Das Zimmer – Teil 3

Zettel. Überall Zettel.

Der Bezug des Zimmers löste in mir eine Kette von Erinnerungen aus: Schließlich hatte ich diverse Jahre lang in WGs gelebt, wusste, wie man sich mit vier weiteren eine Toilette teilte und sich dennoch Privatsphäre bewahrte. Nun jedoch musste ich feststellen, dass es einen immensen Unterschied zwischen einer Wohngemeinschaft und der euphemistisch „Pension“ genannten Behausung, die mir derzeit zweite Heimat war, gab:
Zettel.

Zettel waren zweidimensionale Stellvertreter für Regeln. Und Regeln gab es anscheinend überall und für alles. Hätten diese Zettel sich in einer WG befunden, hätte ihre Lebenszeit keine zwei Tage betragen. Nur allzu rasch hätten aufsässige Gemüter die Wände von mahnenden Zwängen befreit und – im Idealfall – den Papiermüllcontainerinhalt um mehrere Handvoll fröhlicher Schnipsel erweitert.
Doch hier in der Pension hingen die Zettel offensichtlich seit Jahren und blichen langsam vor sich hin.

Manche der Zettel, manche der Regeln, waren in ihrer Lebenszeit korrigiert worden, Zeilen waren mit Korrekturflüssigkeit übertüncht, andere nachträglich, handschriftlich, ergänzt.

Überhaupt: Handschrift. Während einige der Zettel durchaus den Innereien eines Farbdruckers entsprangen und dann mittels Schere zu klebbarem Format zurechtgestutzt worden waren, überwogen doch die handbeschriebenen. Mit Buchstaben, die an Sütterlin erinnernd das Alter der Regelsetzenden verrieten und sich der letzten Neuerungen deutscher Rechtschreibregularien verweigerten, gemahnte nahezu jede Wand der Pensionsetage der Dinge, die befolgt werden mussten:

Essensreste durften keineswegs im gelben Sack landen, die Dusche war nach Benutzung zu reinigen, der Duschvorhang so zu justieren, dass Wassertropfen keine Chance hatten, den Kachelboden zu benetzen. Flaschen gehörten in den Eimer, Abwaschreste nicht ins Waschbecken.

Manche der Regeln entsprangen reinem Menschenverstand. Doch allein ihre Niederschrift erweckte in mir Widerspenst: Ich wollte faulige Pflaumen in den Gelben Sack werfen, wollte die Haustür bei Anbruch der Dunkelheit aufreißen, wollte einen Kärcher mieten und beide Bäder mit Wut und Wasser fluten.

Mein Zimmer war ein Heiligtum. Hierhin hatte sich kein Zettel, keine Regel, verirrt. Hier war ich sicher.

Als ich jedoch eines Tages nach langem Tagewerk heimkehrte, mit lächerlich grobem Schlüssel meine lächerlich dünne Zimmertür öffnete und die wenigen Quadratmeter betrat, die mir vorübergehend Unterschlupf boten, bot sich mir ein Anblick des Grauens.
Auf grauem, grauenvollem Teppichboden lag ein Stück linierten Papiers, fünf Zeilen handgeschriebenen Mahnens.
Eine Anrede gab es nicht, keinen Abschiedsgruß, nur eine Unterschrift der Vermieterin.
Und einen Hinweis, der weniger Hinweis als viel mehr Drohung war:

Bei Toilettentätigkeiten, die größeren Papierbedarf hatten, wurde mir geraten, das Papier im beistehenden Mülleimer zu entsorgen, nicht in der Toilette selbst. Diese neigte anscheinend zu Verstopfung.

Zahlreiche Fragen sprangen in meinen Kopf.
Wieviel war zuviel?
Hatte jeder Bewohner einen solchen Zettel erhalten?
Oder nur ich?
Hatte man mich als Schuldigen ausgemacht?
Wenn ja, wie?
Wurden meine Badezimmeraktivitäten überwacht?
War die Toilette tatsächlich verstopft gewesen?
Oder war das eine Warnung?
Hatte ich in den letzten Tagen überhaupt papierintensive Tätigkeiten ausgeübt…?

Antworten brauchte ich nicht.

Ich schloss die Tür mit mehr Inbrunst als nötig, griff mir einen Apfel und vertilgte wütend sein Fruchtfleisch.
Nur kerngefüllte Innereien blieben übrig.
Ich warf einen letzten Blick auf den Zettel, wickelte den Apfelrest ein und warf ihn in den Gelben Sack.

Unterwegs II

Rot, alles Rot. Das Navigationsgerät sprach mit deutlichen Bildern. Stau nahte, massiver Stau, und es gab nur wenige Optionen. Bleiben, stehen und schimpfen – oder abfahren, auf’s Land, ins Unbekannte.
Abenteuer!, dachte ich grinsend und fuhr ab.

Ich war nicht der einzige Abenteurer, und kraftlose Tentakel des Autobahnstaus erfassten auch die Landstraßen. Mein Auto schlich dahin, wackelte durch Kopfsteinpflasterdörfer, Baustellenampeln und enge Kreisverkehre, kämpfte sich frei und warf mich schließlich, endlich!, in höhere Gänge, aufs Land, zwischen Felder und Wälder. Das Gefährt raste dahin, trieb nach vorn. Doch kaum waren die Drehzahlen ausreichend angewachsen, warf sich Schönheit vor meine Augen, und in mir drängte es nach wieder Stillstand, nach Innehalten und Einatmen:

Nebelschwaden wälzten sich wohlig auf den Äckern, schlängelten sich zwischen Stämmen hindurch, verspeisten genießerisch Büsche und Getreide, Gepflanz und Getier gleichermaßen. Hinter mir erhob sich gülden die Sonne aus tiefem Schlaf, lenkte ihr Licht auf die samtgrauen Bodenwolken, entlockte ihnen schwammige Silhouetten von Bäumen und Gebäuden. Links und rechts der Straße wogte weich das Nebelmeer, gebar mich aus seiner Mitte, eine Insel dröhnender Eile.

Halt inne!, rief der Moment, verweile!. Doch ich schüttelte den Kopf, preschte voran, hinein in die Schwaden, durch unbekanntes Land, den Sonnenaufgang im Rücken, der wärmend die Fahrtrichtung bestätigte.

Unterwegs I

Prachtvoll und schwer hing die Silbersichel des Mondes in meinem Außenspiegel, klebte imposant im erwachenden Himmel und mahnte mich zum Innehalten. Ich schüttelte den Kopf, keine Zeit!, und gab Gas. Die Straße dröhnte unter meinem Fahrzeug dahin, bog sich sanft dem Mond entgegen. Mein Blick glitt nach oben, hielt in Erstaunen inne. Wie schön er war, der Mond, wie wahrlich wunderschön. Und über ihm, als wäre er seiner Umarmung entflohen, glomm ein weiterer Lichtfleck, zu groß für einen Stern, zu starr für ein Flugzeug.

Ich schaute, nach oben, zum Mond, zum Licht, nach unten, zur Straße, nach links, rechts, in alle Spiegel, wieder nach oben. Bist du die Venus?, fragte ich das Leuchten, doch mein Blick sprang wieder nach unten, zur Straße, die sich wieder wand, mich lenkte, ablenkte, zu den Leitlinien, die zu überqueren ich gerade im Begriff war.

Ein letzter Blick nach oben, auf das Doppelgestirn. Ein letztes Kosten astraler Pracht.

Danke, flüsterte ich im Geiste und donnerte davon.