Morning Pages II

Schon immer war ich der Ansicht, daß das Erwachen selbst in frühester Stunde eine angenehme Angelegenheit ist. Ich mag es nicht, dem Schlaf entrissen zu werden, mag es nicht, übermüdet das Haupt erheben zu müssen, mag es nicht, die wohlig weichen Federn zu verlassen, doch liebe es, einen neuen Tag zu beginnen, liebe es zu duschen, liebe es zu frühstücken, liebe es, mich umzudrehen und ein zerknittertes Dornröschen wachzuküssen. Und ich liebe es, mich direkt nach dem Aufstehen an den Schreibtisch zu setzen, mein Notizbuch aufzuschlagen und einfach draufloszuschreiben, irgendetwas, das mir gerade durch den Schädel surrt.

Zuweilen denke ich bereits im Erwachen darüber nach, was ich schreiben werde, formuliere ganze Sätze, die ich festzuhalten gedenke. Doch im nächsten Augenblick sind sie vergessen und müssen neuen Wortansammlungen Platz machen, die Zeile um Zeile mein Büchlein füllen.

Unlängst fiel es mir scher zu schreiben. Mit unguter Laune behaftet mußte ich Wort für Wort aus mir herausquälen, bis ich begann, eine längst begonnene Geschichte schemenhaft weiterzuführen. Plötzlich flogen die Sätze nur so an mir vorbei, und ich beschloß, in Bälde, bei entsprechender Laune einen Versuch zu wagen: Ich wollte, umrankt von morgendlicher Trägheit, eine kleine Geschichte schreiben.

Und das tat ich. An jenem Morgen, als plötzlich jeder verfügbare Kugelschreiber entschwunden war, schrieb ich die Geschichte von Olaf, dem schwarzen Kugelschreiber. Doch Zwänge setzte ich mir nicht. Es spielte keine Rolle, daß die Geschichte keine Welten bewegte, es spielte keine Rolle, daß ich am darauffolgenden Tag erneut Tagebuchähnliches verfaßte.

Und schon bald folgte eine Geschichte über Theodor, den einäugigen Kaiserpinguin. Und eine über James Dean, in Schwarz-Weiß. Dann wieder Tagebucheinträge.

Ich befürchte kein Stocken der Worte, fürchte mich nicht davor, nur Mittelmaß niederzuschreiben oder gar Sinnfreies. Denn tatsächlich freue ich mich, begeistere mich täglich neu:

Das Niedergeschriebene ist imstande, das Chaos in meinem Schädel zu sortieren. Bereits in frühesten Stunden habe ich darüber nachgedacht, wie denn der Tag verlaufen könnte – und festgestellt, daß das größte Schrecknis nur in meinem Kopf derart immens ist. Bereits in den frühesten Morgenstunden habe ich mich mit absurden Fantasieerlebnissen erheitert, den Tag mit einem Lächeln gestartet. Bereits in frühesten Morgenstunden habe ich etwas vollbracht, das mir Freude und Stolz bereitet.

Und hin und wieder schlüpfe ich noch einmal kurz unter die kuschlige Decke, wärme meinen erkalteten Leib und freue mich darüber, daß ein neuer Morgen begann.

Morning Pages

Gestern begann ich, sogenannte „Morning Pages“ anzufertigen. Ich hatte davon gehört, und obgleich ich keines kreativen Schubs bedurfte, erachtete ich den Grundgedanken für einen guten:

Wach auf und schreibe, was dir einfällt.

Da ich keinerlei Probleme damit habe, aus dem Stehgreif draufloszukritzeln, ja sogar Gefallen daran finde, begann ich – und stand alsbald vor dem ersten Problem: Wann soll ich aufhören?

Früher behauptete ich gerne, daß es mir leicht fiele, eine komplette A4-Seite mit der Erläuterung des Umstands, daß ich nicht weiß, worüber ich schreiben soll, zu befüllen. Demenstprechend sah ich nicht die übliche Sorge [„Worüber soll ich denn seitenlang schreiben?“] auf mich zurasen, sondern die Unsicherheit bezüglich des geeigneten Aufhörzeitpunktes. Gestern beschrieb ich zwei A4-Blätter, kariert, zweizeilig, beidseitig. Dann kaufte ich mir eine Art Notizbüchlein, A5, kariert, und beschrieb heute fast fünf Seiten, ebenfalls zweizeilig.

