Straßenrand

Dieser Text hat ebenfalls bereits die freundlichen Augen gespannt lauschender Zuhörer berührt, war Teil eines Auftritts der Lesebühne EEASY READER in Berlin-Steglitz. Jeden ersten Sonntag im Monat lesen wir dort, das nächste Mal also am 05.05.24 um 16 Uhr. Du bist herzlich willkommen.
Nun aber soll diese Geschichte erst einmal deine Augen streicheln. Viel Vergnügen.

Der alte Mann stand an der Straße und wartete. Er trug einen karierten Schal, einen dicken, ausgebeulten Wintermantel und eine schwarze Cordhose, die ihn zu verschlingen schien. 

Er wartete. 

Manchmal glitt sein Blick auf die Straße, in die Ferne, aus der sich ein Auto schälte und unbeeindruckt an ihm vorbeifuhr. Der alte Mann wartete. 

Hin und wieder schob er seinen Mantelärmel ein Stück nach oben, entblößte eine schwere Armbanduhr und schenkte auch ihr einen Blick. Es war 12.15 Uhr, und der alte Mann wartete. 

Ich hielt es nicht länger aus, ging zu ihm hin. 

“Entschuldigung, warum stehen Sie hier?”, fragte ich. Einfach so.

Der alte Mann musterte mich neugierig. Lächelte. 

“Das hier ist eine Bushaltestelle.”, antwortete er, und sein Tonfall klang, als würde das alles erklären. 

Doch es erklärte nichts. 

Es erklärte nicht, warum er hier stand, an einer unbelebten Straße am Stadtrand, in einem unbelebten Viertel einer unbeliebten Stadt. Hier, wo bestimmt kein Bus vorbeifuhr, geschweige denn: anhielt. Hier, wo auf keinen Fall eine Bushaltestelle war.

Es erklärte nichts, doch ich hatte verstanden, fühlte mich willkommen. Stellte mich zu ihm an die Bushaltestelle.

Der alte Mann lächelte mich an, schob den Ärmel nach oben, schaute erneut auf die Uhr. 

“Es ist Zeit.”, sagte er, kramte in seiner ausgebeulten Manteltasche und holte ein Spielzeugauto hervor. Einen Spielzeugbus, um genau zu sein. 

Der alte Mann hielt ihn fest in seinen Händen.

“Das hier ist eine Bus-Haltestelle.”, sagte er.

Ich nickte verständnisvoll und begann zu warten