Morning Pages

Gestern begann ich, sogenannte „Morning Pages“ anzufertigen. Ich hatte davon gehört, und obgleich ich keines kreativen Schubs bedurfte, erachtete ich den Grundgedanken für einen guten:

Wach auf und schreibe, was dir einfällt.

Da ich keinerlei Probleme damit habe, aus dem Stehgreif draufloszukritzeln, ja sogar Gefallen daran finde, begann ich – und stand alsbald vor dem ersten Problem: Wann soll ich aufhören?

Früher behauptete ich gerne, daß es mir leicht fiele, eine komplette A4-Seite mit der Erläuterung des Umstands, daß ich nicht weiß, worüber ich schreiben soll, zu befüllen. Demenstprechend sah ich nicht die übliche Sorge [„Worüber soll ich denn seitenlang schreiben?“] auf mich zurasen, sondern die Unsicherheit bezüglich des geeigneten Aufhörzeitpunktes. Gestern beschrieb ich zwei A4-Blätter, kariert, zweizeilig, beidseitig. Dann kaufte ich mir eine Art Notizbüchlein, A5, kariert, und beschrieb heute fast fünf Seiten, ebenfalls zweizeilig.

Eine Recherche ergab, daß man drei Seiten beschreiben möge. Möglichst handschriftlich. Aber nirgendwo steht, wie groß die Blätter sein sollen oder wie weit die Linien auseinander. Spielt wohl keine Rolle. Daher wird es wohl von geringer Tragik sein, daß ich – mit Unwissenheit behaftet – etwas mehr niederschrieb als erforderlich.

Morning Pages stellen eine Art Kreativitätstechnik dar, eine Fingerübung für das Schreiben an sich, aber auch eine Möglichkeit, Ideen zu finden, ohne sie wirklich zu suchen. Das Geschriebene soll möglichst aus dem Bauch heraus kommen – ein Grund, warum ich mich trotz hieroglyphenartigem Schriftbild für Notizblock und Kugelschreiber entschied.

Angeblich wird man zunächst damit beginnen, die eigene Müdigkeit oder das Hungergefühl zu bemängeln, das sich während des Schreibens bemerkbar macht, und dann erst allmählich zu Innerem finden, zu Worten, die man gehört und noch nicht verarbeitet hat, zu Gedanken, die längst auf der Lauer lagen oder neu durch den Schädel schwirren.

Ich übersprang den ersten Schritt. Über Müdigkeit schrieb ich nur auf der Metaebene, nämlich indem ich erwähnte, daß ich nicht beabsichtigte, über Müdigkeit zu schreiben. Und bereits heute, am zweiten Tag der Morning Pages [Ich muß mir dringend einen anderen Namen einfallen lassen, zum einen, weil ich die Deutsche Sprache favorisiere, und zum anderen, weil ich ständig geneigt bin, die Kakelei als „Mourning Pages“ zu bezeichnen…] wurde mir bewußt, daß dieses Geschreibe nichts wirklich Innovatives birgt. Ich schreibe Tagebuch, wie ich früher bereits Tagebuch schrieb [Ich war nie einer von jenen, die über das Wetter oder Tagesereignisse schrieben, sondern befaßte mich vorwiegend mit meinen eigenen Gedanken und Ansichten zu Erlebtem und Erdachtem…]. Mehr nicht.

Aus irgendeinem Grund hatte ich erwartet, es würde anders sein, ich würde zu anderen Ansichten gelangen, neue Einfälle würden mir durch das Hirn sprudeln und der Tag würde mit Lösungen beginnen, nicht mit Problemen. Doch ich schreibe über Sorgen, hinterfrage mich, suche Antworten – die ich jedoch wiederum nur mit Fragzeichen bestückt ausformulieren kann. Ich schreibe über das Tagebuch an sich, über meine Erwartungen und Erfahrungen.
Ich hatte von mir selbst mehr Tiefe erwartet, glaube ich.

Die Erwartungshaltung ist natürlich illusorisch. Von niemandem darf verlangt werden, noch vor dem Aufstehen die Probleme der Welt gelöst und sich zu kreativen Höheflügen aufgeschwungen zu haben. Hinzu kommt, daß ich erst zwei Tage lang schreibe, daß also die weitere Entwicklung dieses Journals [Ein besseres Wort!] überhaupt nicht absehbar ist.
Vielleicht werde ich über Träume schreiben, die mich über Nacht fanden, vielleicht kleine Geschichten, die mich amüsieren, vielleicht werde ich Anekdoten des gestrigen Tages erwähnen, vielleicht…

Insgeheim ersehne ich den Tag, an dem ich erst einmal den gesamten Seelenmüll heruntergeschrieben haben werde, an dem ich mich zu wiederholen beginne, wenn ich schon wieder denselben Gedanken nachjage. Denn dann bin ich bereit für den nächsten Schritt, hoffe ich – wie auch immer dieser Schritt aussehen wird.