Eine Recherche ergab, daß man drei Seiten beschreiben möge. Möglichst handschriftlich. Aber nirgendwo steht, wie groß die Blätter sein sollen oder wie weit die Linien auseinander. Spielt wohl keine Rolle. Daher wird es wohl von geringer Tragik sein, daß ich – mit Unwissenheit behaftet – etwas mehr niederschrieb als erforderlich.

Morning Pages stellen eine Art Kreativitätstechnik dar, eine Fingerübung für das Schreiben an sich, aber auch eine Möglichkeit, Ideen zu finden, ohne sie wirklich zu suchen. Das Geschriebene soll möglichst aus dem Bauch heraus kommen – ein Grund, warum ich mich trotz hieroglyphenartigem Schriftbild für Notizblock und Kugelschreiber entschied.

Angeblich wird man zunächst damit beginnen, die eigene Müdigkeit oder das Hungergefühl zu bemängeln, das sich während des Schreibens bemerkbar macht, und dann erst allmählich zu Innerem finden, zu Worten, die man gehört und noch nicht verarbeitet hat, zu Gedanken, die längst auf der Lauer lagen oder neu durch den Schädel schwirren.

Ich übersprang den ersten Schritt. Über Müdigkeit schrieb ich nur auf der Metaebene, nämlich indem ich erwähnte, daß ich nicht beabsichtigte, über Müdigkeit zu schreiben. Und bereits heute, am zweiten Tag der Morning Pages [Ich muß mir dringend einen anderen Namen einfallen lassen, zum einen, weil ich die Deutsche Sprache favorisiere, und zum anderen, weil ich ständig geneigt bin, die Kakelei als „Mourning Pages“ zu bezeichnen…] wurde mir bewußt, daß dieses Geschreibe nichts wirklich Innovatives birgt. Ich schreibe Tagebuch, wie ich früher bereits Tagebuch schrieb [Ich war nie einer von jenen, die über das Wetter oder Tagesereignisse schrieben, sondern befaßte mich vorwiegend mit meinen eigenen Gedanken und Ansichten zu Erlebtem und Erdachtem…]. Mehr nicht.

Aus irgendeinem Grund hatte ich erwartet, es würde anders sein, ich würde zu anderen Ansichten gelangen, neue Einfälle würden mir durch das Hirn sprudeln und der Tag würde mit Lösungen beginnen, nicht mit Problemen. Doch ich schreibe über Sorgen, hinterfrage mich, suche Antworten – die ich jedoch wiederum nur mit Fragzeichen bestückt ausformulieren kann. Ich schreibe über das Tagebuch an sich, über meine Erwartungen und Erfahrungen.
Ich hatte von mir selbst mehr Tiefe erwartet, glaube ich.

Die Erwartungshaltung ist natürlich illusorisch. Von niemandem darf verlangt werden, noch vor dem Aufstehen die Probleme der Welt gelöst und sich zu kreativen Höheflügen aufgeschwungen zu haben. Hinzu kommt, daß ich erst zwei Tage lang schreibe, daß also die weitere Entwicklung dieses Journals [Ein besseres Wort!] überhaupt nicht absehbar ist.
Vielleicht werde ich über Träume schreiben, die mich über Nacht fanden, vielleicht kleine Geschichten, die mich amüsieren, vielleicht werde ich Anekdoten des gestrigen Tages erwähnen, vielleicht…

Insgeheim ersehne ich den Tag, an dem ich erst einmal den gesamten Seelenmüll heruntergeschrieben haben werde, an dem ich mich zu wiederholen beginne, wenn ich schon wieder denselben Gedanken nachjage. Denn dann bin ich bereit für den nächsten Schritt, hoffe ich – wie auch immer dieser Schritt aussehen wird.

Tatsächlich scheint der Inhalt des Geschriebenen aber keine große Bedeutung zu haben, und es wird geraten, daß Menschen, die ihre Niederschrift nicht von anderen gelesen wissen möchten, erst schreiben, dann zerreißen sollen. Mir jedoch ist der Inhalt wichtig; auch wenn ich nicht weiß, für wen ich schreibe, möchte ich doch nicht nutzlos vor mich hinschwafeln. Selbst wenn es niemandem anderen etwas bringen wird: Mir selbst mögen die Morning Pages nützen. Nicht nur, um meine Schreibfertigkeiten zu entwickeln, sondern auch, um mich der Inhalte zu erfreuen.

