Das Zimmer – Teil 2

Es war eine Doku, die ich als erstes bemerkte, als ich das Zimmer betrat. Eine Naturdoku, um genau zu sein. Wüsten und Schlangen und Sonne.
Ich hätte auch den Geruch bemerken können, die nach Fensteröffnung schreienden Überbleibsel ehemaliger Bewohner, die einstigem Tabakkonsum gedachten. Doch die Doku dominierte das Zimmer.
Ich musste zugeben: Viel zu dominieren gab es nicht. Die von der Vermieterin angegebenen 10 Quadrameter hielt ich für eine optimistische Schätzung.
Dennoch: Zwischen Fenster, Dachschräge und Tür passten ein Bett, ein Stuhl, ein Tischchen, ein Sessel, ein Nachttisch, eine Kommode und ein Kleiderschrank – und es gab immer noch genug Freiraum, um meinen Koffer auf dem taubengrauen Teppichboden zu öffnen, um seinen Inhalt an den Kleiderschrank zu übergeben.
200 Euro pro Monat, hatte die Vermieterin gesagt, inklusive 5 Euro Internetkosten. Die 5 Euro waren gut investiert, denn der Handyempfang schwankte fröhlich zwischen null und zwei Balken und ließ jedes Gespräch zur Tortur werden. Whatsapp-Telefonie sollte mein Freund werden. Leise WhatsApp-Telefonie, um genau zu sein, denn Türen und Wände stellten keine Hindernisse für Akustik dar.
Die Doku war auf Englisch, bemerkte ich erst jetzt. Britisches Englisch, um genau zu sein. Und sie kam aus dem Nachbarzimmer, drang nahezu ungehindert durch die Wand hindurch zu mir.
„Das erspart mir den Fernseher.“, scherzte ich und warf einen Blick auf das klobige Röhrengerät unter der Dachschräge, das ein ähnliches Baujahr zu haben schien wie ich selbst.
Ich vernahm Türgeräusche, blickte zu meiner eigenen, doch sah nichts außer dem dunkelbraunen Brett, dessen Schloss mit primitivsten Buntbartschlüssel nur eine fadenscheinige Idee von Sicherheit zu erwecken vermochte. Meine Tür hatte sich nicht bewegt; das Geräusch kam von außen.
Dann: Stille. Die Doku schwieg, machte anderen Geräuschen Platz: ein Lichtschalterrelais klackte, Schritte füllten den Korridor hinter meiner Tür, eine weitere Tür klapperte, ein Schlüssel drehte sich in einem Schloss. „Bad!“, vermutete ich.
Eines der beiden Bäder befand sich direkt neben meinen Zimmer.
Jemand spülte die Toilette. Erneutes Schlüsseldrehen, erneute Schrittgeräusche auf dem Flur, erneutes Türklappern.
Dann wieder die Doku. Es hatte seit Montaten nicht geregnet, schrie mich der britische Erzähler durch die Wand an.
Ich verstöpselte meine Ohren mit Kopfhörern und warf mich aufs Bett.
„Willkommen zuhause.“, dachte ich.

Das Zimmer – Teil 1

Natürlich war mein Budget mit 200 Euro knapp bemessen, und die Zahl der Wohnungen, die sich mir in dieser Preislage darboten, war überschaubar. Null, um genau zu sein.
Doch ich wollte keine Wohnung, brauchte nur ein Zimmer. Das klang nach wenig, doch wenn ich mir einen Moment Zeit nahm, um darüber nachzudenken, was zur Ausstattung dieses Zimmer gehören sollte, um meine Grundbedürfnisse zu befriedigen, dann merkte ich schnell, wie das kleine Wort „nur“ vor „ein Zimmer“ rasch dahinschmolz.
Ich brauchte ein Bett. Das war das erste, was mir, was jedem einfiel. Der wichtigste Grund, eine Unterkunft zu suchen. Dann, auf Platz 2 der Prioritätenliste, drängte sich bereits „Internet“ in mein Denken. Ohne Internet würde ich die kommenden Wochen kaum überstehen können. Dann erst dachte ich an „Bad“, an die Notwendigkeit von heißem Wasser, an eine Toilette. Und an einen Schrank. Oder ein Regal. Oder ähnliches. Notfalls konnte ich aus dem Koffer leben.
Ein Schreibtisch wäre wundervoll, fing ich zu träumen an. Zumindest irgendein Tisch, an dem man essen, arbeiten oder einfach nur sitzen konnte. Also auch einen Stuhl. Und natürlich Steckdosen, Licht, ein Fenster. Uff.
An eine Küche hatte ich noch nicht gedacht, doch als mir „essen“ durch die Gedanken krabbelte, stellte ich die große Frage: Was würde ich essen? Eine Küchenzeile wäre perfekt. Also ein bisschen Herd, ein bisschen Waschbecken, ein bisschen Telleriges, Besteckiges. Und ein Kühlschrank. Und.
Ich hielt inne. Starrte auf die vor mir liegende Liste potentieller Mietbarkeiten. Auf die Zimmerpreise. Auf die mangelhaften Angaben zur Ausstattung. Und dachte an mein Budget, besser: an die 200 Euro, die mir mein Arbeitgeber monatlich zur Verfügung stellte, damit ich hier in der Kleinstadt nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen konnte. Zumindest vorübergehend.
Das Budget würde nicht reichen, stellte ich fest. Ich würde zuzahlen müssen, stellte ich fest. Ich würde nicht nur die allwochenendliche Heim- und Rückreise zahlen müssen, sondern auch noch den Luxus, nicht nur hausen, sondern tatsächlich wohnen zu wollen.
Ich starrte auf die Liste, rief an, sprach auf Anrufbeantworter, bekam Absagen. Dreißig Minuten später hatte ich ein Zimmer. Mit Bett, Internet und allem.
Für exakt 200 Euro.