Mauer

Zwei Taschen drängten sich mühsam durch den engen Gang des Großraumabteils, gefolgt von einer großen, gewichtigen Frau, die zwei weitere Taschen an den Sitzen vorbei bugsierte und dabei ihren Atem intensivierte. Dann setzte sich, drapierte ihre umfangreiches Gepäck auf den Sitz neben ihr und auf dem Boden, baute eine Taschenmauer zum Rest des Zuges, ein Minitaturabteil, zu dem nur der Zugbegleiter Zutritt haben würde.

Das Abteil war leer. Die Verspätung des Zuges hatte potentielle Mitfahrer verscheucht und eine Handvoll Leute zurückgelassen, die sich mit möglichst großen Abständen zueinander platziert hatten, keine Mühe darauf verschwendend, Koffer und Taschen an den dafür vorgesehenen Orten zu verstauen.

Die Frau war südlicheren Ursprungs, so viel verrieten ihre bronzene Haut und ihr dunkles Haar. Doch wo sich dieses Süden befand, konnte ich nur raten. Ihre Kleidung gab nur wenig kund, zeugte jedoch vom Geschmack einer Frau,der es gelungen war, ihren durchaus massigen Leib mittels vorteilhafter Gewandung zum Blickfang werden zu lassen. Einzig ihr Schuhwerk, leichte Joggingtreter, deren strahlendes Weiß entweder von intensiver Pflege oder geringer Nutzung zeugten, stachen misstönend aus dem Gesamtkonzept ihres Äußeren hervor.
Dann begann sie zu schluchzen.

Hinter dem Wall unterschiedlich farbiger Taschen saß die große Frau und weinte. Der Zug fuhr seines Weges, und seine derzeitigen Bewohner behausten ihre eigenen Welten. Niemand kümmerte sich um die tränenverhüllten Geräusche, die ungedämpft durch das Abteil wallten. Kein Kopf drehte sich, niemand stand auf und fragte.

Die Frau kramte in ihren Taschen, zauberte einen Geldschein hervor. Dann ein Taschentuch, mit dem sie ihr Gesicht der Feuchte beraubte. Dann noch zwei zusammengefaltete Scheine – und schließlich eine kleine Geldbörse, in die sie ihr finanzielles Gut stopfte.

Hinter ihrer Mauer weinte sie noch ein paar Minuten lang, führte immer wieder das Taschentuch zu den Augen und verstummte schließlich. Der Zug fuhr unbeeindruckt weiter, trug eine Handvoll Schweigender ihren fernen Zielen entgegen.