Das führt zur nächsten Frage: Für wen schreibe ich? Diese Frage ist nahezu unbeantwortbar. Im Augenblick störte ich mich nicht an fremden Blicken in meinem Geschriebsel. Doch es wird der Tag kommen, an dem das Niedergeschriebene anderen vorenthalten werden möge, weil selbiges doch eine Spur zu persönlich, zu leicht mißbrauchbar, ist. Vielleicht entschied ich mich auch deswegen für die handgeschriebene Variante – obwohl Getipptes [falls Brauchbares dabei herausspringt] natürlich leichter von mir selbst weiterzuverwerten wäre. Denn vor Handgeschriebenem schreckt die Neugierde anderer doch oft genug noch zurück, und auch meine Unschön-Schreibschrift hat abschreckenden Charakter.

Für wen schreibe ich also? Für ein zukünftiges Ich? Für das heutige Ich, das Freude am Schreiben findet, das es liebt, mit Worten zu spielen und die Gedanken durch Niederschrift zu ordnen? Für Nachfahren, die mit den Memoiren des semiberühmten Comiczeichners, viel Geld zu erwirtschaften gedenken? Für zukünftige Texte, die aus der Krakelei in die Morning Pages entstehen könnten? Ich weiß es nicht, doch gefällt mir diese Unwissenheit.

Denn jedes präzisere Ziel, jedes potentielle Publikum schränkt ein, läßt den Fluß stocken. Ich will nicht darüber nachdenken müssen, was ich schreibe, und ob das Geschriebene irgendwem zusagt. Das Morgendliche Journal soll frei sein von Zwängen – abgesehen natürlich von dem, aufzustehen und loszuschreiben. Selbst die Seitenanzahl soll keinen Zwang darstellen: Drei A5-Seiten sind schnell bekritzelt, alles Übrige ist optional. Und sollten keine erheiternden Geschichten, keine amüsanten Anekdoten, keine tiefsinnigen Gedanken, keine absurden Träume, keine Weltverbesserungsvorschläge und keine Selbstmotivationstexte die Seiten füllen, sondern nur ewig gleiches, uninteressantes, belangloses Geschwafel, so werde ich doch nicht aufhören, mich nicht zu einer Thematik zwingen.
Das „Aus-Dem-Bauch-Heraus“ hat oberste Priorität.

Und eines ist tatsächlich festzustellen. Das morgendliche Schreiben erfreut. Nicht nur, weil das schreibende Hinübergleiten ins Erwachen ein sehr angenehmes ist, nicht nur, weil die Niederschrift die Gedanken ordnet und das Gefühl vermittelt, den Tag mit einer gewissen Struktur, mit einer Sinnhaftigkeit, zu beginnen, sondern auch, weil ich nach mehreren Sätzen plötzlich den Drang verspüre, etwas zu schaffen, etwas zu leisten, den Tag zu nutzen. Gleichzeitig weiß ich nach befüllten dreiodermehr Seiten, daß ich schon etwas geschafft, erledigt habe, daß ich noch nicht einmal richtig erwachte und bereits etwas vollbrachte.

Allein dafür lohnt es sich, die Morning Pages, die sicherlich nichts Weltbewegendes, nichts Atemberaubend-Besonderes, nichts Innovatives, darstellen, weiterzuführen und mich jeden Morgen erneut mit meinem Schreiben zu erfreuen…

[Im Hintergrund: Meat Loaf – „Bat Out of Hell III – The Monster Is Loose“]

Auf der Seite der Guten

Eigentlich ist es einfach:
Ich bin eine große Firma, erfinde etwas Ungutes, das jeden ärgert, sich aber irgendwie dennoch durchsetzt. Wenn allmählich die kritischen Stimmen leiser werden und sich Gewöhnung breit macht, dann setze ich mich mit einer anderen Firma zusammen, die derzeit mit positivem Öffentlichkeitsbild behaftet ist, beschließe spontan, meine Ungut-Erfindung zu reduzieren – gegen Aufpreis natürlich. Ich werde kein Wort des Bedauerns äußern, sondern das zu bezahlende Weglassen des eigentlich Unnötigen als etwas völlig Neues präsentieren.
Und dann werde ich als Held, als Vorreiter einer neuen Ära, gefeiert, lobgepriesen und bewundert ob meines Freiheit vorantreibenden Schaffens. Plötzlich stehe ich nicht nur im öffentlichen, verkaufsfördernden Gesprächsmittelpunkt, sondern auch auf der Seite der Guten – und kann ruhigen Gewissens auf frisch gestopften Geldsäcken einschlafen…