „Er darf nicht zerstört werden.“
„Er?“, fragte ich neugierig.
„Er! Der Löffel der Weisheit!“
„Der Löffel der Weisheit?“, fragte ich verwundert.
„Ja!“, rief die Kröte begeistert und hielt das Plastiklöffelchen in die Höhe. „Dies ist der Löffel der Weisheit! Er ist unendlich kostbar, wurde er doch aus konzentrierter Weisheit geschmiedet.“
Die Kröte sah sich um und flüsterte dramatisch: „Wer ihn isst, dem werden unglaubliche Erkenntnisse zuteil!“
„Ui.“, sagte ich und ergänzte. „Aber ist der Löffel nicht aus Plastik?“
„Aus Plastik?“, wunderte sich die Kröte und betrachte den Löffel genauer. „Bist du dir sicher?“
„Ja.“, sagte ich. Ich war besonders gut darin, Plastiklöffel zu erkennen und hatte bereits mehrere Preise für diese Fähigkeit erhalten. „Hundertprozentig sicher.“
„Mmh.“, machte die Kröte nachdenklich. „Ich weiß nicht…“
Sie schwieg, doch dann hellte sich ihre Krötenmiene auf. Sie öffnete den Mund und mit einem großen Happs war der Löffel der Weisheit in ihrem Schlund verschwunden. Die Kröte schluckte kurz, hielt inne und lächelte traurig.
„Du hast Recht.“, sagte sie. „Er ist aus Plastik.“
„Nein.“, widersprach ich. „DU hast Recht. Es ist der Löffel der Weisheit.“
Die Kröte blickte mich fragend an.
„Schließlich hat er dir soeben Erkenntnis verliehen.“, meinte ich und stieg auf mein Fahrrad.

Begegnungen 30: Ratte

An der Fußgängerampel saß eine Ratte und knabberte an einem Stück Zeitung.
„Es ist grün.“, sagte ich freundlich, nur für den Fall, dass die Ratte darauf wartete, die Straße überqueren zu können.
„Mmmh.“, machte die Ratte, und da erst sah ich, dass sie gar nicht an der Zeitung knabberte, sondern sie las!
„Du liest ja!“, rief ich begeistert.
„Das ist richtig.“, sagte die Ratte und blätterte um. „Ich bin nunmal eine Leseratte.“
Ich kicherte. „Eine Leseratte. Hihi.“
Die Ratte reagierte nicht. Anscheinend hatte sie sich gerade in einen Artikel über steigende Benzinpreise vertieft und mich völlig vergessen.
„Liest du denn auch anderes Zeug?“ Zeitschriften und so?“, fragte ich trotzdem.
Die Ratte sah auf. „Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Comics, alles. Ich bin eine Leseratte.“
„Toll!“, freute ich mich. „Darf ich dich mal streicheln? ich habe noch nie eine echte Leseratte gestreichelt.“
„Mmph.“, machte die Ratte, und ich wertete das als Zustimmung.
Ich hockte mich hin und strich der Ratte sanft über das weiche, gepflegte Fell. Sie lies es sich gefallen, schien es sogar ein wenig zu genießen. Sie blickte auf meine Finger und deklamierte:
„Du wirst dich alsbald auf eine große Reise begeben, an deren Ende du eine mittelgroße Enttäuschung erleben wirst. Jedoch wirst du auch zwei Wesen begegnen, die dein Leben in die richtige Richtung lenken werden.“
„Was?“, fragte ich verwirrt.
„Du wirst dich alsbald auf eine große Reise begeben, an deren Ende du eine mittelgroße Enttäuschung erleben wirst. Jedoch wirst du auch zwei Wesen begegnen, die dein Leben in die richtige Richtung lenken werden.“, wiederholte die Ratte.
Ratlosigkeit breitete sich auf meinem Antlitz aus.
“Ich kann auch aus der Hand lesen.“, erklärte die Ratte. „Ich bin eine Leseratte.“
„Ach so.“, sagte ich und rannte davon.

