Ich war nie gut darin, mich zu entscheiden. Obwohl, wahrscheinlich doch. Mmh, weiß nicht, vielleicht eher nicht. Egal.
Was ich gut konnte, war: Listen zu kreieren. Lange Listen voller Abwägungen. Ich war also … listig.
Und modebewusst. Oder modeinteressiert. Oder zumindestens daran interessiert, gut auszusehen. Sinnvoll auszusehen. Auszusehen, als wüsste ich, was ich tat.
Was nur selten der Fall war.
Ich mochte es, Farben zu koordinieren, aufeinander abzustimmen, mochte es, mir eine Minute mehr zu nehmen, um zu prüfen, ob die beiden Grüns miteinander harmonierten, ob sich nicht heimlich gelbe Tupfer mit blauen Nuancen stritten, sich lautlos anschrien und am liebsten grummelnd aus dem Raum gestampft wären.
Ich mochte es auszusehen, als hätte ich mein Leben im Griff.
Hatte ich nicht.
Obwohl, hatte ich vielleicht doch.
Wer wusste das schon.
Was ich im Griff hatte: mein Äußeres.
Was ich nicht im Griff hatte, war der Rest.
Zum Beispiel, wenn ich mich entscheiden musste. Beziehungsweise, wenn ich mich entscheiden musste, weil die Entscheidung nicht offensichtlich war, jenseits von trivial:
Nazis wählen oder jemanden anders? Fickt euch, Nazis, völlig klar.
70 Cent bezahlen oder in die Autobahnraststätten-Büsche kacken? „Liebe Büsche, ihr müsst auf meinen hochwertigen Naturdünger verzichten!“, rufe ich, einen Sanifair-Gutschein schwenkend.
Ob ich heute Abend weggehen oder lieber mit Buch und Internet zu Hause bleiben wollte, war hingegen NICHT trivial. Es war ein Anderthalb-Seiten-Problem, schätzte ich. Anderthalb eng beschriebene A4-Seiten vollgestopft mit Pro- und Contra-Abwägungen.
In Tabellenform:
Freunde vs Ruhe.
Ausschweifung vs Sparen.
Genuss vs Genuss.
Plus 11 eng beschriebene Zeilen, wie sehr es mich nervte, diese Entscheidung treffen zu müssen.
Nudeln oder Pizza? Die Pro- und Contra-Liste umfasste eine Seite. Beziehungsweise eine Seite, sieben Zeilen.
Mit dem Rad oder dem Bus zur Arbeit? Fast drei Seiten.
Netflix oder Amazon Prime? Zweieinhalb.
Listen über Listen, Pro und Contra, gegeneinander abgewägt.
Die Listen waren natürlich dumm.
Wäre die Entscheidung leicht, hätte ich sie bereits getroffen und bräuchte keine Liste. Doch die Entscheidung war uneindeutig, und der Vergleich von Für und Wider zeigte auf beiden Seiten stets eine erschreckend ähnliche Anzahl an Argumenten auf.
Vierdreiviertel Seiten lang war die Liste über die Frage, ob ich stilles oder sprudliges Wasser bevorzugte – und die stille Fraktion kannte nur ein einziges Argument mehr als die blubberige.
Nicht sehr überzeugend, dachte ich, und fing an, Argumente zu gewichten. Relevante Argumente mehrfach zu bewerten und alles neu zu berechnen.
Das Ergebnis war identisch. Eine Seite überwog, aber nicht überzeugend, und am Ende stand ich seufzend, mit zahlreichen Zetteln bewaffnet, am Anfang.
Enttäuschend.
Die innere Diskussion um Flip Flops vs Sandalen führte ich schon seit siebzehn Tagen. In meinem Kopf, auf Papier, sogar digitale Ausschweifungen und Excel-Tabellen hatte ich bereits ins Leben gerufen.
Meine bisherige Lösung war: keine. Ich blieb Zuhause, barfuß, kreiste unentschlossen um meine Flip Flops, um die Sandalen, herum.
Der Name Sandale nervte mich. Denn ich trug sie auch außerhalb von Sand.
Der Name Flip Flop nervte ebenfalls, denn bisher konnte mir niemand erklären, warum ein Fuß „Flip“, der andere „Flop“ geräuschte.
Mode war wichtig, Style war wichtig, Eleganz sowieso. Wenn ich das Haus verließ, dann nur mit dem Gefühl, mich angemessen, vorteilhaft, attraktiv, ja selbst-bestärkend, gekleidet zu haben.
Flip Flops oder Sandalen – keine einfache Entscheidung.
Ich könnte jetzt die Liste verlesen, drei Seiten, vier Zeilen, Pros und Cons vor euren Ohren abwägen, euch meinen Gedankengängen folgen lassen, ja: euch einbeziehen, in euch dieselbe Frage, dieselbe Unentschlossenheit erwecken, vielleicht sogar den Drang, selber eine solche Liste zu erstellen, analog, digital, irgendwie, eure eigene Perspektive auf die Frage “Flip Flops vs Sandalen” zu kleben, und dieses, mein Problem, zu eurem zu machen.
Doch ich lasse es, lasse euch an der Pforte meines Geistes stehen, verschone euch.
Denn eines ist klar: es gibt keinen Weg zurück.
Einmal unentschieden, immer unentschieden.
Oder fast immer.
Wer wusste das schon.
Und so stand ich im Flur, vor zwei Paar Schuhen, vollkommen bekleidet, ausgehfertig seit Tagen, doch unentschlossen, unsicher, musternd:
Zwei Paar Schuhe mit unstreitbar ähnlich hohem Level an Ästhetik und optischem Wohlgefallen, Flip Flops und Sandalen, zwei Paare, die mir ans Herz – und an die Füße – gewachsen waren, zwei Paare, die ich liebte wie eigene Kinder, ja mehr noch: wie eigene Flip Flops, zwei Paare, die mir so viel Freude brachten, mein Herz wärmten, meine Seele küssten – und doch zugleich brachen, mich zerfetzten, mich dem Irrsinn anheim fielen ließen.
Wer konnte angesichts dieser Pracht eine Entscheidung treffen, wer wäre angesichts einer Liste, zwei Seiten, drei Zeilen, aus Pros und Contras, nicht verliebt, nicht verloren im augenverschleierndem Gleißen, das dieses Schuhwerk nun einmal war: Flip Flops und Sandalen?
Ich fühlte mich wie der mythische Paris, von Schönheit und Jugend strotzend, vor den Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite stehend, vor Sandale, Flip und Flop, einen vernichtenden Urteils-Apfel in der Hand.
Wie eine liebende Mutter von Zwillingen, gezwungen, das eine eine in glitzernde Paläste zu führen, das andere eine am gossigsten Straßenrand auszusetzen.
Wie ein …
Mir wurde schwindlig. Mein Atem versagte sich mir, Schleier zogen vor meine Augen. Mit letzter Geste, der Ohnmacht nahe, griff ich zur Klinke, öffnete die Tür, ließ frisches Außen in das verwirbelte Innen.
Ich atmete auf, löste meine Blicke, fort von Flip Flops, fort von Sandalen, fort von meiner unseligen Liste, drei Seiten, vier Zeilen – nach draußen:
Ein eisiger Windhauch wehte herein.
Es hatte geschneit.