Tatsächlich scheint der Inhalt des Geschriebenen aber keine große Bedeutung zu haben, und es wird geraten, daß Menschen, die ihre Niederschrift nicht von anderen gelesen wissen möchten, erst schreiben, dann zerreißen sollen. Mir jedoch ist der Inhalt wichtig; auch wenn ich nicht weiß, für wen ich schreibe, möchte ich doch nicht nutzlos vor mich hinschwafeln. Selbst wenn es niemandem anderen etwas bringen wird: Mir selbst mögen die Morning Pages nützen. Nicht nur, um meine Schreibfertigkeiten zu entwickeln, sondern auch, um mich der Inhalte zu erfreuen.

Das führt zur nächsten Frage: Für wen schreibe ich? Diese Frage ist nahezu unbeantwortbar. Im Augenblick störte ich mich nicht an fremden Blicken in meinem Geschriebsel. Doch es wird der Tag kommen, an dem das Niedergeschriebene anderen vorenthalten werden möge, weil selbiges doch eine Spur zu persönlich, zu leicht mißbrauchbar, ist. Vielleicht entschied ich mich auch deswegen für die handgeschriebene Variante – obwohl Getipptes [falls Brauchbares dabei herausspringt] natürlich leichter von mir selbst weiterzuverwerten wäre. Denn vor Handgeschriebenem schreckt die Neugierde anderer doch oft genug noch zurück, und auch meine Unschön-Schreibschrift hat abschreckenden Charakter.

Für wen schreibe ich also? Für ein zukünftiges Ich? Für das heutige Ich, das Freude am Schreiben findet, das es liebt, mit Worten zu spielen und die Gedanken durch Niederschrift zu ordnen? Für Nachfahren, die mit den Memoiren des semiberühmten Comiczeichners, viel Geld zu erwirtschaften gedenken? Für zukünftige Texte, die aus der Krakelei in die Morning Pages entstehen könnten? Ich weiß es nicht, doch gefällt mir diese Unwissenheit.

Denn jedes präzisere Ziel, jedes potentielle Publikum schränkt ein, läßt den Fluß stocken. Ich will nicht darüber nachdenken müssen, was ich schreibe, und ob das Geschriebene irgendwem zusagt. Das Morgendliche Journal soll frei sein von Zwängen – abgesehen natürlich von dem, aufzustehen und loszuschreiben. Selbst die Seitenanzahl soll keinen Zwang darstellen: Drei A5-Seiten sind schnell bekritzelt, alles Übrige ist optional. Und sollten keine erheiternden Geschichten, keine amüsanten Anekdoten, keine tiefsinnigen Gedanken, keine absurden Träume, keine Weltverbesserungsvorschläge und keine Selbstmotivationstexte die Seiten füllen, sondern nur ewig gleiches, uninteressantes, belangloses Geschwafel, so werde ich doch nicht aufhören, mich nicht zu einer Thematik zwingen.
Das „Aus-Dem-Bauch-Heraus“ hat oberste Priorität.

Und eines ist tatsächlich festzustellen. Das morgendliche Schreiben erfreut. Nicht nur, weil das schreibende Hinübergleiten ins Erwachen ein sehr angenehmes ist, nicht nur, weil die Niederschrift die Gedanken ordnet und das Gefühl vermittelt, den Tag mit einer gewissen Struktur, mit einer Sinnhaftigkeit, zu beginnen, sondern auch, weil ich nach mehreren Sätzen plötzlich den Drang verspüre, etwas zu schaffen, etwas zu leisten, den Tag zu nutzen. Gleichzeitig weiß ich nach befüllten dreiodermehr Seiten, daß ich schon etwas geschafft, erledigt habe, daß ich noch nicht einmal richtig erwachte und bereits etwas vollbrachte.

Allein dafür lohnt es sich, die Morning Pages, die sicherlich nichts Weltbewegendes, nichts Atemberaubend-Besonderes, nichts Innovatives, darstellen, weiterzuführen und mich jeden Morgen erneut mit meinem Schreiben zu erfreuen…

[Im Hintergrund: Meat Loaf – „Bat Out of Hell III – The Monster Is Loose“]

Ein Gedanke zu „Morning Pages“

  1. Das klingt nach einer schönen Sache und einem spannenden Experiment.

    Ich frage mich insbesondere, ob das Schreiben einen Einfluss auf die Dinge hat, die man am Morgen denkt. Ich habe mich dabei während der letzten Tage ein wenig beobachtet und festgestellt, dass ich nach dem Aufwachen oft Texte vorformuliere, die ich am Tag schreiben möchte (für meine Arbeit, E-Mails, Kommentare) und die auf die eine oder andere Weise an jemanden gerichtet sind.
    Würde ich diese Dinge dann einfach runterschreiben? Oder würde ich mir mehr Mühe geben, Dinge zu schreiben und zu denken, die davon unabhängig sind?

    Nun, für mich wird die Frage nicht beantwortet werden, weil ich meine Hände und Arme nach dem Aufwachen dafür brauche, meinen Schatz zu umarmen und das nur ungern für eine Tätigkeit opfern würde, die bereits im Mittelpunkt meines Alltags steht, aber ich bin sehr gespannt darauf, Deine Erfahrungen zu lesen.

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