Begegnungen 29: Weinbergschnecke

„Ich komme zu spät! Ich komme zu spät!“, rief die Weinbergschnecke, während sie sich durch das hohe Gras am Wegrand kämpfte.
„Kann ich dir helfen?“, fragte ich und bückte mich.
„Ich komme zu spät! Ich komme zu spät!“, wiederholte die Weinbergschnecke und kroch weiter, offensichtlich so schnell sie konnte.
Ich sah ihr zu, wie sie sich Millimeter um Millimeter vorankämpfte, schüttelte dann den Kopf und fragte: „Zu spät? Wofür?“
Die Schnecke hielt inne. Jedenfalls vermute ich, dass sie innehielt. Sicher war ich mir nicht, denn der Unterschied zur Bewegung war nicht sehr groß.
Sie sah zu mir hinauf und schnaufte: „Zur Arbeit, natürlich!“
„Oh.“, antwortete ich. „Das ist schlecht.“
Die Schnecke nickte und begann wieder, sich zu bewegen. Zumindest sah es so aus.
„Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?“, fragte ich die Schnecke.
Die Schnecke hielt erneut inne und ließ ihre Fühler kreisen.
‚Sie denkt nach.‘, vermutete ich und schwieg.
Nach einer Weile nickte die Weinbergschnecke dezent und sagte: „Ja, das wäre nett.“
„Und wo willst du hin?“, fragte ich.
„Dorthin.“, sagte die Schnecke und zeigte mit ihren Fühlern zur Birke auf der anderen Wegseite.
„Und dann dorthin.“, ergänzt die Schnecke und zeigte erneut.
„Aber das ist doch die Richtung, aus der du kamst“, rief ich. „Was willst du denn da?“
Die Weinbergschnecke lächelte.
„Sobald ich dort bin, habe ich mein Tagespensum erledigt. Und dann.“, Das Lächeln der Schnecke wurde zu einem Grinsen. „Dann habe ich Feierabend.“
Ich nickte, hob die grinsende Weinbergschnecke auf, setzte sie auf meine Schulter, und wir gingen los.

Begegnungen 28: Torte

Als sich auf meinem Weg durch den Park die Schleife meines linken Schuhs löste und ich mich, um dies zu korrigieren, bückte, entdeckte ich im Gebüsch einen farbigen Haufen Matsch, der entfernt an eine Torte erinnerte. Ich schob ein paar Zweige beseite und sagte vorsichtig „Hallo?“
„Hallo.“, nuschelte die Torte, und nun, da ich sie reden hörte, wusste ich, dass es sich um eine handelte.
„Du bist eine Torte, oder?“, fragte ich trotzdem. Ich woltle mir schließlich ganz sicher sein.
„Jup.“, murmelte die Torte. „Eine Geburtstagstorte, um genau zu sein.“
„Ui.“, antwortete ich, und tatsächlich konnte ich ein paar Kerzen erkennen, die jedoch fast vollständig in dem versunken waren, was einst der Teig gewesen sein musste.
„Ich bin kein schöner Anblick mehr.“, sagte die Torte leise. „Dessen bin ich mir bewusst.“
Ich wusste nichts zu sagen, wollte ich doch nicht lügen.
„Aber man hat mich vergessen und hier zurückgelassen.“, seufzte die Torte. „Und seitdem liege ich hier und bin Wind, Wetter und allen möglichen Tierchen ausgesetzt.“
„Ui.“, sagte ich erneut. „Wer hat dich denn vergessen?“
„Ach.“, seufzte die Torte. „Das war eine Party hier im Park. Lauter junge Leute. Und lauter Kuchen und Torten und Kekse und Muffins. Der winzige Campingtisch war vollgestopft mit Leckereien. Irgendein Tollpatsch stieß mich runter; ich landete im Gebüsch, und niemand vermisste mich.“ Die Torte seufzte noch einmal, und ich widerstand der Versuchung, sie tröstend zu streicheln.
„Und seit diesem Tag liege ich hier.“
„Wie lange ist das denn her?“, fragte ich die Torte.
Die Torte dachte lange nach und rechnete.
„Exakt ein Jahr, glaube ich.“, sagte sie nach einer Weile. „Exakt ein Jahr.“
„Dann hast du ja heute Geburtstag!“, rief ich erfreut. „Und eine Geburtstagstorte gibt es auch schon!“
„Stimmt!“, jubelte die Torte glücklich und begann, sich selbst aufzuessen.